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DARAE

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Ein Jahr bevor Chris auf Ianthe-3 für mündig erklärt wurde, gab es im Uranos-System ein Mädchen namens Darae Ormande, die ebenfalls nach einem Test als Erwachsene eingestuft wurde. Sie war kein Genie, sondern verfügte über Geschäftssinn und durchschaute den Test. Sie war zwölf und durfte die Geschicke des Unternehmens, das ihre Eltern für sie etabliert hatten und führten, nun selbst lenken. Sie war eine Programmiererin und eine Bastlerin, genau das, womit man in diesen Zeiten ein Vermögen machte. Und sie machte ein Vermögen.

Als sie vierzehn war, fühlte sie auch endlich erwachsen. Und gerade zu diesem Zeitpunkt nahmen sich ihre Eltern das Leben. Im Argolis-System war Selbstmord legal, und ihre Eltern hatten immer wieder durchblicken lassen, dass sie genug von allem hätten und eines Tages diesen Weg gehen würden. Und nun, da Darae auf eigenen Beinen stehen konnte, hatten sie den lange gefassten Plan umgesetzt.

Ihre Freunde fürchteten, sie könnte in ihrer Trauer die Stabilität verlieren, die sie bislang ausgezeichnet hatte. Sie aber konzentrierte sich nur noch mehr auf ihr Geschäft und wurde noch erfolgreicher; nur das konnte dem Gefühl der Einsamkeit etwas entgegensetzen. Dabei bemerkte sie nicht, wie sich ihre Freunde und Bekannten immer weiter von ihr entfernten.

Mit sechzehn – der Volljährigkeit in der Uranosischen Republik – war ihr Unternehmen auf dem Höhepunkt, und Darae fing endlich an, das Leben zu genießen. Sie lernte Colonel Meljan Solsee kennen, der gerade seine Frau verloren hatte. Darae schwärmte für den Mann, der den Tod seiner Gattin mit so viel Haltung hingenommen hatte. Er war mit seinen einundvierzig Jahren zwar deutlich älter als sie, aber seine Ausstrahlung hatte es ihr angetan. Er war ein Held, ein gut aussehender Mann, der ungeheuer charmant sein konnte und einem das Gefühl gab, zu allem fähig zu sein. Er war wie ein Tiger. Aber sie wollte ihn nicht zähmen – sie wollte wie er sein.

Nach einer intensiven Affäre entschlossen sie sich zu heiraten. Sie war damals blind vor Liebe gewesen und konnte sich nicht vorstellen, dass es Meljan um irgendetwas anderes gehen konnte als um sie. Er bewies seine Loyalität am Anfang immer wieder. Doch schon nach wenigen Monaten tauchte ein Problem auf, das alles bedrohte, was sie sich aufgebaut hatte.

Ihr Erfolg war nicht unbemerkt geblieben. Die Schattenkonzerne hatten ein Auge auf Daraes Unternehmen geworfen, und einer von ihnen – Andromeda Subliminal – trieb sie, wie sie später erfuhr, über eine Tochterfirma beinahe in den Ruin. Sie hatten ein großes Logistikprojekt bestellt, und alles war so gut verlaufen, dass Darae den nächsten Auftrag, der gewaltig war, sofort angenommen hatte. Doch plötzlich wollten sie nicht zahlen. Die Firma verschwand und Daraes Unternehmen stand ohne Einnahmen da.

Darae sah damals nur einen Ausweg: ihr Unternehmen zu verkaufen. Nicht jedoch an den Schattenkonzern Andromeda Subliminal, den sie verachtete und der nur einen Spottpreis bot. Merkwürdigerweise zogen viele Interessenten ihr Angebot schnell wieder zurück. Wie sich später herausstellte, hatte Andromeda Subliminal sie zu diesem Verzicht gedrängt.

Sie wusste keinen Ausweg mehr. Doch Meljan, den sie in alle Geschäfte einweihte, hatte einen Einfall, der sie davor bewahrte, dem Schattenkonzern nachzugeben. Er ließ seine Beziehungen spielen, und so kaufte das Uranosische Militär ihr Unternehmen für 500 Millionen Drachmen. Das war viel weniger, als das Unternehmen vorher wert gewesen war – mindestens 2 Milliarden –, aber es war mehr als genug für ein hübsches Leben. Nie zuvor hatte sie so viel Geld für sich behalten. Sie hatte es früher immer wieder sofort investiert.

Es gab nur einen echten Haken bei der Rettungsaktion: Das Geld wurde auf ein Militärkonto überwiesen. Das hatte zwar den Vorteil, dass das Vermögen dort vor äußeren Zugriffen sicher war, aber den Nachteil, dass Meljan Zugang dazu hatte und sie jederzeit von der Verwendung des Kontos ausschließen konnte. Zuerst störte es sie nicht, da sie schließlich in Meljan verliebt war. Aber sie merkte bald, dass sein Interesse an ihr schwand. Er betrog sie mit anderen, mit reifen Frauen, neben denen Darae sich wie das Kind fühlte, das sie nun definitiv nicht mehr war. Sie war eifersüchtig, doch ihre Wut richtete sich nicht gegen Meljan, sondern fand ein anderes Ziel: Darae wollte sich an jenen rächen, die ihr Unternehmen ruiniert hatten.

Sie plünderte die letzten geheimen Konten, die sie noch besaß, und fand heraus, dass der Schattenkonzern Andromeda Subliminal hinter ihrem Ruin steckte. Und sie fand heraus, dass die Hierarchieebenen dieses zwielichtigen Unternehmens streng getrennt waren. Man kannte seine Vorgesetzten nicht, sondern nahm über klar definierte Kanäle die Anweisungen entgegen und erhielt nach erledigter Arbeit den Lohn.

Es dauerte eine Weile, bis Darae die Hierarchie enträtselt hatte und herausfand, dass alle Fäden bei einer Person zusammenliefen, von der niemand wusste, dass sie einen Schattenkonzern führte; einer Person, die leicht auszuschalten war, wenn man es denn gewusst hätte – einer Person, die Daraes Rache zu spüren bekommen sollte. Der Mann hieß Dwight Reylar.

Es wäre ein Leichtes gewesen, einen Killer anzuheuern, der ihn tötete. Aber Darae hatte schon immer Fantasie gehabt, und so schwebte ihr etwas ganz anderes vor.

Da sie seine Kontakte und die gesamte Struktur von Andromeda Subliminal nun kannte, entwarf sie ein Programm, mit dem sie sich zwischen ihren Feind und seine Untergebenen schalten konnte. Und dann setzte sie einen Auftrag ab. Die Verbrecher sollten eine Maschinenfarm ausräumen und alle Geräte in ein Lagerhaus auf Kronos-4 schaffen.

Wie immer taten sie, was man ihnen sagte, und erhielten dafür ihre Bezahlung. Darae installierte eine versteckte Kamera, und so konnte sie Dwight Reylar sehen, als er von einer Geschäftsreise heimkehrte. Die Fassungslosigkeit, mit der er durch seine leer geräumte Wohnung schritt, beobachtete Darae mit Genugtuung. Alles, womit er seinen Schattenkonzern aufrechterhalten hatte, war nun fort. Darae hatte ihm nur eine Nachricht auf einer der kahlen Wände hinterlassen. Sie hatte die Wandsegmente in den Bildschirm-Modus umgestellt, und auf schwarzem Hintergrund stand dort nun in grüner Schrift: »Ich übernehme von hier an. Nimm den Chip. Auf dem Konto findest du etwas für deinen Neuanfang.« Es waren zehntausend Drachmen. Genug, um einen winzigen Betrieb zu gründen.

Darae hatte nie wieder von Dwight Reylar gehört. Er musste seine Identität gewechselt haben, sonst hätte sie ihn im Auge behalten können. Er verschwand einfach im Untergrund.

Fortan war Darae eine Grande der Unterwelt. Mit den erbeuteten Maschinen und jenen, die sie hinzufügte, mit ihren Programmen und ihrem Geschäftssinn, machte sie aus einem kleinen Schattenkonzern ein gewaltiges Unternehmen, mit Tochterfirmen, die völlig legal waren. Irgendwann würde sie vielleicht ganz aus dem Schatten treten.

Das Schönste war, dass Meljan nichts davon ahnte. Sie hatte anfangs für ihn geschwärmt, wie ein Teenager für einen Showstar schwärmte. Nun aber war sie froh, dass er sich nichts mehr aus ihr machte. Inzwischen hasste sie Meljan dafür, dass er sich ihr Vermögen angeeignet hatte, sie nach wie vor mit anderen Frauen betrog und sich kaum noch die Mühe machte, die Affären vor ihr und der Öffentlichkeit zu verschleiern.

Nun, mit dreiundzwanzig, war Darae klar, dass sie nicht ihr ganzes Leben mit Meljan verbringen würde. Sie arbeitete an ihrer Rache, und er wusste es nicht einmal. Sie nutzte Informationen, die sie von ihm abschöpfte oder in seinem Netzwerk abhörte, für ihre Zwecke und machte ungeheuren Gewinn. Sie hatte sich sogar auf etwas eingelassen, das gefährlich war, aber ihr den letzten Schritt aus der Schattenwelt ermöglichen mochte: Sie unterstützte die Feinde Meljans – den ketonidischen Widerstand.

Ihren gesamten Aufstieg der vergangenen Jahre verdankte sie dem Handel mit den Widerstandskämpfern des Keto-Systems. Andere hatten sich daran versucht, waren aber aufgeflogen und von der Uranosischen Armee auseinandergenommen worden. Nur sie blieb stets unentdeckt und fragte sich inzwischen, ob es wirklich wünschenswert war, ihr ganzes Unternehmen aus dem Schatten zu rücken. Stattdessen dachte sie immer öfter an ein Yin-Yang-Kartell, bei dem Schatten und Licht zu einem verbunden waren.

Das Jahr 2488 war ein besonderes Jahr für Darae. Es war das Jahr, in dem die Wende kam. Sie stand schon lange im Kontakt mit der Anführerin der ketonidischen Rebellen – Ryala Pondaia. Und als Darae erfuhr, dass das uranosische Militär einen Angriff auf Ianthe-3 plante, der mit einem jungen Mann namens Chris Mesaidon und mit den Ketoniden in Zusammenhang stand, spielte sie diese Information Ryala zu. Etwas Großes war im Gange, das spürte Darae. Und vielleicht war es Zeit, ein echtes Wagnis einzugehen.

Darae stand nun in ihrem Zimmer auf der ASCALUN am Fenster. Die MYKENAI lag leider nicht in ihrem Blickfeld. Sie hätte sich das Gefängnismodul gerne angeschaut, in dem sich Chris Mesaidon mit seinem Gefährten befand. Aber es würde reichen, die Aufzeichnungen anzusehen, um alles darüber zu erfahren, was sie wissen musste. So blieb ihr nur der Blick zu all den Schiffen hinüber, die in der Ferne leuchteten.

Hier im Empty Corner hatte ihre zweite Karriere ihren Anfang genommen. Nun fragte sie sich, ob sie das Wagnis, das ihr vorschwebte, wirklich eingehen sollte. Noch unentschlossen wandte sie sich vom Fenster ab und setzte sich an ihren Arbeitstisch. Sie öffnete einen geheimen Kanal nach Keto. Über Umwege würde sie mit Ryala Pondaia in Kontakt treten. Die Anführerin des Widerstandes hatte meist ein offenes Ohr für sie, wenngleich sie nicht ahnte, dass der Kopf der Andromeda Subliminal niemand anders war als die Frau ihres ärgsten Feindes.

Auf dem Schirm erschien die Nachricht »Verbindung hergestellt!«. Die Verzögerung betrug nur wenige Sekunden. Das Signal wurde von der ASCALUN zum Tor gesandt, schoss durch den Hyperraum ins Keto-System und dort über einige Tore zu dem Ort, an dem sich Ryala befand. Dabei musste nicht einmal das ganze Tor geöffnet werden. In der Struktur der Portale öffneten sich für die Kommunikation ständig unbemerkt winzige Pforten. Da das Keto-System noch nicht an das Mikroportal-Netz angeschlossen war, die Verbindung aber dennoch kaum eine Verzögerung hatte, musste Ryala sich in der Nähe eines Portals mit guter Anbindung befinden. Darae vermutete, dass sie sich im Orbit des Planeten Euryale befand. Es war einer der wenigen Orte, an dem sie beinahe unbehelligt agieren konnte.

Eine Schrift erschien auf dem Schirm. »Was gibt’s?«, stand dort, und wie immer trug eine weibliche Computerstimme den Text vor.

»Hast du von Ianthe-3 gehört?«, sagte Darae, und ihre Worte erschienen als Text auf dem Schirm.

»Ja«, antwortete Ryala und berichtete, dass die Ketoniden die Station mehrmals gewarnt hätten, man ihnen aber keinen Glauben geschenkt habe. »Das ist eine Katastrophe. Ich kann nur hoffen, dass die Person, um die es uns geht, nicht dort war.«

»War sie nicht«, entgegnete Darae.

»Weißt du etwas?«

»Chris Mesaidon lebt.«

»Großartig!«

»Er ist aber in den Händen der Uranosier«, erklärte Darae.

»Scheiße!« Es klang lustig, wenn die Computerstimme fluchte.

»Ich habe Kontakte, die ihm zur Flucht verhelfen könnten«, sagte Darae.

»Das wäre möglich?«

»Wenn du mir die gesamte Summe für den Frachter im Voraus zahlst, ist fast alles möglich.«

Es dauerte eine Weile, bis Ryala antwortete. »Geht in Ordnung. Aber natürlich nur, falls du es auch schaffst.«

»Ich werde tun, was ich kann. Wenn ich ihn sicher zu dir bringen kann, brauche ich sofort das Geld.«

»Abgemacht.«

»Ende der Übertragung«, sagte die androgyne Hauptstimme ihres Systems.

Darae lehnte sich grinsend in ihrem Stuhl zurück. Die Ketoniden brauchten den uranosischen Kriegsfrachter unbedingt. Offenbar planten sie nach all den Rückschlägen wieder etwas Großes. Überhaupt schienen die Geschäfte der letzten Zeit auf eine Offensive hinzudeuten.

Seit Senthea Pondaia, Ryalas Schwester, den Uranosiern ins Netz gegangen war und auf dem Planeten Chrysaor als Gefangene gehalten wurde, konnte es den Ketoniden bei den Lieferungen nicht schnell genug gehen. Der Handel mit dem Frachter würde so viel Geld in Daraes Kasse spülen, dass sie ihrem Ziel sehr, sehr nahe kam. Sie würde ein Ersatzmodul kaufen, mit dem sie eine Reparatureinheit instand setzen würde. Und dann würde sie das große Geld machen.

Als wäre das nicht genug, würde sie Chris Mesaidon aus den Händen ihres Mannes stehlen, ehe er ihn überhaupt in Händen hielt. Und Rayol würde wieder mal als der Dumme dastehen.

Doch wie sollte sie das bewerkstelligen, ohne den Verdacht auf sich zu lenken? Das plagte sie. Aber je mehr sie über Rayol, Meljan und die anderen Offiziere nachdachte, umso deutlicher wurde, was sie zu tun hatte.

Chris saß auf seiner Liege und schaute zwischen der Tür und dem Bullauge hin und her. Ab und zu pausierte sein Blick gegenüber auf Valmas, der zur Decke starrte. »Bist du jemals aus so einem Modul ausgebrochen?«, fragte Chris.

»Nein. Ich konnte immer erst entkommen, wenn ich aus den Dingern rauskam und sie mich verlegten. Da geschahen dann Fehler. Und darauf musst du vorbereitet sein.«

Chris nickte. »Wie lange wird das wohl dauern?«

»Weiß nicht. Es könnte Wochen dauern, bis wir jemanden zu Gesicht bekommen.«

Die Computerstimme, die sie sonst aufforderte, ihre Mahlzeiten aus der Nische zu nehmen, und sie immer dann warnte, wenn die Toilette aus der Wand fuhr, sagte nun: »Von der Tür wegbleiben!«

Sie rührten sich nicht von der Stelle und schauten zum Eingang.

»War ja klar, dass mir das olle Modul widerspricht«, sagte Valmas.

Die Tür öffnete sich, und eine hochgewachsene Frau trat ein – allein. Sie trug weiße Sachen, beinahe im Einklang mit den Wänden des Moduls. Nur der Wollponcho war ein wenig trüber. Ein spiegelnder Metallhelm verbarg ihr Gesicht. Nur ein wenig blondes Haar quoll unter dem Helm hervor.

Chris wollte aufstehen, doch die Fremde hob die Hand zu einer beschwichtigenden Geste und sprach mit einer Computerstimme: »Kommt nicht auf dumme Gedanken! Geht gegen mich vor, und ihr kommt hier niemals raus.«

»Du willst uns also helfen?«, fragte Chris. »Warum?«

»Meine Gründe gehen euch nichts an. Dies ist die einzige Chance, die sich euch bieten wird.«

Valmas erhob sich langsam. »Wir sollen glauben, dass es auf der ASCALUN jemanden gibt, der uns helfen will?«

»Glaubt, was ihr wollt. Nehmt meine Hilfe an oder schlagt sie aus. Es liegt ganz bei euch.«

»Wer bist du?«, fragte Valmas.

»Das ist nicht wichtig«, sagte die fremde Gestalt und holte dann eine Card hervor. »Wichtig ist nur das hier! Ein Schlüsselgenerator.«

»Die Tür ist offen«, sagte Chris. »Wozu also der Schlüssel?«

»Um den Verdacht von mir fernzuhalten. Wenn ihr hier auf dem Schiff ausbrechen würdet, würden Fragen gestellt. Und dann könnte ich in Schwierigkeiten geraten. Da ich an meinem Leben und meinem Job auf diesem Schiff hänge, müsst ihr warten. Captain Oredson will euch zurück auf die MYKENAI transferieren. Und wenn ihr dort seid – und auf keinen Fall vorher –, werdet ihr den Schlüsselgenerator an der Tür verwenden. Alles Weitere liegt dann in euren Händen.« Sie reichte Chris die rechteckige Karte.

»Eine CDG-97«, sagte Chris anerkennend. Diese Card-Computer waren begehrt. »Fast schon eine Verschwendung für einen Schlüssel.«

»Nicht für diesen Schlüssel«, entgegnete die Frau.

»Keine Waffen?«, fragte Valmas.

Die Maskierte schüttelte den Kopf. »Die Scanner der MYKENAI würden sie bemerken. Standardprotokoll beim Transfer. Dann wüssten sie, dass ihr Hilfe hattet. So werden sie davon ausgehen, dass ihr die Karte die ganze Zeit hattet und die Wachen, die euch gefangen genommen haben, sie übersehen haben.«

»Und ihre Scanner werden die Karte wirklich nicht entdecken?«, fragte Chris.

Das Lachen der Frau klang durch die Verfremdung der Stimme wie das Keckern einer Elster. »Jetzt weißt du, warum es eine CDG-97 ist.«

»Gut«, erwiderte er. »Wir brechen aus. Und dann? Wie kommen wir von der MYKENAI runter?«

Ehe die Fremde antworten konnte, sagte Valmas: »Wir schlagen uns aufs Flugdeck durch und hauen ab.«

Die Maskierte nickte. »Ihr schnappt euch ein kleines Schiff, fliegt dem Sprungtor entgegen und mischt euch unter die anderen Schiffe. Ein automatisierter Frachter wird euch ein Signal senden und euch aufnehmen. Er wird euch in Sicherheit bringen.«

Valmas legte die Stirn in Falten. »Könnte es sein, dass wir uns von der einen Gefangenschaft in die nächste begeben?«

»Ich fürchte, das Wagnis müsst ihr schon eingehen, wenn ihr hier rauswollt«, erwiderte die Fremde.

»Und wenn wir uns weigern?«, fragte Chris.

»Lass nur«, sagte Valmas. »Lieber der Ungewissheit ins Auge schauen, als Solsees Gefangener zu sein.«

Chris zögerte, etwas zu sagen. Da draußen würden sich allerlei Möglichkeiten bieten zu entkommen, wenn sie es schafften, auszubrechen und ein Schiff zu erbeuten. Doch Chris bedauerte, dass er nach einem Ausbruch von Solsee – oder wer auch immer die Befehle gab – keine Antworten erhalten würde. »Warum sagst du uns nicht, wer du bist?«

Die Frau zögerte, als erwöge sie, es tatsächlich zu offenbaren. Nach einer Weile, in der Chris und Valmas Blicke getauscht hatten, sagte sie: »Ich bin jemand, der viel riskiert, aber spürt, dass es dieses Risiko wert ist.« Sie trat näher, und Chris sah im Spiegelhelm sein eigenes Gesicht, in dem die Überraschung schwelte. »Du weißt nicht, warum sie dich gefangen haben?«

»Nein, keine Ahnung.«

Sie fasste seine Hand mit ihren schmalen, warmen Fingern. »Ich kann dir im Augenblick nicht helfen, denn ich weiß auch nicht genau, was sie von dir wollen. Du scheinst im Kampf gegen die Ketoniden eine Spielfigur zu sein. Ein Ahnungsloser, von dem dennoch etwas abhängt. Alle scheinen dich in Händen haben zu wollen. Vielleicht, um auf irgendwen Druck auszuüben. Nehmt einfach meine Hilfe an, und ich werde sehen, was ich herausfinden kann.«

»Und warum sollte uns Rayol Oredson wieder auf sein Schiff transferieren?«, fragte Chris.

»Und wieso kannst du hier ein und aus gehen, ohne bemerkt zu werden?«, setzte Valmas nach.

»Pscht!«, zischte sie leise. »Ich bin wie ein Geist. Niemand außer euch hat mich kommen sehen.« Sie schaute zur Decke hinauf. »Nicht einmal die Kamera da oben.« Eine schwarze Fläche war alles, was Chris dort sah. »Aber wenn ich fort bin, werden sie wieder alles beobachten. Und dann müsst ihr vorsichtig sein. Lasst euch nichts anmerken und posaunt nicht alles heraus.«

»Aber wie machst du das?«, fragte nun auch Chris.

»Manche nutzen Module, manche wissen sie zu verändern«, sagte sie.

Valmas grinste nur.

»Das sind große Fähigkeiten«, sagte Chris und nickte. »Dann bist du eine Spionin.«

»Gewissermaßen.«

»In wessen Auftrag?«

»Vielleicht in meinem eigenen. So oder so, ich würde es euch nicht sagen. Bis bald! Und seid nicht zu sehr erstaunt, wenn ihr merkt, dass das, was ich euch gegeben habe, viel mehr ist als nur ein Schlüssel.« Sie trat rückwärts aus dem Raum hinaus. Mit einem Zischen schloss sich die Tür, und mit einem Knacken verriegelte sie sich.

Valmas lachte leise. »Entweder Solsee will uns demütigen oder diese Frau ist ein Genie.«

»Letzteres würde mir besser gefallen«, sagte Chris und starrte noch immer auf die Tür.

»Das glaube ich. So, wie du sie angeglotzt hast. Wie einen Geist.«

»Ich wüsste gern, wer sie ist.«

»Wer immer das ist: Du hast ihr gut gefallen.«

»Und das hast du am Glitzern ihres Spiegelvisiers abgelesen?«

»Nein, an ihren Händen. Als sie deine Hand gefasst hat, und wie die Stimme – Verfremdung hin oder her – geklungen hat. Das hat mir gesagt, was ich wissen muss.«

»Also werden wir, wenn wir so weit kommen, diesen Frachter ansteuern, von dem sie gesprochen hat?«

Valmas spitzte die Lippen und nickte. »Ich möchte wissen, wer hinter der Maske unseres Schutzgeistes steckt.«

Chris nickte. »Und ich möchte die Antworten aus ihrem Mund mit ihrer echten Stimme hören.«

Darae schaute über den reich gedeckten Tisch hinweg in die verlegene Miene von Captain Rayol Oredson. Sie hatte sich, anders als beim Besuch im Gefängnismodul, mit ihrer Garderobe keine Mühe gegeben. Sie trug einen ärmellosen Wollpulli mit Rollkragen in Rot und einen schlichten sandfarbenen Rock. Rayol sollte nicht den Eindruck haben, dass dies für sie auch nur ansatzweise ein besonderer Anlass war.

Sie sprachen erst über Belanglosigkeiten und beschäftigten sich dann behutsam mit Ianthe-3. Dabei fiel Darae auf, dass Rayol kein Wort über all die Opfer verlor, deren Tod er zu verantworten hatte. Er aß in aller Ruhe seine Forelle und sprach nur von sich und was dieser Fehler für ihn, für Meljan und ihre Karrieren bedeutete. Spätestens jetzt wusste sie, dass Rayol das, was sie ihm antun würde, verdient hatte.

Sie kamen auf Mesaidon zu sprechen, und Darae wartete auf den richtigen Augenblick, ihre Saat zu pflanzen. Sie ließ Rayol spekulieren, was wohl Mesaidons Bedeutung war und was Meljan und General Connelly von Rayols Erfolg halten würden. Darauf sagte sie: »Ada Connelly wird bestimmt Luftsprünge machen, wenn sie Mesaidon und seinen Gefährten in die Finger kriegt.«

Rayol senkte kurz den Blick.

»Natürlich nur, wenn Mesaidon wirklich so wichtig ist, wie es den Anschein hat.«

»Das ist er«, entgegnete Rayol. Mit seinem Blick war er aber immer noch abwesend und stocherte wie ein Kind in dem Fisch nach Gräten. »Die Worte des Colonels ließen keinen Zweifel daran.«

»Das stimmt.« Darae lächelte, und Rayol lächelte zurück. Er bewies damit, dass er nicht im Mindesten hinter ihre Maske schauen konnte. Sie wollte nur ihre Rolle aufrechterhalten. Doch tatsächlich bedauerte sie, dass die Ketoniden den Angriff auf Ianthe-3 nicht hatten verhindern können, obwohl sie dem Stationskommando die Information zugespielt hatten. Sie empfand es wie eine Niederlage. Die Informationen, die sie abgeschöpft hatte, waren nicht entscheidend gewesen; sie hatten nichts verändert. Und Darae hasste es, wenn ihr Tun und all die Wagnisse, die sie dabei einging, ohne Konsequenzen blieben. Deswegen hatte sie nun noch mehr in die Waagschale geworfen – wie eine Spielerin, die ein Vermögen verloren hat und immer mehr Geld nachsetzt, um die Verluste auszugleichen und doch noch einen großen Gewinn zu erzielen. Und bei jedem neuen Einsatz, den sie ins Spiel brachte, fragte sie sich, ob sie gerade zu weit gegangen war.

Sie war bereit, sich abzuwenden, fortzugehen und Meljan vor Augen zu führen, wie sehr sie ihn all die Jahre betrogen hatte. Im Grunde war schon alles vorbereitet für den Tag der Offenbarung.

»Da Mesaidon also so wichtig ist«, sagte Darae, »wittere ich schon eine satte Beförderung. Darauf wartet Meljan schon lange. Und in letzter Zeit hatten wir den Eindruck, Connelly sei seiner überdrüssig geworden. Aber ganz gleich, was vorher war: Eine solche Beute kann eine ganze Karriere prägen. Man muss nur zur richtigen Zeit vor Ort sein und mit der Beute in der Hand die Lorbeeren ernten.« Sie biss sich auf die Lippen und warf Rayol einen besorgten Blick entgegen.

Der Captain grinste erst, dann stutzte er und legte die Gabel ab. »Sie fürchten etwas?«

»Mein Mann hat Rivalen«, sagte sie, wandte mit Bedacht den Blick von Rayol ab und schaute auf ihren Teller, auf dem nur noch der Salat darauf wartete, von ihr verspeist zu werden. »Ich habe Angst, dass man ihm wieder einmal im letzten Augenblick alles zunichtemacht.« Sie schaute wieder auf und warf ihm einen scheinbar verzweifelten Blick zu. »Sie werden ihm doch den Rücken stärken? Sie werden doch dafür sorgen, dass die Gefangenen nicht in falsche Hände geraten, sondern sicher dorthin gelangen, wo sie hinsollen?«

»Ich vermute, Ihr Mann wird Mesaidon und seinen Kumpanen General Connelly vorführen wollen. Bei ihr gibt es das Lob zu erwerben.«

»Aber Sie werden doch dafür sorgen, dass Sie und mein Gatte dieses Lob erhalten werden – und nicht irgendeiner seiner Rivalen, die um Connelly herumschwirren wie Motten.«

»Die Gefangenen werden sicher bei General Connelly eintreffen. Ich verspreche es. Wenn Ihr Mann sich doch nur endlich melden würde!«

»Das wird er schon. Und er wird froh sein, einen so treuen Captain zu haben. Glauben Sie mir.« Sie hob ihr Weinglas und sagte: »Auf die Zukunft!«, und Rayol konnte unmöglich ahnen, dass in ihrem hoffnungsfrohen Lächeln Genugtuung lag. Sie hatte alles gesagt, was nötig war. Die Saat war bereitet.

Rayol konnte nicht schlafen. Er hatte bei geschlossenen Augen das gewinnende Lächeln Daraes vor Augen. Jetzt einen Trauminduktor, und die Nacht wäre gerettet. Wann immer er seine Sexfantasien zur Seite wischte und daran dachte, was Darae gesagt hatte, musste er schmunzeln. Gewiss ohne sich der Konsequenzen bewusst zu sein, hatte sie ihn auf etwas gebracht, das er vorher nicht gesehen hatte. Er hatte nur an die Gefangenen und an seinen Colonel gedacht, nicht aber an General Connelly.

Darae, die sich rührend um des Colonels Wohl sorgte und die Gefahr durch die Rivalen sah, hatte ihm überhaupt erst den Wert Mesaidons klargemacht. Gewiss, Solsee hatte Rivalen, doch nicht nur die anderen Colonels hatte er zu fürchten. Selbst seine Untergebenen konnten ihm zur Bedrohung werden.

Rayol beneidete den Colonel – um seinen Rang und um seine Frau. Wenn sich ihm die Möglichkeit böte, ihm den Lohn für die Gefangennahme Mesaidons vor der Nase wegzuschnappen, wäre das ein Triumph. Doch wie sollte er es tun, ohne Solsees Zorn auf sich zu ziehen und – was noch viel schwerer wog – Daraes Verachtung?

Darae hatte ihn, ohne es zu ahnen, auf eine Idee gebracht: Er würde mit Ada Connelly Kontakt aufnehmen. Zwar hatte er Befehle, sich hier mit dem Colonel zu treffen, aber die Kommunikation nach Admeto war abgebrochen. Das waren unvorhergesehene Umstände, und so verfügte er als Untergebener über Spielräume. Und genau diese wollte er nun ausnutzen.

Natürlich würde er nicht einfach zu Connelly fliegen und die Gefangenen präsentieren. Damit würde er Solsees Befehl zuwiderhandeln. Er konnte den alten Befehl nur dadurch loswerden, dass er sich von General Connelly einen neuen einholte, ohne dabei die Befehlskette zu brechen.

Er schlug die Augen auf, sprang aus dem Gästebett, stieg hastig in seine Uniform und setzte sich an den kleinen Tisch. Daraus ließ er einen Schirm hochfahren und legte vor diesem seine Card ab.

»Verbindung zur ATHENAIA«, sagte er. »Geheimhaltungsrang C.« Leider durfte er selbst die Geheimhaltung nicht festlegen. »Priorität I.« Aber er durfte die Bedeutung einschätzen. »Verschlüsselungsgrad I.« Damit musste ein höherer Offizier die Botschaft entgegennehmen. Natürlich konnte man sich leicht in Schwierigkeiten bringen, wenn die Botschaft nicht so wichtig war, wie man sie machte; aber die Gefangennahme Mesaidons rechtfertigte ein solches Vorgehen.

Die Kennung von Ada Connellys Schiff erschien auf dem Schirm, ebenso Rayols Sicherheitscode. Der Bordcomputer der ASCALUN holte sich sogar mehr von seiner Card, als er brauchte. Er zeigte ihm an, wann er das letzte Mal persönlich mit der ATHENAIA Kontakt aufgenommen hatte. Es war vor zwei Jahren gewesen, als er Solsee angekündigt hatte. Natürlich hatte er nicht mit dem General gesprochen, sondern nur mit einem Kommunikationsoffizier. Er hatte noch nie direkt mit Connelly geredet. Und als auf dem Schirm »Verbindung hergestellt« erschien, klopfte sein Herz.

Er wusste, dass er nicht sofort mit Connelly sprechen würde. Wahrscheinlich würde er sie überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Geradezu erleichtert war er, als die breite Miene von Colonel Heisinger erschien. »Oredson! Ich hoffe, Sie haben mich nicht aus dem Bett geworfen, um sich für Ianthe-3 zu rechtfertigen.«

»Natürlich nicht, Sir«, entgegnete Rayol und fragte sich, was man sich wohl alles über ihn erzählte. »Ich weiß nur zu gut, dass mein Vorgehen in Ianthe-3 ein Fehler war.«

»Ein Fehler? Die Pheresen werden uns den Krieg erklären. Aber ich kann Sie beruhigen. General Connelly hat beschlossen, eine Geschichte zu präsentieren, in der Sie als der Held von Ianthe-3 erscheinen werden. Sie werden alles Nötige erfahren.« Er verzog das Gesicht zu einer verabscheuenden Miene. »Machen Sie sich auf einiges gefasst. So! Sie haben gehört, was Sie wollten, kann ich jetzt weiterschlafen?«

»Verzeihen Sie, Sir. Ich habe die Nachrichten und das Problem noch nicht preisgeben können.«

»Dann reden Sie endlich!«

»Ich habe Chris Mesaidon in Gewahrsam. Ich habe ihn auf dem Titan gefangen genommen und warte jetzt hier am Empty Corner auf Instruktionen meines Colonels. Doch der befindet sich auf Admeto, und die Kommunikation ist gestört. Ich hatte den Befehl, mich hier zu melden und zu warten, aber ich weiß nicht, ob dieser Befehl noch dem Willen meines Colonels entspricht. Ich sitze in der Nähe der unübersichtlichen Flotte, die sich hier vor dem Tor sammelt. Und das macht mir Sorgen. Bei diesen Gefangenen könnten unsere Widersacher größere Risiken eingehen, als sie es normalerweise tun würden.«

»Warten Sie, Oredson! Ich kann Ihnen keine Befehle erteilen, die denen Ihres Vorgesetzten widersprechen. Nur General Connelly könnte den Befehl Solsees aufheben oder für überholt erklären. Sie sind sich sicher, dass er eine Überführung der Gefangenen gutheißt?«

»Natürlich kann ich mir nicht sicher sein. Aber wie sicher ist es, mit einer Beute von unschätzbarem Wert hier in Sichtweite von Schiffen festzusitzen, deren Status ich nicht kenne? Sie können mir bestätigen, dass ich hierbleiben soll, und ich werde es tun.«

»Warten Sie mal«, sagte Heisinger.

Und Rayol wartete und starrte auf den leeren Schirm. Er fragte sich, ob er zu weit gegangen war. Falls Colonel Heisinger wieder erschien, würde er hier abwarten müssen, erschien jedoch der General, würden sich die Befehle ändern.

Mit einem Mal erfüllte ein Frauengesicht den Schirm. Rayol starrte in schwarze Augen. Ada Connelly trug zwar ihre Uniform, aber ihr braunes Haar war nur notdürftig zurückgebunden. »Captain Oredson!«, sagte sie. Ihre Stimme klang keineswegs so, als wäre sie an das Befehlen gewöhnt, sondern wie die einer Frau, die einen Wunsch äußerte und keinen Widerspruch zuließ. »Sie haben also Mesaidon.«

»Ich habe ihn.«

Ihre vollen Lippen zogen sich zu einem weiten Lächeln. »Großartig! Heute Morgen habe ich Sie noch verflucht. Heute Mittag habe ich beschlossen, Sie zum Helden von Ianthe-3 zu machen. Und jetzt? Jetzt verstehe ich, was Solsee in Ihnen sieht. Sie haben Ihren Fehler wiedergutgemacht.«

»Das hoffe ich, Sir!«

»Bescheidenheit steht Ihnen. Bleiben Sie so. Sie werden bald für eine Weile auf jedem Bildschirm zu sehen sein. Der Held von Ianthe-3 jagt den Kriegsverbrecher und spürt ihn auf dem Titan auf. Es war doch auf dem Titan? Oder hat Sie Heisinger falsch verstanden?«

»Ja, auf dem Titan.«

»Dann können wir die Erdlinge mit reinziehen und scheinbar arglose Fragen stellen, die in der Öffentlichkeit zu mehr heranwachsen. Sie ahnen nicht, welchen Dienst Sie uns erweisen. Ihnen steht jetzt viel bevor. Morgen früh bereits werden wir unsere Geschichte rausschicken.«

»Das freut mich.«

»Sie sehen aber alles andere als glücklich aus. Heisinger hat mir von Ihrem Problem erzählt. Wir haben auch keinen Kontakt nach Admeto.«

Rayol nickte. Wenn die ATHENAIA, die die höchste Prioritätsklasse besaß, keine Verbindung bekam, war der Colonel wahrhaftig abgeschnitten, wenngleich er offenbar Nachrichten empfangen konnte.

»Wir stehen mit dem Nachtglanz-Kartell in Kontakt. In ein paar Stunden sollte es behoben sein. Aber so lange möchte ich nicht warten.«

»Es könnte sein, dass der Colonel schon unterwegs ist«, sagte Rayol.

»Oder auch nicht«, erwiderte Connelly. »Er könnte genauso gut auf Admeto sein und noch immer nach Mesaidon suchen. Die letzte Nachricht besagte das. Ich will nicht warten. Ich möchte, dass Sie zu mir kommen. Bringen Sie mir Mesaidon.«

»Mit Geleitschutz?«

»Warten Sie! Die ASCALUN ist bei Ihnen, richtig?«

»Ja.«

»Dann machen wir es doch einfach so«, sagte sie, und Rayol fürchtete, was nun folgen würde. »Sie setzen einen einfachen Spruch ab, wonach Sie die Lieferung an die ASCALUN übertragen. Von unseren Absichten dürften nur die Ketoniden wissen. Alle anderen sind ahnungslos, was wir bei Ianthe-3 vorhatten. Unserer üblichen Selbstsicherheit folgend, antwortet die ASCALUN, dass die Ware sicher an Bord ist. Und Sie kommen dann so schnell wie möglich zu mir.«

Rayol nickte, und er unterdrückte ein Lächeln. »Das ist ein guter Plan«, sagte er. Wenn die Ketoniden wirklich ihre Nachrichten auffingen und alles in die Waagschale warfen, mochten sie sich vielleicht dazu hinreißen lassen, die ASCALUN anzugreifen. Außerhalb ihres Einflussbereichs würden sie gegen ein so großes Schiff wie die ASCALUN vermutlich nicht bestehen. Dennoch fragte er: »Und wenn die ASCALUN nun angegriffen wird?«

»Dann wird sie sich verteidigen. Bringen Sie mir einfach Mesaidon. Unauffällig, schnell, ohne großes Aufsehen.«

»Jawohl, Sir!«

»Und wenn Sie bei mir sind, müssen wir über Ihre Zukunft reden«, sagte sie mit einem Lächeln und verschwand.

Rayol atmete durch. Er hatte es geschafft. Nur noch ein wenig, und er würde die wohlverdienten Lorbeeren erhalten, und Solsee würde hinterherlaufen, ohne ihm Vorwürfe machen zu können. Und Darae? Er würde sich nicht wundern, wenn sie ihm den Rücken stärkte, falls der Colonel über sein Vorgehen lamentierte.

Rayol dachte an Darae und den Augenblick, da sie das Glas gehoben und »Auf die Zukunft!« gesagt hatte. Nun wuchsen bereits neue Pläne, ehe die alten erfüllt waren. Darae ging ihm nicht aus dem Kopf. Und die Pläne, die ihm in den Sinn kamen, während er sich wieder auszog und zur Ruhe legte, waren Wunschträume – Fantasien, die sich kaum erfüllen ließen. Aber sollte sich je die Gelegenheit bieten, Darae für sich zu gewinnen, würde er sie ergreifen.

Darae schloss den roten Nachtmantel, den sie so liebte, und trat auf den Hauptgang hinaus. An der Seite von Fran, ihrer Vertrauten, ging sie hinüber zu Rayol, der mit den Wachen im Eingangsbereich wartete.

»Sie wollen uns bei Nacht und Nebel verlassen?«, fragte sie mit argloser Stimme. Sie wandte sich kurz zu Fran um und sagte: »Ich war überrascht, als ich das hörte.« Ihre Vertraute hatte ihr alles berichtet. Sie war die Einzige auf diesem Schiff, die beinahe all ihre Geheimnisse kannte. Sie wusste auch, dass sie bei den Gefangenen gewesen war, und hatte ihr den Rücken freigehalten. »Warum muss es denn so schnell gehen?«, fragte Darae.

»General Connelly hat mich zu sich gerufen«, sagte Rayol, und nichts anderes hatte Darae erwartet. »Sie findet, dass zu viel Zeit verstreicht, bis die Befehle des Colonels zu uns durchdringen.« Er erklärte knapp, was der General gesagt hatte, und Darae musste sich bemühen, ihre Zufriedenheit zu verbergen.

»Das ist wahrscheinlich das Beste«, sagte sie darauf. »Ich muss gestehen, dass ich so wichtige Gefangene ungern an Bord habe.«

»Tut mir leid, dass ich Sie wecken musste. Aber nur Sie können den Rücktransfer freigeben.«

Darae hob ihre Hand und schaute in deren Fläche. Auf dem Schirm, der sich ihrer Hand anpasste, erschien eine Darstellung der ASCALUN.

»Eine Chamäleon-Card?«, fragte Rayol.

Darae lächelte. Der Chamäleon-Computer war für das Tragen am Körper gedacht und passte sich den Strukturen an. Er fühlte sich beinahe wie ein dünner Handschuh an, und wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte, störte es nicht.

»Unfassbar!«, flüsterte Rayol, während sie das Zellenmodul freigab, in dem Chris und Valmas saßen.

»Früher ist fast jeder mit so etwas rumgelaufen«, erklärte sie.

»Ja, aber die Dinger sollen doch ohne KI nicht funktionieren.«

»Es sei denn, man verzichtet auf die KI und schafft es dennoch, ein Programm zu entwickeln, das die Anpassung an die Hand hält.« Sie spreizte die Finger, und der Schirm teilte sich mit einer kleinen Verzögerung in fünf Segmente, und als sie die Finger wieder zueinanderführte, setzten sie sich wie gehabt zu einem Schirm zusammen. »Ein bisschen langsam, aber immerhin.«

Rayol grinste. »Ich hatte vergessen, dass Sie eine Programmiererin waren.« Er hob das Handgelenk, um das sein Patch-Computer wie ein Armreif lag, und fuhr den Schirm hoch.

Darae schmunzelte. Die Armpatches waren beim Militär sehr beliebt. Die Bildschirmtechnik war der Schutzschildtechnik entsprungen, und mit Armpatches hatte man das eine mit dem anderen verbunden. Man konnte einerseits einen Bildschirm hochfahren und den Patch als normalen Computer benutzen, oder aber man stärkte den Schild, dann konnte er auch leichten Kugel- und Laserbeschuss abhalten. Manche Armpatches hatten sogar oben und unten einen Schildgenerator.

»Was ist denn?«, fragte Rayol.

»Einen Schildgenerator dazu zu nutzen, um Bildschirme zu erzeugen, ist eine der besten Erfindungen, die es je gab.«

Rayol stutzte. »Wer hat das denn erfunden?«

»Die KI Eleonore. Es war eine ihrer ersten Erfindungen.«

»Wusste ich gar nicht.«

Das wunderte Darae nicht. Kaum einer wusste noch irgendetwas. Wozu auch? Obwohl die KIs fort waren, ermöglichten die Reste der Technik, die sie zurückgelassen hatten, immer noch ein bequemes Leben. Beinahe alles, was sie hatten, waren Relikte früherer Zeiten.

Darae übertrug die Informationen. »Dieses Modul war es doch, oder?« Sie zeigte auf das einzige, das im Augenblick überhaupt besetzt war.

»Die Kennung stimmt«, antwortete Rayol.

So wollte sie ihn jedoch nicht davonkommen lassen. Er sollte sehen, dass Chris und Valmas sich noch in dem Modul befanden. Sonst würde sie in Verdacht geraten. »Würden Sie mir noch einen Wunsch erfüllen?«, fragte sie.

Rayol starrte sie nur an.

»Dürfte ich einen Blick auf die Gefangenen werfen?«

»Natürlich.«

Sie trat an Rayols Seite und schaute auf seinen Schirm.

Er wählte das Modul an. »Es ist bereits in Bewegung«, sagte er. Da erschienen die beiden Gefangenen auf dem Schirm. Sie standen am Bullauge und starrten hinaus.

»Ich glaube, die haben keine Ahnung, was sie erwartet«, sagte Rayol.

»Und der Junge soll wichtig für den ketonidischen Krieg sein?«, fragte Darae und schaute in gespieltem Zweifel in Rayols braune Augen.

»Sieht nicht nach viel aus, nicht wahr?«

»Ganz und gar nicht«, sagte sie, aber in Wirklichkeit fand sie Chris attraktiv. Er war ein Geheimnis, das sie lüften würde. Ihre Neugier hatte sie bereits auf eine Spur geführt. In der Wuchao Corporation gab es Datensätze über ihn, und sie würde diese unbemerkt an sich bringen. Wu-Corp war eigentlich für ihre Gründlichkeit bekannt. Darae wollte alles über diesen Mann wissen, der so alt wirkte wie sie. »Könnte es ein Irrtum sein?«, fragte sie.

»Nein, nein«, entgegnete Rayol. »Am Ende ist er wirklich nur ein Faustpfand.« Er tippte auf den Armpatch. Der Schild fuhr wieder ein und der Blick ins Modul mit ihm.

Rayol atmete tief durch und sagte schließlich: »Zeit für den Abschied, Frau Solsee.«

»Aber gewiss nicht für lange. Wenn wir Ihre Beförderung und die meines Mannes feiern, werde ich eine gute Gastgeberin sein.« Sie reichte ihm die Hand, und er nahm sie an und wich ihrem Blick aus.

Sie ließ ihn nicht los, sondern drückte seine Hand fester, während sie sprach. »Passen Sie auf sich auf! Man könnte Wind von Ihrem Fang bekommen. Lassen Sie sich die Gefangenen nicht unterwegs abjagen. Trauen Sie niemandem! Vor allem nicht seinen Rivalen!«

»Wie Colonel Heisinger?«

»Besonders nicht Colonel Heisinger!« Sie übertrieb. Heisinger hatte bei gleichem Rang wegen seiner Nähe zu General Connelly einen weit höheren Stand als Meljan.

»Ich danke Ihnen, Frau Solsee.«

»Nennen Sie mich Darae. Generals und ihre vordersten Colonels nennen sich oft beim Vornamen – und die Familien auch.«

»Sie sind etwas voreilig – Darae.«

»Nein, Rayol. Ich sehe den Lauf der Dinge.« Sie lächelte, und sie schämte sich nicht, Rayol Oredson – den Zerstörer von Ianthe-3 – an der Nase herumzuführen. Es war jetzt bereits ein Triumph. Dabei war noch nichts gewonnen, und alles Wichtige müsste erst noch geschehen. Sie war gespannt und bedauerte es, nicht dabei zu sein, wenn sich auf der MYKENAI das Chaos entfesselte.

Chrysaor

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