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GASTFREUNDSCHAFT

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Chris strich langsam mit den Fingerspitzen über die rotbraune Wand des Schmuggelschachts. »Wie ist das wohl so rau geworden?«, fragte er. Die Segmente schienen fast Blasen geschlagen zu haben.

Valmas lag in seiner Koje und starrte schräg hinüber auf den Bildschirm, der mehr Licht spendete als die glimmenden Deckenlampen. »Immerhin haben sie die Wand hier erneuert. So ein Blubberbild wäre jetzt echt schlecht.« Er steckte sich das letzte Stück der Orange in den Mund. Die duftenden Schalen lagen neben ihm in der Nische am Kopfende.

»Aber was haben sie wohl transportiert, dass es so aussieht?«

Valmas lächelte, starrte aber immer noch auf den Schirm, auf dem eine Doku über die Besiedlung des Mars lief. »Hier wurden früher Flüchtlinge geschleust – während der Nano-Tech-Katastrophe.«

Chris nickte und stellte sich vor, wie auf diesem engen Gang, der ihn an einen der schmalen Züge auf Admeto erinnerte, Menschen dicht gedrängt einem der verseuchten Planeten zu entkommen versuchten.

Valmas schaute nickend zu ihm herüber. »Jeder andere hätte sich jetzt Sorgen gemacht.«

»Wegen des Nano-Tech-Fiaskos? Wäre dieses Schiff ernsthaft verseucht, wäre das ja wohl aufgefallen. Das ist schließlich über hundert Jahre her.«

»Und doch reicht das Wort Nano-Tech, und die Leute überkommt Angst und Ekel. Und dann waschen sie sich ihre Hände mit einer Seife, die es so ohne Nano-Tech nicht geben würde. Oder sie benutzen irgendeine Maschine und vergessen, dass die Tiefenenergie ohne die N-Tech-Ebene gar nicht denkbar wäre.«

»Die Ascheplaneten können einem Angst machen. Da kann man das schon mal vergessen.« Es hatte damals nur jene Planeten getroffen, die entweder in der Forschung zu große Wagnisse eingegangen waren oder einen Angriff mit Nanotech-Waffen erlitten hatten. Die Angst war so groß, dass die Konzerne die Nano-Tech-Ebene, die eine der Brücken zur Tiefenenergie war, kaum mehr erwähnten.

»Es gab auch Fälle von Verseuchungen, bei denen Überlebende die Nano-Maschinen eingeschleppt haben«, sagte Valmas.

»Ich dachte, das wäre ein Mythos.«

»Nein, nein. Man redet nur ungern darüber. Die Uranosier haben Zivilschiffe mit Flüchtlingen abgeschossen, auf denen der Verfall schon eingesetzt hatte. Natürlich wurde das vertuscht.«

»Und woher weißt du das?«

»Von meinem Großvater.«

»Gerl hat ihn erwähnt. Warum sollte er dich schützen können?«

»Weil er auf dem Mars ein bisschen Einfluss hat. Hast du je von Ivar Zakaris gehört?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Na ja, im Pheres-System ist er wohl nicht bekannt, aber auf dem Mars kennt ihn fast jeder. Er ist ein Bastler und Programmierer.«

Chris staunte. »Dann dürfte er jetzt ein reicher Mann sein.«

»Das wäre er wohl, wenn ihm Geld und Macht etwas bedeuten würden. Männern wie ihm haben wir es zu verdanken, dass wir heute nicht im Chaos leben.«

Chris stutzte. Er verstand nicht, was Valmas meinte. Als die Künstlichen Intelligenzen nach der Katastrophe auf Echidna-3 beschlossen hatten fortzugehen, hatten sie die automatisierten Fabriken zurückgelassen. Diese produzierten weiterhin Module aller Art. Gewiss, wer über Programmierer und Bastler verfügte, konnte mehr aus der Technik herauskitzeln. Aber Chaos – das hätte gewiss nicht auf sie gewartet.

»Was haben denn Leute wie er getan, um das Chaos abzuwenden?«, fragte er.

»Er ist so alt, dass er die KIs noch erlebt hat.« Valmas lachte. »Steinalt, aber gesund. Den Konzernen sei Dank. Jedenfalls gehörte er zu jenen, die die KIs um all die Dinge gebeten haben, von denen wir heute profitieren. Stell dir vor, du lebst in einem Paradies, in dem alles für dich erledigt wird und du weder etwas tun noch etwas lernen musst. Warum hätten die KIs in einer solchen Welt Raumschiffe bauen sollen, die von Menschen gesteuert werden?«

Chris nickte. »Weil manche Menschen die Dinge in die eigene Hand nehmen wollen.«

Valmas drehte sich in der Koje und setzte die nackten Füße auf den Boden. »Genau! Jene, die die Dinge in die eigene Hand nehmen wollten. Die wollten wie wir selbst ein Schiff fliegen, selbst eine Fabrik steuern, selbst sogar die einfachsten Werkzeuge in Händen halten. Das sind die Helden unseres Zeitalters. Die Generation meiner Eltern hat damals über sie gelacht, und als die Große Party der Singularität vorbei war, haben sie sie dafür gehasst, dass der Weg der Eigenverantwortung der richtige war, und ihr eigener Weg der Dekadenz zerfiel – na ja, er zerfiel nicht ganz. Sie hielten sich, so gut sie konnten, daran fest. Für viele ging die Party einfach weiter. Und so verachteten sie die Retter. Ist dir das nie aufgefallen?«

»In der Familie meiner Ziehmutter sind die Kinder immer recht früh gekommen. Das sind zu viele Generationen. Elsara sagte mal, ihre Ururgroßeltern hätten die KIs noch erlebt. Das ist so weit weg, dass da irgendwelche Generationenkonflikte keine Rolle mehr spielen. Sie hat ihre Urgroßeitern nie kennengelernt, aber ich glaube, ich kenne diese Haltung – diese Verachtung. Das ist im Grunde eine Art Neid auf Kompetenz.«

»Genau das. Stell dir vor, du wirst aus dem Paradies vertrieben und findest dich in einer Welt wieder, in der die alten Spinner die Monopole und Kartelle beherrschen und die Regeln ändern. Und die eigenen Kinder verehren plötzlich nicht ihre Eltern, sondern ihre Großeltern. Das muss sie in den Wahnsinn getrieben haben.«

»Vielleicht deshalb, weil sie genau wussten, dass ihre Passivität an allem schuld war. Haben deine Eltern es deinen Großvater spüren lassen?«

Valmas blickte nickend ins Leere. »Ich erinnere mich noch, wie ich mich zu ihm in die Werkstatt schlich, weil es mir auf der Feier meiner Eltern zu langweilig wurde. Er hat mir gezeigt, wie ich eine eigene Drohne bauen kann. Keine mit KI, sondern eine einfach programmierbare. Und weißt du, was meine Mutter gemacht hat? Sie ist reingekommen, hat meinen Opa zur Sau gemacht – ihn senil genannt. Und dann hat sie mich wieder mit zurück zu der Party genommen. Dabei war mein Opa der einzige Erwachsene auf dem Schiff, der wirklich bei Verstand war.«

»Und ist er jetzt ein hohes Tier in einem Konzern?«

»Nicht direkt. Er hat jetzt seine eigene Werkstatt auf dem Mars und ist einer der wenigen, der mehr kann, als Module zusammenzustecken und zu konfigurieren. Er baut sie um und programmiert sie. Er könnte einer der ganz Großen sein – an der Spitze eines Kartells. Er hatte in den Jahren des Niedergangs ein medizinisches Modul gekauft. Es war Schrott, doch er hat es repariert und der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Hunderttausende verdanken ihm ihr Leben. Er hätte davon richtig profitieren können. Aber er wollte nicht.«

»Haben die Firmen nicht versucht ihn anzustellen?«, fragte Chris. »Man kann Menschen auch mit anderem locken als mit Geld.«

Valmas nickte. »Sie haben es versucht. Und er hat abgelehnt. Als er aber beinahe entführt wurde, machte die Monolith Construction Company ein Angebot. Und so verschwand er mehr oder weniger vom Markt. Er lebt immer noch auf dem Mars, hat seine Werkstatt, nimmt Aufträge an, und die MCC lässt ihn gewähren.« Valmas lachte leise. »Er sagte mir mal: Du bist immer von irgendwem abhängig. Wichtig ist, dass du ihnen nur so viel wie unbedingt nötig gibst – nur so viel, dass sie bei Laune bleiben. Im Grunde hat er mir alles beigebracht, was ich auf dem Titan brauche. Und deswegen weiß ich, dass ich irgendwann den Schutz der Gilden benötige. Aber ich werde mich dem so lange wie möglich entziehen. Und dank dem Rat meines Großvaters ist es mir bisher immer gelungen.«

»Klingt wie ein Mann, der genau weiß, was er will. Ich würde ihn gerne kennenlernen.«

»Das wirst du. Und du wirst ihm gefallen, da bin ich mir sicher.« Valmas schüttelte den Kopf. »Ich habe so viel von ihm gelernt. Und nicht nur ich. Bei der MCC unterrichtet er auch. Und jeder seiner Schüler ist heute entweder ein hohes Tier bei einem Konzern oder ein Staringenieur oder Spitzenprogrammierer. Meine Eltern haben ihm Vorwürfe gemacht. Sie sagten, er solle an die Menschheit denken und sich nicht von MCC abhängig machen. Oder er solle innerhalb von MCC mehr Verantwortung übernehmen. Aber natürlich meinten sie nicht, dass er an die Menschheit denken sollte. Ihnen ging es ums Geld. Er hat sie dann vom Sicherheitsdienst aus MCC City rauswerfen lassen.«

»Und du? Wie stehst du zu ihnen?«

»Kein Kontakt mehr. Als sie ihren verschwenderischen Lebensstandard nicht mehr halten konnten, sind sie auf die Erde gegangen und haben sich irgendeinem Kult angeschlossen. Die Party muss weitergehen. Gib ihnen irgendetwas, das sie von der Verantwortung trennt, und sie werden dem folgen.«

»Und hat dein Großvater gesehen, was du dir mit der AMBERSON aufgebaut hast?«

»Machst du Witze? Das meiste ist von ihm. Und wenn es nicht von ihm ist, dann ist es zumindest von ihm inspiriert. Erinnerst du dich an die Schrift auf der AMBERSON?.«

»Die grüne?« Er erinnerte sich an den Text auf den Schirmen, dessen Buchstaben auf ihn segmentiert und pixelig gewirkt hatten.

»So ähnlich sah die Schrift auf den ersten Bildschirmen aus, die die Leute bei sich daheim hatten. Für mich ist der Blick darauf wie eine Heimkehr. Mein Opa liebte das. Er erzählte mir als Kind von Woz, Jobs und Gates.«

Chris nickte. Das waren Namen wie aus der Mythologie oder einem Heldenepos. Nur dass es echtes Bildmaterial von jenen Größen der Computerisierung gab. Chris waren jedoch nur Rivalitäten in Erinnerung geblieben. Und er hatte immer wieder die Erfahrung gemacht, dass kaum jemand diese Geschichten kannte. Wenn er die drei Männer ins Gespräch brachte, schaute er oft in ratlose Mienen. Manche hatten sogar behauptet, es hätte die drei nie gegeben und es sei alles nur von den KIs erfunden, um der Zeit vor der Singularität eine Struktur zu geben.

»Wusstest du, dass am Anfang ein einziger Mensch einen Computer verstehen konnte – ihn bauen konnte?«, fragte Valmas mit glänzenden Augen. »Die Kisten waren so einfach, dass du jeden Aspekt begreifen konntest. Meine Eltern haben nie kapiert, was mich daran faszinierte. Ich meine – sie sahen, dass wir nicht einmal einen Hauch der Technik verstanden, auf der alles beruhte, und wunderten sich wirklich, dass ich eine Zeit als Heldenzeitalter betrachtete, da Menschen die Zügel noch in Händen hielten?«

»Aber so toll waren die Maschinen nicht, oder?«

»Natürlich nicht. Aber am Anfang war es noch Wissenschaft und Bastelei, und jetzt ist es wie Magie. Gib mir ein Modul und sag mir, was es macht und wie man es bedient. Und vielleicht sagst du mir noch, wie ich es zusammenstecke und welche Untermodule es gibt, die ich dann austauschen kann. Aber wie es wirklich funktioniert – wer weiß das schon? Die KIs haben so viele Ebenen eingeflochten, dass kein Mensch das durchschauen kann. Selbst die Besten wissen es nicht genau. Wir sind wie Kinder, die eine Kiste voller Zauberstäbe gefunden haben.«

Chris lächelte. »Elsara nannte es einmal das Zeitalter der paradiesischen Postapokalypse.«

»Das wäre es«, sagte Valmas. »Wenn uns andere nicht immer den Tag versauen würden«, setzte er grinsend nach.

Gerl saß in seinem Wohnmodul, direkt bei den Containerhallen, und prüfte auf dem Schirm seinen Kontostand. Er hatte das Spiel gespielt und Valmas auf einen Weg geschickt, der ihn in Captain Oredsons Hände brachte. Und niemand hier würde etwas merken. Man würde sagen, er habe Valmas zur Flucht verholfen. Und wenn er dann nach einem Jahr nicht auftauchte, würde die AMBERSON gemäß dem rasch zusammengezimmerten Vertrag ihm gehören.

Gerl schaute durch das kleine Fenster auf den Gang hinaus, auf dem Roboterfahrzeuge leuchtenden Bodensignalen zu ihrem jeweiligen Ziel folgten. Menschen sah er nicht. Deswegen mochte er diese abgelegene Bleibe. Hierhin zog er sich zurück, wenn er allein sein wollte oder wieder einmal Schulden hatte – oder ein schlechtes Gewissen.

Er hatte den Mann verraten, der immer zu ihm gestanden hatte und auf den er sich immer hatte verlassen können. Aber der alte Gildenspruch stimmte: Es kommt der Tag, da du selbst deine Freunde verraten musst. Er fragte sich, warum er es nicht schon früher getan hatte. Denn jetzt war er auf einen Schlag schuldenfrei. Dass er ein Jahr warten musste, bis die AMBERSON offiziell ihm gehörte, gefiel ihm zwar nicht, aber so würde auch niemand Verdacht schöpfen. Der Vertrag war eindeutig.

Er würde das Jahr über der geduldigste Mensch sein. Und dann würde er die AMBERSON zu seinem Hauptschiff machen. Der Neid, der all die Jahre an ihm genagt hatte, war nun verflogen. Und der Mann, den er beneidet hatte, würde nie wieder zurückkehren. Das hatte ihm Rayol Oredson versichert.

Gerl hob das Glas, sagte: »Auf die Freundschaft!«, und trank den Whiskey in einem Zug. Er schmeckte ekelhaft.

Chris konnte nicht genug von der Berichterstattung über die Zustände auf und um Admeto bekommen. Es gab kein Bildmaterial, weil die Uranosier alles unterdrückten, doch einige Audioaufnahmen der Korrespondenten fanden ihren Weg über das Portalnetzwerk, über das Nachrichten von Tor zu Tor geschickt wurden. Dann aber sperrten die Pheresen das Tor von Admeto für die Kommunikation, wodurch die Uranosier im Nachteil waren.

Die wenigen Informationen, die durchgekommen waren, enttäuschten Chris, denn sie bestanden nur aus dem, was er und Valmas längst wussten. Doch Chris hoffte immer wieder, irgendetwas Neues zu erfahren, und so blieb er dran.

Die uranosischen Politiker und Militärs, die bei jeder Konfrontation darauf verwiesen, dass die Lage zu diesem Zeitpunkt schwer einzuschätzen sei, widerten Chris an. »Wie können sie sich da hinstellen und die besorgten Mütter und Väter spielen?«

»Das sagst du jetzt schon zum dritten Mal«, erwiderte Valmas.

»Ich komme einfach nicht darüber hinweg.«

»Aber dir ist klar, dass es noch schlimmer werden wird. Die uranosische Propaganda wird aus einem unprovozierten Angriff einen Schlag gegen feige Verräter machen.«

Ein leichtes Beben, dann ein Ruck, der sie durchrüttelte, brachte Valmas zum Kopfschütteln. »Diese Grünschnäbel werden noch ihre Fracht beschädigen.«

»Was führen sie denn?«, fragte Chris. Hier unten war alles leer. Geschmuggelt wurde offenbar noch nicht.

»Ich glaube, Ytterbium und Neodym für den Mars. Halb offiziell. Ich vermute, auf dem Rückweg wird dieser Schacht hier voller Schmuggelware sein.«

Eine weitere Erschütterung, diesmal heftiger, ließ Valmas stutzen. Chris schaute sich um und wartete auf das nächste Beben. Als es kam, sprang Valmas auf. »Wir werden angegriffen.«

Über den Patch-Computer, den er nun auf dem Handgelenk trug, versuchte Valmas Kontakt zum Kapitän aufzunehmen, doch es kam keine Verbindung zustande. »Versuch du mal!«

Doch auch bei Chris tat sich nichts. Sie schienen jeden Kontakt zu unterbinden. Valmas wies auf den Schirm an der Wand, fuhr seinen eigenen Schirm aus dem Patch und steuerte darüber die Menüs auf dem großen Monitor. Es gab tatsächlich Statusanzeigen des Schiffs. »Die Schilde sind am Heck auf Maximum. Der Generator ist schon recht heiß. Wir werden beschossen. Kein Zweifel.«

»Ein bisschen früh für die Marsbehörden«, sagte Chris.

Valmas nickte. »Wir müssten noch im Hyperraum sein. Und im Hyperraum würde kaum jemand ein anderes Schiff angreifen. Entweder sind es Piraten oder dieser uranosische Captain.«

»Piraten?«

»Warum nicht?«

»Piraten, die Piraten ausrauben?«

»Häufiger noch, als unbescholtenen Unternehmern die Fracht abzujagen, jagen wir sie unseren Konkurrenten ab.«

Chris schüttelte den Kopf. Der Ehrenkodex der Piraten war offensichtlich nur ein Mythos aus den Filmen seiner Kindheit.

Valmas fuhr sich durch den Bart. »Wenn dieser Kerl – wie hieß er? – Oredson. Rayol Oredson. Wenn der zu Colonel Solsees Leuten gehört, wird er an uns hängen wie eine Vampirfledermaus.«

»Was sie nur wollen?«, fragte sich Chris ein weiteres Mal. Und wie zuvor hatte er keine befriedigende Antwort darauf.

»Ich schau mal, ob ich aus dem Ding noch was rauskitzeln kann«, sagte Valmas und zeigte auf den Schirm an der Wand. »Aber mach dir keine Sorgen. Gerl ist ein alter Schmuggler. Der ist auf so was vorbereitet.«

»Und er hat Schulden. So gut scheint das Geschäft nicht zu laufen.«

»Das hat andere Gründe. Mach dir keine Sorgen. Gerl ist mit allen Wassern gewaschen. Selbst wenn sie den Laden hier durchsuchen, werden sie uns nicht finden.«

Sören Fielding schüttelte den Kopf über den uranosischen Kreuzer, der mitten im Nichts das Feuer auf sie eröffnet hatte. Und das, ohne irgendeine Forderung zu stellen. Erst jetzt meldete sich der uranosische Kapitän und wollte sie zum Aufgeben bewegen. »Wir wissen, dass ihr Passagiere befördert«, sagte er mit gelangweilter Stimme.

»Wie heißt dieses beschissene Schiff?«, fragte Fielding in die Runde. Dora schüttelte ihr Lockenhaar und zuckte mit den Schultern. Yun aber wandte den Blick nicht von seinem Schirm an der Seite des Kontrollraums ab und sagte: »Die MYKENAI

»Nie gehört«, entgegnete Fielding. Er schüttelte den Kopf und schaute auf den Seitenschirm, wo der verwinkelte Kreuzer dahinschwebte.

»Liefert die Passagiere aus, und wir lassen euch in Ruhe«, erklärte der fremde Kapitän. »Ansonsten ...«

»Sonst schießen sie uns in Stücke«, sagte Fielding und schaute Dora an, in deren blassem Gesicht die Angst stand. »Niemand hat von uns verlangt, dass wir den Hals hinhalten. Wir sollten sie nur mitnehmen.«

Dora nickte.

Fielding zuckte mit den Schultern. »Wir liefern sie aus«, sagte er und wischte über den Button vor ihm. »MYKENAI! Wir ergeben uns. Kommt an Bord und holt sie euch. Aber Finger weg von unserer Fracht. Ihr wollt euch doch nicht die Piraten vom Titan zu Feinden machen.«

Der uranosische Kapitän lachte. »Diese Piraten! Unglaublich seid ihr. Seht einfach zu, dass ihr uns keinen Ärger macht, dann lassen wir eure Fracht in Ruhe – und euch am Leben.«

Rayol ging endlich an Bord. Die Crew des Frachters hatte die Gesuchten in dem geheimen Bereich eingesperrt. Angeblich wussten sie nicht, was los war, weil die Kommunikation zwischen dem offenen Bereich und dem Schmuggelbereich begrenzt war.

Schließlich standen sie an dem Zugang zum Schmuggelbereich, und das Einzige, was auf eine Tür hindeuten mochte, waren die schmalen Segmente, in die der Gang geteilt war. Sie liefen von der Decke bis zum Boden. Mit seiner Patch-Card öffnete Sören Fielding, der leicht untersetzte Kapitän des Frachters, die Tür. Diese bewegte sich nach innen und schob sich zur Seite.

Ein riesiger Kerl schoss heraus. Dunkle Haut, dunkler Bart, dunkle Augen – und ein Faustschlag wie ein Boxer. Gleich zwei Wachen schlug er nieder, aber noch ehe er die Hand gegen Rayol heben konnte, überzeugten die Läufe der Sturmgewehre den Fremden, seine Attacke abzubrechen. Mit entsetzter Miene schaute er in die Runde.

»Du bist also Valmas Zakaris!«, sagte Rayol genüsslich.

»Ja, ganz recht. Der bin ich. Und du? Bist du Rayol Oredson? Der Mann, der wie ein blindes Huhn in Angram herumgelaufen ist?«

»Nicht ganz blind«, sagte er, schaute an Zakaris vorbei und erblickte den Jüngling, um den sich alles drehte. Er war um die zwanzig Jahre alt und hatte schulterlanges gewelltes Haar, das viel von seinem Gesicht verdeckte. »Und der da hinten ist Chris Mesaidon«, sagte Rayol. »Endlich!«

Der junge Mann trat neben Valmas hervor und machte einen eher zornigen als einen verzweifelten Eindruck. Doch in seinen braunen Augen loderte die Angst. »Was wollt ihr von mir?«, fragte er.

»Ich will gar nichts von dir. Mein Colonel will dich unbedingt in die Finger kriegen.«

»Und dafür habt ihr ganz Ianthe-3 in Stücke geschossen?«

»Ein Versehen«, erklärte Rayol und räusperte sich. »Aber zum Glück hast du ja überlebt. Du ahnst nicht, wie sehr ich mich freue, dich in die Finger gekriegt zu haben. Das wird meinen Fehler vor Admeto wieder ausgleichen.«

»Fehler?«, fragte Chris Mesaidon. »Du? Du bist dafür verantwortlich?«

Rayol grinste nur.

Mesaidon stürzte mit hassverzerrter Miene vor und wollte ihm an die Kehle, doch Rayols Wachen fingen den Jüngling ab, stießen ihn zu Boden und versetzten ihm ein paar Tritte. Erst als Valmas Zakaris sich schützend über Mesaidon warf, rief Rayol: »Schluss!« Seine Männer ließen von den beiden ab, und mit hassverzerrtem Gesicht drehte sich Mesaidon auf den Rücken. Tränen liefen über seine Wangen.

»Bringt sie aufs Schiff.« Rayol konnte seine Belustigung nicht verbergen. Er hatte wieder einmal Glück im Unglück gehabt. Mit Mesaidon hielt er doch noch einen Chip für das Große Spiel in Händen.

Er war als Eroberer nach Ianthe-3 gekommen, war dort zum Zerstörer geworden und hatte es als Versager verlassen. Und als Versager hatte er die Spur aufgenommen, als Jäger war er auf dem Titan gewesen und als Held würde er seinen weiteren Weg beschreiten.

Chris schwieg den ganzen Shuttleflug hinüber auf die MYKENAL Anfangs suchte er noch den Blickkontakt zu Oredson, doch dann war es Valmas, dem sein Interesse galt. Der Pirat starrte vor sich hin, als hätte er jeden Willen verloren. Chris hätte erwartet, dass er sich umschaute, um nach einem noch so kleinen Ausweg zu suchen, doch er saß nur da und spielte mit seinen Handschellen.

Als sie auf der MYKENAI in einen grauen, nichtssagenden Gang traten, fragte Chris: »Was will Colonel Solsee von mir?«

»Das musst du ihn selbst fragen«, erwiderte Oredson. »Ich bin mir sicher, dass du alle Antworten bekommen wirst. Du musst nur geduldig sein. Das ist eigentlich die wichtigste Eigenschaft, die du nun zeigen solltest.« Damit gab er seinen Wachen einen Wink, und sie führten sie ab.

Chris schaute geradeaus. Und nach jeder Ecke, um die sie bogen, wirkte der Gang gröber und weniger gepflegt. Schließlich kamen sie in einen Lagerbereich mit Wänden, von denen die graue Oberfläche abblätterte und die schwarzen Flächen der Wandmodule sichtbar wurden.

Die Wachen sprachen kein Wort. Wie Roboter führten sie ihre Befehle aus. Als Chris an einem Gang zur Seite schaute und durch eine leere Halle starrte, schoss ihm ein Schmerz in die Hände. Als würde ihm jemand die Pulsadern aufschneiden und dann die Haut bis zum Ellbogen aufritzen, so sehr schmerzte es. Die Qualen zwangen ihn in die Knie.

»Auf die Beine!«, befahl eine der Wachen, und »Weiter!« eine andere.

Valmas half ihm auf, und während sie weitergingen, sagte er: »Es ist jetzt nicht die Zeit, Mist zu bauen.«

»Hast du noch Hoffnung?«, flüsterte Chris.

Valmas lächelte gequält.

Rayol kehrte gerne am Portal NGL-768, das die meisten Empty Corner nannten, in den Normalraum zurück. Er flog an Schiffen vorbei, die darauf warteten, das Tor von der anderen Seite zu durchfliegen. Herzukommen war leicht; das Fortfliegen jedoch brauchte Geduld – es sei denn, man hatte Privilegien. Und hier, zwischen den Gasriesen und den äußeren Planeten des Uranos-Systems, hatte das Militär immer Vorrang.

Hier, wo sich nun die verschiedensten Schiffe sammelten, hatte sich einst die Raumstation Aliscans befunden. Doch seit sie im Krieg gegen die Tartarosier zerstört worden war, gab es nichts mehr, was hier in der Leere von Interesse gewesen wäre. Es gab allerdings viele Portale, die sich in günstigen Bereichen bewegten, um von dort aus weitere Sprünge durch den Hyperraum zu machen. Gerade bei intergalaktischen Verbindungen war der kürzeste Weg durch den Hyperraum oft ein Umweg im Normalraum.

Empty Corner war alles, nur nicht leer. Wie Bienen flogen kleine Schiffe oder mobile Module zwischen den großen Kreuzern hin und her. Während die Pläne für eine neue Raumstation irgendwo in der Bürokratie auf Kronos-4 feststeckten, war dieser Ort zu einem freien Handelsposten geworden. Zwar flogen hier uranosische Zerstörer ein und aus, doch das Militär duldete all die anderen Schiffe, die hierherkamen, um Handel zu treiben und auf Einfuhrgenehmigungen zu warten. Natürlich nutzten sie es auch für zwielichtige Geschäfte. Und mancher Waffendeal wurde hier im Geheimen über die Bühne gebracht.

Rayol hatte diesen Ort noch nie leer vorgefunden, und auch dieses Mal breitete sich eine Flotte unterschiedlichster Schiffe vor ihm aus. Von winzigen Frachtern bis zu den gewaltigen Passagierschiffen, von denen manche mehr oder weniger zur Ersatzstation geworden waren. Die SANKOUYAN war jedenfalls immer hier anzutreffen, seit sie einen Getriebeschaden gehabt hatte. Offiziell hieß es, man warte auf das passende Modul und sitze hier fest. Aber es hieß ebenso, dass das Schiff als Hotel, Unterhaltungstempel und Treffpunkt mehr Geld erwirtschaftete, als es anderswo hätte einnehmen können.

Inzwischen zog das leuchtende Schiff des Nachtglanz-Kartells – die NEMILIS – die Blicke auf sich und war der SANKOUYAN zur Konkurrenz geworden. Es war ein gewaltiges Schiff, das in voller Pracht nicht durch das Portal passte. Es musste, um hindurchzupassen, Dutzende Module abstoßen und von Nebenschiffen aufnehmen lassen. Und selbst ohne die Module passte das Hauptschiff nur gerade so durch das Portal. Wenn das Nachtglanz-Kartell ein solches Schiff schickte, wusste jeder, dass der Ort, an den es kam, Bedeutung erlangt hatte.

Das Nachtglanz-Kartell hatte das Sprungtor mit seinem Netzwerk von Mikroportalen verknüpft, die nur Kommunikationszwecken dienten und so geschickt auf den Ebenen des Hyperraums platziert waren, dass sie Nachrichten in Echtzeit zwischen den angeschlossenen Portalen verschicken konnten. Hier am Empty Corner funktionierte das bereits. Es war eine jener Technologien, die die KIs entwickelt hatten, deren Handhabung aber erst einmal ein Rätsel gewesen war.

Von hier aus konnte man nun ohne Verzögerung mit Kronos-4 kommunizieren. Sonst war dies nur möglich, wenn der Weg durch den Hyperraum nicht zu lang war und das Sprungtor in der Nähe des Zielortes lag.

Deswegen hatte Colonel Solsee dieses Portal als Treffpunkt für die Suchmannschaften vereinbart. Hier liefen alle Informationen schnell zusammen, von hier aus konnte man sie rasch verbreiten. Und hier sollte Rayol auf den Colonel warten. Er werde die ASCALUN – Solsees Hauptschiff und zugleich sein Heim – herschicken, hatte er gesagt.

»Da ist sie, die ASCALUN«, sagte Lieutenant Werro.

»Sie hält die übliche Distanz ein«, fügte Rayol hinzu. Üblich war, dass sie sich ein deutliches Stück abseits der zivilen Schiffe sammelten. So ließen sie das Leuchten der anderen Schiffe hinter sich, stürzten sich in die Dunkelheit, wo in der Ferne die ASCALUN strahlte. Sie war nicht als Kampfschiff zu erkennen, sondern wirkte mit den weißen Flächen und den vielen Strahlern zwischen den Segmenten wie ein reines Wohnschiff. Doch Rayol hatte die verborgenen Lasergeschütze und Raketen gesehen. Und der Schild dieses großen Schiffes stand dem eines Zerstörers in kaum etwas nach.

Ein halbes Dutzend Kreuzer umschwebten die ASCALUN wie Leuchtkäfer.

»MYKENAI!«, sagte eine Stimme in feierlichem Tonfall. Offensichtlich ein Zivilist. »Schön, Sie zu sehen. Wir haben später mit Ihnen gerechnet.«

Rayol grinste, und als Carl Werro ihm zunickte, antwortete er: »Wir wären noch da draußen auf der Suche – wenn wir nicht etwas zu bieten hätten.«

»Sie haben den Gesuchten doch nicht etwa gefunden?«

Rayol konnte nicht sagen, wie viel die Zivilisten auf der ASCALUN wussten und wie im Augenblick der Geheimhaltungsstatus war. »Wir haben zwei Gefangene und würden sie dem Colonel gerne vorführen.«

»Der Colonel ist noch nicht da.«

In der Tat war der Rücken der ASCALUN, wo sonst die CLINSCHOR und auch andere Schiffe andockten, völlig kahl. »Habt ihr denn meine Nachricht weitergeleitet?«, fragte Rayol. Er hatte sie abgeschickt, als sie über das Portal des Mars das Sol-System verlassen hatten. Am liebsten hätte er sie unterwegs aus dem Hyperraum zum Portal zur Weiterleitung geschickt, doch im Sol-System waren die Informationsspuren zwischen den Toren für sie gesperrt. Erst am Portal war es möglich gewesen, die Nachricht abzusetzen. Er hatte sie an die ASCALUN geschickt. Das machte er fast immer, denn jeder durfte wissen, wo sich die ASCALUN befand, aber wo sich Solsee mit seinem Kreuzer herumtrieb, war in der Regel geheim. Und man konnte mit einem gewissen Aufwand Nachrichten zum Ziel verfolgen.

»Sie hat uns vor einer Stunde erreicht«, antwortete der Mann.

»Verdammt!«, erwiderte Rayol. Manchmal verschwanden Nachrichten für Tage im Netz zwischen den Portalen. »Gibt es irgendwo eine Krise, dass es sich so verzögert hat?« Bevor der Mann antworten konnte, fragte Rayol: »Doch nicht etwa wegen des Angriffs auf Ianthe-3?«

»Das schlägt zwar hohe Wellen, und es wird zweifellos Krieg geben, aber Ihre Nachricht kam vom Mars-Portal. Da haben die Erdlinge trotz allem das Sagen. Sie sorgen dafür, dass fremde Militärschiffe die niedrigste Priorität bekommen.«

»Sind wir plötzlich mit denen im Krieg?«

»Nein, aber Sie wissen ja, wie die sind.«

Rayol wusste es. Und natürlich war es ihr gutes Recht, von den Privilegien, die ihnen die Portalbetreiber gewährten, Gebrauch zu machen. Die Tore gehörten zwar nicht den Regierungen und sie durften darüber keine Botschaften abfangen, doch die Konzerne erlaubten ihnen ganz allgemein, die Prioritäten der Botschaften festzulegen, sodass ihre eigenen schneller übermittelt wurden als die von Fremden. Das war Alltag, auch in der Uranosischen Republik, aber hier setzte man die Prioritäten nicht so niedrig, dass sich die Nachrichten, die sich zwischen den Toren in Lichtgeschwindigkeit bewegten, Stunden brauchten. Das war die unnötige Schikane eines Sternsystems, das sich von allen Seiten bedroht sah – vielleicht sogar zu Recht. Hätte er die Nachricht von der CARDUGAR aus geschickt, wäre sie im selben Moment am Ziel angekommen. Er hatte keinen Zweifel daran, dass das Piratenschiff für die Portale als Zivilschiff galt.

»Manchmal wünschte ich mir, alle Sprungtore wären an das Mikroportal-Netz angeschlossen«, sagte Rayol. Es würde wahrscheinlich noch einige Jahre dauern, bis sie überall ohne Verzögerung kommunizieren konnten und das Festlegen von Prioritäten überflüssig wurde.

»Hat sich der Colonel eigentlich gemeldet?«, fragte er dann und überlegte, ob die Pheresen vielleicht ebenfalls die Prioritäten der uranosischen Schiffe heruntergesetzt hatten, um die Kommunikation zu behindern. Es dauerte oft eine Weile, bis man bei den Portalbetreibern durchgesetzt hatte, dass man ein Gebiet erobert hatte und darüber wachte, wer das Tor nutzte.

»Nein. Die Pheresen haben die Kommunikation beim Nachtglanz-Kartell weitgehend blockiert. Zumindest die ausgehende. Alles, was wir kriegen, sind Empfangsbestätigungen.«

»Das könnte einige Stunden dauern, bis Nachtglanz erkennt, dass wir Admeto halten, und uns die Konfiguration der Prioritäten überlässt. Aber wenn der Colonel die Botschaft erhalten hat, wird er ohne Zweifel kommen.«

»Ich höre gerade, dass Frau Solsee Ihnen anbietet, an Bord zu kommen und ihr Gast zu sein, bis der Colonel eintrifft.«

»Das Angebot nehme ich gerne an.«

Darae Solsee.

Rayol hatte sie natürlich schon kennengelernt und war überrascht gewesen, dass Solsees Gattin so attraktiv war. Nach der Beschreibung des Colonels hatte er mit einer uninteressanten Frau gerechnet, die dieser nur des Geldes wegen geheiratet hatte. Aber Rayol fand sie umwerfend. Andere hielten es für wahrscheinlich, dass Darae Korrekturen an sich hatte vornehmen lassen. Selbst nach dem Ende der Singularität konnten sich Leute wie Solsee die teuersten Modifikationen leisten, in irgendeinem der verbliebenen Schönheitsinstitute. Und die Geschichten, die Darae Solsee umgaben, mochten darauf hindeuten.

Darae war Solsees zweite Frau. Die erste – Rita – war angeblich bei einem Unfall während einer Bergtour auf dem Planeten Poseidon umgekommen. Und auch hierüber gab es Gerüchte. Es hieß, der Colonel habe sie umgebracht, um an ihr Erbe zu kommen und sich mit der (damals, vor sieben Jahren) gerade einmal volljährigen Darae einzulassen. Das traute Rayol seinem Colonel zu. Ein anderes Gerücht aber besagte, dass Darae in Wahrheit Rita sei und ihre körperlichen Modifikationen hinter einem Unfalltod verbergen wollte – mitsamt Bestattung und allem. Das hielt Rayol für Unsinn.

Die Frau, nach der er sich jetzt sehnte, während er mit der MYKENAI an der ASCALUN andockte; die Frau, die ihn sogar in seine Träume verfolgt hatte und nach deren Vorbild er sich Klarträume hatte komponieren lassen, hatte nichts mit Rita Solsee gemein. Diese war klein und zierlich gewesen, und Darae war groß – sogar außergewöhnlich groß. Gewiss, mit Knochenverlängerungen ließ sich einiges machen. Ritas blaue Augen hätten sich leicht in Daraes hellbraune Augen ändern lassen, und um das schwarze Haar in blondes umzuwandeln, bedurfte es nur einer Färbung. Selbst die Stimme konnte man verändern. Und doch war die Frau, die hinter der Tür am Ende des Ganges stand und ihm nun durch den transparenten Teil bereits entgegenlächelte, nie und nimmer Rita Solsee.

Natürlich hatte er recherchiert, und ebenso natürlich konnte man all das, was er gefunden hatte, leicht fälschen, aber er konnte jetzt, da die Frau, die einen halben Kopf größer war als er, ihm ihre schmalen Hände reichte, nicht daran glauben, dass sie irgendetwas an sich hatte machen lassen. Wenn sie es getan hätte, hätte sie die kleinen Fältchen am Auge und die winzige Narbe an der Schläfe entfernen lassen. Nein, diese Frau war eine natürliche Schönheit.

»Willkommen, Captain«, sagte sie, und hätte er es nicht besser gewusst, er hätte es für eine Liebeserklärung gehalten.

»Danke für die Gastfreundschaft«, sagte Rayol und spürte, wie ihm die Hitze in die Stirn schoss.

»Sie können sich hier ein wenig ausruhen«, sagte sie und wies auf ihr Personal, das ihm entgegenlächelte. Dabei fiel ihm eine blonde Frau auf, die neben Darae stand und ihn höflich anlächelte. »Fran und die anderen werden sich um Ihr Wohl kümmern.« Der Name Fran sagte Rayol etwas. Solsee hatte ihm erzählt, dass Daraes Vertraute früher einmal ein Mann gewesen war. Dieses Detail schien den Colonel zu beschäftigen; dabei konnte man Fran nicht ansehen, ob es der Wahrheit entsprach. Sie war eine schöne Frau mit hellem Haar und grünen Augen, und es war nichts an ihr, was sich als eine Spur zu ihrer männlichen Vergangenheit anbot. In Zeiten, in denen beinahe alles am Körper veränderbar war, spielte das keine Rolle. Fran wirkte wie eine Frau, also betrachtete Rayol sie als eine solche. Was sich wirklich unter dieser weiblichen Zivilistenuniform befand, würde ihn nur dann interessieren, falls er ihr näherkam und mit ihr intim werden wollte. Und danach sah es nicht aus.

Der Colonel war, wenn es um Geschlechtsumwandlungen ging, ungeheuer altmodisch. Und wann immer er über Fran herzog und sich darüber aufregte, dass Darae sie nicht nur in Schutz nahm, sondern ihr die Operation bezahlt hatte, schwieg Rayol einfach und wartete, bis die Tirade vorüber war. Im Grunde bewunderte Rayol Darae dafür, dass sie ihrem Gatten in dieser Sache die Stirn geboten hatte. Es war nicht leicht, sich gegen einen Mann wie Solsee und seine mehr als konservativen Ansichten durchzusetzen.

»»Ich hörte vom Angriff auf Ianthe-3«, sagte Darae. »»Ich kann mir vorstellen, dass Sie seither keine ruhige Minute hatten.«

Sie hatte recht. Er hätte zwar im Hyperraum schlafen können, aber er hatte kein Auge zugetan, sondern sich wieder und wieder gefragt, wie der Colonel die Nachricht aufnehmen würde. »»Ich vermute, eine Ruhepause musste ich mir erst einmal verdienen.«

»»Auf ein Wort«, sagte sie und reichte ihm die Hand.

Rayol fasste vorsichtig ihre kühlen Finger und ließ sich von Darae Solsee zur Seite führen, während die Bediensteten warteten. »»Gehe ich recht in der Annahme, dass einer von Ihren Gefangenen Chris Mesaidon ist?«

Rayol nickte nur.

»»Mein Mann hat mir erzählt, worum es geht. Ich weiß zwar nicht, warum dieser Mesaidon so wichtig ist, aber für den Kampf gegen die Ketoniden scheint er von großer Bedeutung zu sein. Vielleicht als Faustpfand.«

»»Oder es geht um etwas, was er weiß oder in seinem Besitz hat bzw. hatte. Ich weiß auch nichts Genaues.«

»»Jedenfalls sollten Sie sich keine Sorgen machen. Mein Mann wird Ihnen die Sache mit Ianthe-3 nicht nachtragen. Mesaidon scheint so wichtig zu sein, dass man den Krieg mit dem Pheres-System gewagt hat. Also ...« Sie lächelte. »Also brauchen Sie nicht rot anzulaufen. Keine Angst. Mesaidon gefangen zu haben, das wird Ihnen nützen.«

»Gestatten Sie, dass ich ihn und seinen Gefährten auf die ASCALUN transferiere? Ich würde mich besser fühlen, wenn das Gefängnismodul in Ihrem Schiff wäre als da draußen auf der kleinen MYKENAI

Darae schmunzelte. »Sie haben sich diesen Wunsch verdient. Schicken Sie uns das Modul einfach.«

»Danke«, sagte Rayol und nickte.

Darae Solsee führte ihn zurück zu den Bediensteten.

»Ruhen Sie sich aus. Und erlauben Sie mir, Sie nachher zum Abendessen einzuladen.«

»Ist es denn nicht schon Abend?«

»Auf diesem Schiff noch nicht ganz«, sagte sie mit einem Lächeln. »Wenn mein Gatte fort ist, stellen wir die Uhren zurück. Ich bin eine altmodische Frau und hinke in manchem ein wenig hinterher. Nicht nur im Ambiente. Aber das werden Sie sicherlich früher oder später merken.«

Für einen Moment stockte Rayol der Atem. Kaum etwas wünschte er sich mehr, als alles, was Darae Solsee anging, zu bemerken, zu erfahren und zu ergründen. Er begehrte sie wie keine andere.

»Nett von ihnen, das Bullauge einzubauen«, sagte Chris und blickte aus dem Gefängnismodul zur Flotte hinaus, an der sie vorhin vorübergeflogen waren. »Ich kann keine Station sehen – keinen Planeten.«

»Ich weiß, wo wir sind«, sagte Valmas, der eben nur einmal kurz hinausgeschaut hatte, dann die Liege aus der Wand hatte fahren lassen, um sich auf das Kunststoffpolster zu betten.

»An einem Knotenpunkt«, sagte Chris. Manche Tore lagen im scheinbaren Nirgendwo, waren aber mit Dutzenden anderen Portalen verknüpft. Es waren Abkürzungen, die man erreichte, indem man am Portal im Hyperraum von Ebene zu Ebene sprang. Dazu musste man nicht einmal in den Normalraum zurückkehren, sondern sandte im Hyperraum seine Zieldaten ans Tor und stieß anschließend hindurch. Dann erschien man nicht im Normalraum, sondern auf einer anderen Ebene des Hyperraums. Durch die zahlreichen Ebenen ergaben sich unterschiedliche Routen zum selben Ziel, und manche Orte lagen so günstig, dass man besonders viele Portale miteinander verknüpfen konnte, ohne dass der Weg durch den Hyperraum zu lang wurde.

»Wir sind im Empty Corner. Das ist einer der wenigen Knotenpunkte, die keine Raumstation besitzen«, sagte Valmas. »Und das Portal liegt im uranosischen Raum.«

»Nie davon gehört.«

»Du hast nicht von der Zerstörung von Aliscans gehört?«

»O doch. Ja. Ein Hinterhalt durch die Tartarosier. Die hätten die Uranosische Republik beinahe in die Knie gezwungen. Vor Aliscans hat sich alles entschieden. Und das war hier?«

»Genau. Und das bedeutet, dass wir am Arsch sind. Nächster Halt Kronos-4.«

»Warum nicht direkt nach Kronos-4?«, fragte Chris. Es wäre gewiss keine Schwierigkeit gewesen, sie auf den Hauptplaneten der Uranosischen Republik zu verfrachten.

Valmas erhob sich schwerfällig von der Liege und trat an seine Seite, um hinauszuschauen. »Hier werden allerlei Geschäfte gemacht. Ich war oft hier, um meine Beute zu verkaufen. So weit abseits vom Tor befinden sich normalerweise nur die Kriegsschiffe der Uranosier. Dieser Rayol Oredson ist nur ein Captain. Vermutlich wird er uns an einen seiner Vorgesetzten ausliefern, der dann mit uns die ganzen Ehren einstreicht.«

»Aber was können sie nur von mir wollen?«

»Ist das nicht offensichtlich?«

Chris schwieg und überlegte, ob je irgendetwas mit den Uranosiern zu tun gehabt hatte, das ihn derart in Gefahr bringen konnte.

»Es liegt nicht an dem, was du getan hast, sondern an dem, was du bist. Du bist vielleicht der Sohn von Eltern, gegen die man jetzt ein Druckmittel braucht.«

»Dafür der ganze Aufwand? Um gegen Eltern vorzugehen, denen ich nicht genug bedeutete, dass sie mich in ihrer Nähe haben wollten?«

»Vielleicht ...«, sagte Valmas, doch ein Ruck, der durch den Raum ging, ließ ihn abbrechen und zur Decke schauen. Er stützte sich an der Wand ab. Ein weiterer Ruck riss Chris beinahe von den Beinen. Er konnte sich gerade noch am Boden abstützen.

Als sich alles wieder stabilisiert hatte, spürte Chris die Beschleunigung. Er schaute an Valmas’ Seite aus dem großen Bullauge. Von der Flotte war nichts mehr zu sehen. Vor ihnen erhob sich ein großes Schiff: elegant, lang gezogen und mit einem hellen Panzer versehen. Es wirkte wie eine riesige Insektenlarve.

»Das ist die ASCALUN«, sagte Valmas. »Das Schiff von Colonel Solsee. Jetzt sind wir wirklich geliefert.«

Chris schwieg und empfand mehr Neugier als Furcht. Was immer die Uranosier von ihm wollten, es würde dazu führen, dass er ein paar Antworten erhielt.

Chrysaor

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