Читать книгу Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell - Страница 7
II
ОглавлениеEs ereignete sich in diesem Winter, dass George Fleury mit seiner Schwester nach Kalkutta kam und Louise Dunstaple zum ersten Mal erblickte. Man hoffte, aus ihrer Begegnung könne etwas werden, denn Fleury war nicht verheiratet und Louise, wenngleich gesellschaftlich nicht ganz ebenbürtig, stand nach allgemeinem Dafürhalten in der Blüte ihrer Schönheit … wahrlich, in ganz Kalkutta sprach man von ihr als von der Schönheit der kühlen Jahreszeit. Sie war sehr hold und bleich und ein wenig unnahbar; der eine oder andere hielt sie für »dumm«, wie es blonden Menschen manchmal so ergeht. Jedenfalls war sie unnahbar, zumindest in Fleurys Gegenwart, aber einmal, als er während eines Pferderennens einen Blick auf sie erhaschte, sah er sie keusch mit einigen jungen Offizieren flirten.
Dr. Dunstaple war zu dieser Zeit der zivile Wundarzt von Krishnapur. Doch irgendwie hatte er es eingerichtet, sich mit seiner Familie für die kühle Jahreszeit nach Kalkutta abzusetzen, während er Krishnapurs Zivilisten den süßen Gnaden von Dr. McNab überließ, der gerade den Posten des Regimentsarztes übernommen hatte und dafür bekannt war, einige der extremsten, alarmierend direkten Methoden der zivilisierten Medizin überhaupt zu vertreten.
Seinen Sohn Harry hatte der Doktor allerdings in Krishnapur zurückgelassen. Dank der Hilfe eines Freundes aus Fort William* war der junge Harry als Ensign bei einem der in Krishnapur (oder vielmehr in dem fünf Meilen entfernten Captainganj) stationierten Eingeborenenregimenter der Infanterie untergebracht worden, wo seine Eltern ihn im Auge behalten und aufpassen konnten, dass er sich nicht verschuldete. Harry, der inzwischen Leutnant war, blieb sogar recht gern zurück, als seine Familie, einschließlich der zwölfjährigen kleinen Fanny, fortging, um sich in Kalkutta zu vergnügen; als »Militär« neigte er dieser Tage dazu, mit Herablassung auf Zivilisten zu blicken, und Kalkutta war zweifelsohne voll von diesen Gesellen.
Umgekehrt war es Mrs. Dunstaple nicht unrecht, dass ihr Sohn in Krishnapur zurückblieb, auch wenn das bedeutete, ihn nicht an ihrer Seite zu haben. Harry war in einem empfindlichen Alter, und in Kalkutta wimmelte es von ehrgeizigen Müttern, die nur darauf aus waren, junge Offiziere wie Harry dem Charme ihrer Töchter auszusetzen. Ach, Mrs. Dunstaple wusste nur allzu gut, dass Indien voller junger Leutnants war, die ihre Karrieren gleich am Anfang durch desaströse Ehen ruiniert hatten. Doch diese Überlegung, was Harry betraf, hinderte sie nicht daran, auf Gelegenheiten zu hoffen, um Louises Charme geeigneten jungen Männern vorzuführen. Im Osten verfliegen die roten Wangen eines Mädchens so schnell, so unglaublich schnell (obwohl dies, streng genommen, auf Louise nicht zutraf, da ihre Schönheit von der blassen Sorte war).
Die Saison war außerordentlich erfolgreich gewesen, und nicht nur für Louise (die sich allerdings in Sachen Anträge als schwer zufriedenzustellen entpuppt hatte). Es hatte viele glänzende Bälle und ungewöhnlich zahlreiche Hochzeiten und andere Vergnügungen gegeben. Überdies war der Turf, in den letzten Jahren im Niedergang begriffen, wunderbar wiederaufgelebt. Natürlich sah man wohl beim Planters’ Handicap dieselben Tiere laufen wie beim Merchants’ Plate oder beim Bengal Club Cup, aber die Saison zeichnete sich durch bemerkenswerte Pferde aus, denn es war die Ära von Legerdemain, Mercury und der großen Stute Beeswing. Aber die kühle Jahreszeit neigte sich dem Ende zu, als Fleury und seine Schwester Miriam eintrafen, und in den Gesellschaftszimmern von Kalkutta sehnte man sich nach neuen Gesichtern wie den ihren (all die alten Gesichter waren mittlerweile so vertraut, dass man sie kaum noch sehen konnte). Im Übrigen war bekannt, dass ihr Vater ein Direktor der Company* war, mit allem, was das im Indien der Handelskompanie an gesellschaftlichem Ansehen bedeutete. Es ging auch das Gerücht, der junge Fleury sei kaum eine halbe Stunde in Indien gewesen, als Lord Canning* ihm schon eine Zigarre angeboten habe. Kein Wunder, dass die Nachricht von seiner Ankunft im Haus der Dunstaples in Alipore für einige Aufregung sorgte.
Ungeachtet der sehr unterschiedlichen Ränge, die sie jetzt in der Gesellschaft einnahmen, waren Dr. Dunstaple und Fleurys Vater vierzig Jahre zuvor miteinander in die Schule gegangen und tauschten, nach all dieser Zeit, immer noch ein oder zwei Mal im Jahr derbe kleine Briefe über Sportfreuden aus, wie Schuljungen. Der Doktor hatte guten Grund, sich über diese Freundschaft zu freuen, denn es war Sir Herbert Fleury zu danken, dass dem jungen Harry eine Kadettenstelle in Addiscombe, an der Militärschule der Ostindien-Kompanie, gewährt worden war; es lag bei den Direktoren, die Kadettenstellen zu vergeben.
Im Lauf ihres Briefwechsels hatte der ältere Fleury oft seinen Sohn, George, erwähnt, mitten unter den Sumpfhühnern, den Fasanen und den Füchsen … George studierte in Oxford und sollte zu gegebener Zeit vielleicht nach Indien kommen. Aber die Jahre vergingen, ohne ein Zeichen vom jungen Fleury. Auch in den Briefen seines Vaters wurde er nicht mehr erwähnt. Irgendeine häusliche Tragödie ahnend, hatte der Doktor seine Briefe taktvoll aufs Sauspießen und Ortolane beschränkt. Weitere zwei oder drei Jahre waren vergangen, und nun, plötzlich, als der Doktor es nicht mehr erwartete, war der junge Fleury wieder aufgetaucht unter den Füchsen. Wie es schien, kam er nach Indien, um das Grab seiner Mutter zu besuchen (zwanzig Jahre zuvor, während Sir Herbert persönlich in Indien weilte, war seine junge Frau gestorben und hatte ihn mit zwei kleinen Kindern zurückgelassen); gleichzeitig hatte das Direktorium ihn beauftragt, ein Büchlein abzufassen, in dem er beschreiben sollte, welche Fortschritte die Zivilisation unter der Herrschaft der Company in Indien gemacht hatte. Aber das waren nur die vorgeschobenen Gründe seines Besuchs … der wahre Grund, warum der junge Fleury nach Indien kam, war das Bedürfnis, seine jüngst verwitwete Schwester Miriam, deren Ehemann, Captain Lang, vor Sewastopol getötet worden war, ein wenig abzulenken.
Nun waren George Fleury und seine Schwester in Kalkutta eingetroffen, und Mrs. Dunstaple hatte gehört, dass er ziemlichen Eindruck machte. Sogar seine Kleidung, nach der allerneusten Mode, wie es hieß, war Stadtgespräch. Anscheinend hatte man ihn etwas tragen sehen, was definitiv die erste »Tweedside«-Loungingjacke war, die in der Präsidentschaft Bengalen in Erscheinung trat; dieses Kleidungsstück, waghalsig untailliert, hing gerade herunter wie ein Kartoffelsack und erregte den Neid jedes Beau auf der Chowringhee Road. Auf Geheiß seiner Frau setzte sich der Doktor unverzüglich hin und schrieb eine warmherzige Einladung an Fleury und Miriam, den Dunstaples bei einem Familienpicknick, das sie im Botanischen Garten einzunehmen planten, Gesellschaft zu leisten. Aber selbst als er den Brief versiegelte, kam Dr. Dunstaple nicht umhin, sich zu fragen, ob Fleury sich wirklich als das erweisen würde, was seine Frau erwartete. Tatsache war, dass Harry während seiner Zeit in Addiscombe einmal ein paar Tage bei den Fleurys auf dem Land gewesen war und seinem Vater später davon erzählt hatte. Im Lauf seines Aufenthalts hatte Harry den jungen George nur selten zu Gesicht bekommen, aber eines Abends, als er zu Bett ging, angenehm müde, nachdem er den ganzen Tag mit dem älteren Fleury auf der Jagd gewesen war, hatte er der schwirrenden, mondhellen Nacht sein Fenster geöffnet und, sehr schwach, die Klänge einer Geige gehört. Er war sicher, es müsse George gewesen sein. Am nächsten Morgen hatte er die besagte Geige, ein paar taufeuchte Notenblätter auf einem Musikpult sowie einen hohen, mittelalterlichen Kandelaber entdeckt … und das alles in einer »zerfallenen« Pagode am Ende des Rosengartens.
Dem Doktor kam dies wie ein Beweis der häuslichen Tragödie vor, die er für seinen Freund befürchtet hatte. Vielleicht war George verrückt? Jedenfalls schien es beunruhigend, dass er nicht mit Harry auf die Jagd gegangen war. Und dann, Geige spielen für die Eulen, die aus dem Sternenhimmel stoßen, nun ja, das schien auch nicht ganz normal.
Am nächsten Morgen spähten die Ladies diskret aus einem der oberen Fenster, als eine ziemlich verdreckte gharry* vor dem Haus der Dunstaples in Alipore hielt. Sogar Louise spähte hinaus, obwohl sie leugnete, an der Art von Kreatur, die da herauskommen mochte, auch nur im Geringsten interessiert zu sein. Wenn sie zufällig am Fenster stand, dann nur, weil Fanny auch dort stand und sie versuchte, Fannys Haar zu kämmen.
»O Liebes, lass dich nur nicht blicken, was würde er denn denken!«, stöhnte Mrs. Dunstaple. »Sei vorsichtig.« Aber sie selbst starrte begieriger hinaus als alle anderen.
»Da ist er!«, schrie Fanny, als ein ziemlich zerknittert aussehender junger Mann aus der gharry kletterte und sich benommen umsah. »Sieh doch, wie dick er ist!«
»Fanny!«, schalt Mrs. Dunstaple, allerdings etwas halbherzig, denn es stimmte, er sah ziemlich dick aus; aber seine Schwester sah schön aus, und ihre schlichte Eleganz ließ den Ladies kleine Seufzer entfahren.
Während die Frauen von ihrem ersten Blick auf Fleury ein wenig enttäuscht waren, war der Doktor eindeutig erfreut. Seine Befürchtungen hatten über Nacht zugenommen, sodass er sich nun, da Fleury sich als ein relativ normaler junger Mann erwies, darauf einstellte, dem Sohn seines Freundes mit vorsichtigem Optimismus zu begegnen. Doch im Nu wich die Vorsicht unverhohlener Befriedigung, und er fühlte sich so erleichtert und zuversichtlich, so dankbar, dass Fleury nicht das verweiblichte Individuum war, welches er erwartet hatte, dass er sogar begann, Fleury auf die männlichen Lustbarkeiten hinzuweisen, die er in Kalkutta finden könne … Junge Männer müssen sich die Hörner abstoßen, wie er sehr wohl aus seinen eigenen wilden Zeiten wusste … und er begann, die Vergnügungen der Stadt aufzuzählen: die Pferderennen, die Bälle, die schönen Frauen, die Tafelgesellschaften und guten Kameradschaften und anderes mehr. Er selbst, deutete er an, vergessend, dass Fleurys Schwester Witwe war, habe als junger Mann viele glückliche Stunden in der Gesellschaft lustiger junger Witwen und dergleichen verbracht.
»Aber nicht mit Eingeborenen«, fügte er mit gesenkter Stimme hinzu. »Die hab ich nie angerührt, nicht mal als junger Draufgänger.«
Bestürzt, den Freund seines Vaters in Person dieses jovialen Libertin zu finden, tat Fleury sein Bestes, um zu antworten, wünschte sich aber insgeheim, Miriam wäre dabei, um das Gespräch auf einem allgemeineren Niveau zu halten. Miriam jedoch wurde von den Ladies oben empfangen. Allem Anschein nach waren sie noch nicht fertig mit dem Ankleiden.
Der Doktor erklärte unterdessen, während sie im Gesellschaftszimmer auf und ab spazierten, leider würden er und seine Familie demnächst wieder nach Krishnapur abreisen … was allerdings, genau genommen, eher für die Ladies zum Verzweifeln sei als für ihn, weil die Jagdsaison fürs Sauspießen schon seit Februar lief und nur bis Juli dauerte … in der Tat sei das Beste schon vorbei, denn bald würde es zu heiß sein, um auch nur einen Finger zu heben. Abgesehen davon müsse er zurück, um das Kantonnement vor den Behandlungen eines neumodischen Arztes namens McNab zu bewahren, den sie der Militärgarnison von Captainganj unlängst aufgezwungen hätten. Seine Miene verdüsterte sich etwas beim Gedanken an McNab, und er begann, wie geistesabwesend mit den Fingern zu knacken. »Was Louise und ihre Anwärter betrifft«, fügte er vertraulich hinzu, vergessend, dass auch Fleurys Name genannt worden war, »wenn sie so schwer zufriedenzustellen ist, soll sie es eben nächstes Jahr nochmal versuchen.« Fleury geriet durch diese Information irgendwie in Verlegenheit, und um weitere Vertraulichkeiten zu vermeiden, erkundigte er sich, ob es in Kalkutta viele weiße Ameisen gebe.
»Weiße Ameisen?« Der Doktor erschrak einen Augenblick, in Erinnerung an die Geigen und die Eulen. »Nein, ich glaube nicht. Zumindest, nun ja, es mag wohl welche geben, irgendwo –«
»Ich habe eine Menge Bücher mitgebracht. Darum habe ich mich nur gefragt, ob ich Vorkehrungen treffen sollte, um sie zu schützen.«
»Oh, ich verstehe, was Sie meinen«, rief der Doktor erleichtert aus. »Ich glaube, darum brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. In Krishnapur, vielleicht, aber nicht hier.« Da hatte er sich einen solchen Schrecken eingejagt, wegen nichts und wieder nichts! Es hätte ihn kaum mehr durcheinanderbringen können, wenn Fleury ihn geradewegs nach gedünsteten weißen Ameisen in einer Pastete gefragt hätte! Was für ein alter Trottel er doch wurde, aber wirklich.
Jetzt endlich hörte man die Ladies herunterkommen, und der Doktor und Fleury bewegten sich auf die Tür zu, um sie zu begrüßen. Dabei streifte der Ärmel des Doktors eine Vase, die auf einem kleinen Tisch stand und am Boden zerschellte. Die Ladies traten unter Jammergeschrei und erregten Rufen über den Anblick der beiden Scherben auflesenden Gentlemen ein.
»Mein junger Freund«, sagte der Doktor tröstend zu Fleury. »Bitte, Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war ganz und gar nicht Ihre Schuld, und im Übrigen war es kein wertvolles Stück.« Er lächelte Fleury gütig an, der verdutzt zurückstarrte. Was zum Teufel meinte der Doktor? Natürlich war es nicht seine Schuld. Wie sollte es?
Dieses Unglück mit der Vase, also ja, das hätte nicht viel ausgemacht, erklärte Mrs. Dunstaple ziemlich steif, wenn es ihre gewesen wäre; nur unglücklicherweise gehöre sie den Leuten, die ihnen das Haus überlassen hätten. Aber nun, es helfe nichts, sich jetzt zu grämen.
»Es tut mir schrecklich leid«, murmelte Fleury wider Willen. Er war sich der Schönheit Louises, die nähergetreten war, um dieses bedauerliche Schauspiel zu beobachten, schmerzlich bewusst.
»Wirklich, Dobbin!«, sagte Miriam verärgert. »Du bist so ein Tollpatsch. Kannst du nicht aufpassen, was du tust?« Fleury errötete und blitzte seine Schwester an; er hatte ihr schon hundertmal gesagt, ihn nicht »Dobbin« zu nennen. Und dies war der denkbar schlechteste Moment, es zu vergessen, vor der hübschen, leicht verächtlich dastehenden Louise. Aber vielleicht war es Louise entgangen.
Das leicht missliche Gefühl, das sich mit Fleurys Tollpatschigkeit verband, verlor sich jedoch schnell in der Nachricht, Mr. Hopkins, der Collector von Krishnapur, und seine Frau Gemahlin hätten sich soeben angekündigt, um den Dunstaples ihre Aufwartung zu machen und Mrs. Hopkins zu erlauben, sich vor ihrer Abreise nach England von ihren lieben Freunden zu verabschieden. Gewissermaßen auf dem Fuße folgend erschien Mrs. Hopkins in Person, und beide, Fleury und Miriam, waren betroffen, wie gequält und vergrämt sie aussah. Sie schluchzte bereits, als sie vortrat, um Louise und Mrs. Dunstaple zu umarmen.
»Carrie, Liebste, du darfst dich nicht aufregen. Wenn du so weitermachst, muss ich dich hinausbringen.« Der Collector war seiner Frau auf so leisen Sohlen in das Gesellschaftszimmer gefolgt, dass Fleury bei diesen Worten, die ohne Vorwarnung an seiner Seite gesprochen wurden, zusammenfuhr. Als er sich umwandte, stand neben ihm ein Mann, der aussah wie eine massive Katze; ein Hauch Verbenaduft entströmte seinen eindrucksvollen Koteletten.
Mrs. Hopkins löste sich schwach von Mrs. Dunstaple, immer noch weinend, aber bemüht, ihre Augen zu trocknen. Ohne Rücksicht auf die Versuche des Doktors, seine Gäste einander vorzustellen, sagte sie zu Miriam: »Es tut mir leid, Sie müssen mir verzeihen … Ich bin so mit den Nerven herunter, wissen Sie, mein jüngstes Kind, ein Junge, starb erst vor sechs Monaten während der großen Hitze … und seitdem regt jede Kleinigkeit mich auf. Er war noch ein Baby, wissen Sie … und als wir ihn begruben, kam uns nichts anderes in den Sinn, als ihm eine Daguerrotypie von seinem Vater und mir in die winzigen Ärmchen zu legen. Einer der einheimischen Gentlemen hatte sie gemacht, eigentlich, um sie nach Hause, nach England zu schicken, aber dann befanden wir es für besser, sie dem Baby mit ein paar Rosen in den Sarg zu geben … Wissen Sie, Sie mögen mich für töricht halten, aber es macht mich genauso traurig, das Land mit seinem Grab zu verlassen, wie alle meine liebsten Freunde zu verlassen …«
Fleury hatte das Gefühl, dass Mrs. Hopkins wohl noch eine Weile auf diese Weise fortgefahren wäre, hätte der Collector nicht recht scharf gesagt: »Caroline, du darfst nicht daran denken, sonst geht es dir wieder schlecht. Ich glaube sicher, Mrs. Lang würde lieber etwas Fröhliches hören.«
»Im Gegenteil, Mrs. Hopkins hat mein tiefstes Mitgefühl … umso mehr, als ich selber erst kürzlich jemanden verloren habe, der mir sehr teuer war.«
Die Augenbrauen des Collectors zogen sich zusammen; er blickte mürrisch und missmutig drein, sagte aber weiter nichts.
Obwohl Fleury sich im Allgemeinen gern mit traurigen Dingen wie dem Herbst, dem Tod, Zerfall und unglücklichen Liebesgeschichten befasste, war er doch bestürzt über die morbide Wendung, die das Gespräch genommen hatte. Abgesehen davon, dass es genau das war, was er Miriam hatte ersparen wollen, indem er sie nach Indien brachte. Aber Mrs. Hopkins hatte sich wieder gefasst, und auch Mrs. Dunstaple hatte ihre Augen getrocknet, denn sie ließ sich leicht von den Tränen anderer anstecken, und allein der Gedanke an die Rötung ihrer Augen hatte sie davon abgehalten, sie ebenso reichlich zu vergießen wie ihre Freundin. Was Louise betrifft, so hatte sie sich zwar tränenreich umarmen lassen, aber sie war beherrschter als ihre Mutter, und ihre Augen waren nicht feucht geworden.
Wie dem auch sei, es blieb keine Zeit zum Weinen. Es gab jede Menge Neuigkeiten auszutauschen, denn die Dunstaples hatten Krishnapur im Oktober verlassen, und seither war viel passiert. Außerdem wollten sie so vieles wissen … Wie es dem Padre ging? Und dem Magistrate? Und ob Dr. McNab noch niemanden ins Jenseits befördert hatte? Umgekehrt musste Mrs. Dunstaple alles berichten, was in Kalkutta passiert war. Sie hätte gern die verschiedenen Freier, die Louise umworben hatten, im Einzelnen aufgeführt, aber sie tat es ungern in Fleurys Anwesenheit, damit er nicht den Mut verlor. Überdies neigte Louise zu schlechter Laune, wenn offen über ihre Anwärter geredet wurde. Doch während sich Fleury und Miriam mit dem Collector unterhielten, hatte Mrs. Dunstaple gerade Zeit genug, Mrs. Hopkins anzuvertrauen, dass es einen Anwärter gab, einen gewissen Leutnant Stapleton, Neffe eines Generals, der tatsächlich sehr vielversprechend schien.
Der Collector war nicht in guter Stimmung. Er fand Verabschiedungen bestenfalls grauenhaft, und er sorgte sich um seine Frau, die übermüdet war von der beschwerlichen langen Reise in einer dak gharry* von Krishnapur bis zur Endstation der Eisenbahn; aber er machte sich auch Sorgen darum, was während seiner Abwesenheit in Krishnapur geschehen mochte, denn seine Vorahnung einer nahenden Katastrophe verstärkte sich von Tag zu Tag. Hinzu kam, dass er sich von Miriam, die ihm offenbar einen Mangel an Gefühlen hatte vorwerfen wollen, missbraucht fühlte. »Sie kann nicht wissen, wie ich unter dem Tod des Babys gelitten habe! Und wie hätte ich wissen sollen, dass sie auf der Krim einen Ehemann verloren hat?« (Der Doktor hatte es ihm zugeflüstert.) … »Wie sieht es einer Frau doch ähnlich, sich so unredlich einen Vorteil zu verschaffen, den toten Ehemann herbeizuzerren, um einen ins Unrecht zu setzen!« Der Collector fuhr sich gegen den Strich über seine Koteletten und setzte erneut eine Wolke Zitronenverbena frei. »Wie war noch dieser Satz von Tennyson? ›… das sanfte und milchige Weibsgezücht …!‹«
Aber der Collector bewunderte schöne Frauen und konnte ihnen nicht lange böse sein. Wenn sie schön waren, entdeckte er rasch andere Tugenden in ihnen, die er nicht bemerkt hätte, wenn sie hässlich gewesen wären. Bald begann er, Miriam vernünftig und reif zu finden, was nur bedeutete, dass er ihre grauen Augen und ihr Lächeln mochte. »Sie hat ihren eigenen Kopf«, beschloss er. »Warum können nicht alle Frauen Witwen sein?«
Fleury und Miriam saßen den älteren Dunstaples in der Kutsche gegenüber, neben der kleinen Fanny. Ihr Raum war begrenzt, da die aufgeblähten Krinolinen der Ladies aneinanderstießen und einem Gentleman sehr wenig Platz ließen, mit Anstand seine Beine auszustrecken. Sogar Fannys schlanke Beine verloren sich in Bergen schneeweißer, stufiger Petticoats*. »Wie wohltuend, nach diesen endlosen fünf Monaten auf See wieder an Land zu sein! Wie man die Bäume, die Felder, das grüne Gras vermisst! Aber natürlich haben Sie, Miss Dunstaple, diese Wasserprobe schon selber durchgemacht, und ich rede daher, als wäre ich der Einzige, der je von England herübergekommen ist.«
Fleury hatte dies als den Anfang einer angenehmen Unterhaltung betrachtet, aber irgendwie kamen seine Worte nicht gut an. Louises Lippen bewegten sich kaum zu einer Antwort, und ihre Mutter sah geradezu entrüstet aus. Hatte er einen Fauxpas begangen? Es konnte doch sicher nicht sein, dass Louise »im Land geboren« und daher nie in England gewesen war, was, wie er gehört hatte, von der indischen Gesellschaft sehr verachtet wurde. Aber ach, ebendas schien der Fall zu sein.
Die Kutsche hatte ihr Tempo verlangsamt, um einen dicht bevölkerten Basar zu durchqueren. Fleury starrte hinaus in ein Meer brauner Gesichter, schamerfüllt ob seines Patzers. Ein paar Zoll entfernt saßen zwei Männer, die Beine überkreuz, in einem Schrank, einer mit schmutzigem Wasser den Schädel des anderen rasierend. Ein Käfig voll winziger zitternder Vögel mit schwarzen Federn und roten Schnäbeln kroch vorbei. Für Fleury war Indien eine Mischung aus Exotik und äußerster Langeweile, die er, ein Verehrer Chateaubriands, unwiderstehlich fand. Jetzt gab es Geschrei. Sie hatten das ghat* erreicht.
Das Boot, das der Doktor angeheuert hatte, erwies sich in der Tat als eine sehr zweifelhafte Aussicht; ein Haufen undichter, fauliger Hölzer, grob länglich und bemannt mit dravidischen Halsabschneidern. Aber egal, es war nicht weit über den Hoogly; jenseits des Wassers waren die hoch aufragenden Bäume des Botanischen Gartens zu sehen.
»Seht nur, da ist Nigel!«, schrie Louise genau in dem Moment, als sie einstiegen, und klatschte freudig in die Hände. Man sah eine scharlachrote Uniform bald hier, bald dort durch den weißen Musselin der Menge schimmern, und nun sprengte ein junger Offizier zu Pferde mit einem barfuss nebenherrennenden Stallknecht zum ghat hinauf. Er stieg hastig ab, überließ es dem sais*, das Pferd zu bändigen, und kletterte aufs Boot, während er atemlos sagte: »Tut mir schrecklich leid, die Verspätung!«
Mrs. Dunstaple begrüßte ihn etwas unterkühlt. Offensichtlich hatte Louise ihr nichts von ihrer Absicht gesagt, Leutnant Stapleton einzuladen, und Mrs. Dunstaple war nicht sehr begeistert, ihn zu sehen. Aus dem Augenwinkel beobachtete Fleury, wie sie ihrer Tochter grollte und heimlich in seine Richtung nickte. Plötzlich erinnerte er sich daran, was der Doktor über Louise und ihre Anwärter gesagt hatte. Das war es also! Mrs. Dunstaple fürchtete, dass einer der geeigneten jungen Männer durch die Anwesenheit des anderen entmutigt werden könnte. Es schmerzte Fleury, Louise flüchtig in seine Richtung blicken, dann ihren Kopf zurückwerfen und wegschauen zu sehen, wie um zu sagen: »Was kümmert es mich, ob er entmutigt ist oder nicht?« Obgleich entmutigt, starrte Fleury auf den Fluss und gab vor, den Anblick zu bewundern. Leutnant Stapleton, der offenbar erwartet hatte, der einzige Vertreter der männlichen Jugend auf diesem Ausflug zu sein, wirkte seinerseits ziemlich verblüfft; als die beiden jungen Männer einander vorgestellt wurden, murmelte er nur lustlos und schielte mit missgünstigem Neid auf Fleurys zerknautschte, aber gut geschnittene Kleidung.
Kaum hatten sie das schlammige Ufer auf der anderen Seite erreicht, erhob sich ein Tumult; die Ladies entdeckten, dass die Saumränder ihrer Kleider einiges an Bilgewasser aufgesogen hatten. Unter viel Jammern und Klagen zogen sie sich mit einem Dienstmädchen zum Auswringen auf eine Lichtung in angemessener Entfernung zurück. Als sie endlich wiederkamen, zog die Gesellschaft los, einen Haufen grinsender Diener im Gefolge. Der botanische Garten stellte wenig Blumen, aber viele gewaltige Bäume und Sträucher zur Schau. Ihr Weg führte an dem Riesenbanyan vorbei, und beim Anblick seiner zahlreichen Stämme, die sich über das Geäst zu einer Reihe spektakulärer gotischer Bögen verbanden, war Fleury von Ehrfurcht erfüllt. Er hatte noch nie einen Banyanbaum gesehen.
»Das ist wie eine verfallene Kirche, geschaffen von der Natur!«, rief er aufgeregt; aber die Dunstaples ließen jede Reaktion auf diese Erkenntnis vermissen, und während alle damit beschäftigt waren, einen günstigen Platz für ihr Picknick zu finden, glaubte er Louise und Leutnant Stapleton ein verstohlenes Lächeln austauschen zu sehen.
Von Zeit zu Zeit, derweilen sie zwischen den Bäumen weitergingen, kamen sie an grüne Lichtungen, wo junge Offiziere schon mit ihren Ladies picknickten; doch als sie schließlich eine unbesetzte Lichtung fanden, erklärte Mrs. Dunstaple, dort sei es zu sonnig. Auf der nächsten Lichtung war eine weitere Gesellschaft junger Offiziere, die mit Geschöpfen, welche der Doktor eindeutig für lustige junge Witwen hielt, Moselle Cup tranken. Fleury sah, wie sehnsüchtig die Blicke des Doktors an ihnen hingen, als er sich mit seiner eigenen Gesellschaft zum Weitergehen anschickte … aber die jungen Offiziere riefen ihn herbei, fragten lachend, ob er sie nicht erkenne? Und es stellte sich heraus, dass sie nicht nur flüchtige Bekannte, sondern beste Freunde waren, denn diese jungen Männer waren normalerweise in Captainganj stationiert; sie waren an der Waffenschule von Barrackpur gewesen, zur Ausbildung an den neuartigen Enfield Gewehren, derentwegen die Sepoys so entrüstet waren, und hatten die Gelegenheit genutzt, in Kalkutta ein bisschen Zivilisation zu genießen, sodass sie natürlich entzückt waren, ausgerechnet Dr. und Mrs. Dunstaple zu treffen, und natürlich Miss Louise, und was war eigentlich mit diesem jungen Lumpenhund Leutnant Harry Dunstaple, der hoch und heilig versprochen hatte, er würde ihnen schreiben, und keinen Federstrich zu Papier brachte? Sie würden sich den Bengel vorknöpfen, wenn sie in ein paar Tagen nach Krishnapur zurückkehrten … und nichts käme ihnen mehr gelegen, als dass die Schar der Dunstaples sich zu ihnen gesellte.
Ihre Ladies, stellte sich heraus, waren mitnichten lustige junge Witwen, sondern Mädchen von der achtbarsten Sorte, Schwestern des einen oder anderen Offiziers; so fand alles mit höchstem Anstand statt.
Die Offiziere hatten schon mehrere stürmische Angriffe auf ihren Picknickkorb verübt, einen umfunktionierten Wäschekorb, der nichts anderes zu enthalten schien als Moselle Cup in den unterschiedlichsten Flaschen und Gefäßen. Die Dunstaples brachten etliche Körbe mit, von denen mehr als einer das stolze Abzeichen von Wilsons »Hall of all Nations« (bestellter Lieferant des Rt Honourable Viscount Canning) trug, denn der Doktor glaubte offenbar an die ordentlich gemachten Dinge. Die jungen Männer konnten sich kaum zurückhalten, als die Träger der Dunstaples vor ihren Augen einen echten Yorker Schinken, zart und rosig wie Klein Fannys Wangen, Austern, eingelegtes Gemüse, Lammpasteten, Cheddar-Käse, Ochsenzungen, kalte Hühnchen, Schokolade, kandierte und kristallisierte Früchte und Biskuits aller Art aus dem besten frischen Kap-Getreide auspackten: Abernethy’s Kekse, Tops & Bottoms, Pfeffernüsse und was man sich an köstlichem Gebäck nur vorstellen konnte.
Mit den Händen an seine Rockschöße klopfend, beobachtete der Doktor die Träger bei der Arbeit, ganz so, als hätte er das Interesse der jungen Männer nicht bemerkt, und wartete bis zum letzten Moment, ehe er mit scheinbarer Zurückhaltung erklärte: »Ich bin sicher, ihr jungen Leute werdet wohl kaum Lust auf Essen haben, aber wenn ihr möchtet …«, woraufhin ein gewaltiges Hurra ausbrach, das Mrs. Dunstaple veranlasste, sich umzublicken, ob sie nicht zu viel Aufmerksamkeit erregten, doch von den Waldwiesen ringsum hallten ähnlich fröhliche Geräusche wider; nur ein paar zerlumpt aussehende Eingeborene, die aufgetaucht waren, saßen am Rand der Lichtung auf ihren Fersen und starrten die weißen Sahibs an.
Im Gegenzug bestanden die jungen Offiziere darauf, dass alle ihren Moselle tranken, von dem sie reichlichen Vorrat hatten; in der Tat genug, um sich und ihre Ladies mehrfach in Bewusstlosigkeit zu versetzen. Bald herrschte allgemeine Heiterkeit.
Was Louise anbelangt, so sah sie ziemlich ätherisch aus im gesprenkelten Licht von Sonne und Schatten, doch es machte Fleury traurig, sie von Völlerei und Gelächter umgeben zu sehen; sie hielt einen am unteren Ende in eine Serviette gewickelten Entenschenkel hoch, aber nicht, um selbst daran zu knabbern, sondern um ihn in übertriebener und komischer Manier von den mit wüsten Schnauzbarthaaren bedeckten Lippen und gelblichen Zähnen eines der Offiziere abfressen zu lassen, seines Namens Leutnant Cutter, der, wie es schien, einer ihrer besonderen Vorjahreslieblinge in Krishnapur gewesen war. Und nicht genug damit, dass alle sich vor Lachen über sein Benehmen nicht mehr halten konnten, wurde Leutnant Cutter komischer denn je, warf den Kopf zurück und heulte zwischen seinen Bissen wie ein Wolf.
Unterdessen wandte sich der Doktor an Captain Hudson, um etwas zu fragen, was ihm seit einigen Tagen nicht aus dem Sinn ging, nämlich: Was eigentlich dran sei an dem Gerede über Schwierigkeiten mit den Sepoys, die es im Januar in Barrackpur gegeben habe? Ob er und die anderen Offiziere zu dieser Zeit dort gewesen seien?
»Nein, als wir hinkamen, hatte sich das alles schon gelegt. Aber was Größeres war das sowieso nicht … ein oder zwei Feuer in den Linien der Eingeborenentruppen und ein paar Gerüchte über Verunreinigung durch die neuen Patronen. General Hearsey ist sehr geschickt mit der Sache umgegangen, obwohl manche meinten, er hätte strenger durchgreifen sollen.«
Hier rief Mrs. Dunstaple gereizt dazwischen, sie wolle eine Erklärung, denn niemand würde ihr je solche Dinge wie Verunreinigung oder Patronen erklären; wen interessiere es schon, wenn sie so dumm bliebe wie ein Dienstmädchen, und sie lächelte, um anzudeuten, dass sie es eher kokett als böse meinte. Also begann Hudson freundlich zu erklären. »Wie Sie wissen, laden wir ein Gewehr, indem wir ein Maß Schießpulver durch den Lauf in die Ladekammer schütten und obendrauf eine Kugel hineinstopfen. Nun, das abgemessene Pulver wird in kleinen Papierhülsen geliefert, die wir Patronen nennen … um an das Pulver zu kommen, muss das Ende der Hülse abgerissen werden, und beim Truppendrill bringen wir den Männern bei, dies mit den Zähnen zu tun.«
»Und dadurch fühlen sich die Eingeborenen verunreinigt … ach du lieber Himmel!«
»Nein, nicht dadurch, Mrs. Dunstaple, sondern durch das Fett an den Patronen … das ist natürlich nur an den Kugelpatronen … das heißt, an solchen mit einer Kugel drin. Man entleert das Pulver in den Lauf, und dann, statt das Papier wegzuwerfen, schiebt man den Rest der Patrone nach. Aber weil sie so knapp ins Rohr passt, muss sie eingefettet sein, sonst bleibt die Kugel stecken. Bei den neuen Enfield Gewehren, die Nuten im Lauf haben, würden Kugelpatronen mit Sicherheit steckenbleiben, wenn sie nicht eingefettet wären.«
»Du meine Güte, dann war es also das Fett!«
»Sicher doch, ebendas hat Jack Sepoy ja so beunruhigt! Irgendwie kam er auf die Idee, das Fett stamme von Schweineoder Rindertalg, und es durfte seine Lippen nicht berühren, weil das gegen seine Religion verstößt. Das war der Grund für die Unruhen in Barrackpur. Aber inzwischen hat Major Bontein vorgeschlagen, den Drill zu ändern … in Zukunft soll das Ende, statt es abzubeißen, einfach abgerissen werden. Dann brauchen sich die Sepoys keine Sorgen mehr zu machen, woraus das Fett besteht. Wie es aussieht, riecht das Zeug ekelhaft genug, um eine Epidemie auszulösen, gar nicht zu reden von einer Meuterei.«
Hudson fügte hinzu, am 27. Februar habe es noch anderen Ärger gegeben, diesmal in Berhampur, hundert Meilen weiter nördlich, wo sich das 19. Eingeborenenregiment der bengalischen Infanterie geweigert hatte, vor einer Parade die Zündhütchen entgegenzunehmen. Die Abwesenheit jedes europäischen Regiments hatte es unmöglich gemacht, diesem Akt der Meuterei auf der Stelle entgegenzutreten … Jetzt befinde sich das aufrührerische Regiment auf dem langsamen Marsch nach Barrackpur, wo es aufgelöst werden solle. Aber es gebe keinen Grund zur Beunruhigung, und im Übrigen wurden nun, da alle mit dem Essen fertig waren, Rufe nach einem Blinde-Kuh-Spiel laut.
Alles rief, das sei eine glänzende Idee, und im Nu hatten die Träger die Körbe beseitigt (ehe sie selbst beseitigt wurden), und das Spiel konnte beginnen. Einer der Ladies, einem pummligen Mädchen, das vom vielen Lachen schon ziemlich erhitzt war, wurde, wie es sich gehört, ein Tuch vor die Augen gebunden, und nun wurde es dreimal herumgedreht, während die anderen einen Reim sangen, den einer der Offiziere, der zum Zeitvertreib gern die Eingeborenen studierte, von den eingeborenen Kindern gelernt hatte:
Rosen Attar, Senfes Öl,
Die Katzen schrei’n, der Topf kocht fein,
Schau und flieg! Sonst hascht dich
Des Rajas* Dieb!
Damit stoben alle davon, und die junge Lady stolperte kreischend vor Lachen umher, bis sich ihr Bruder, der fürchtete, sie würde noch hysterisch, schließlich fangen ließ.
Dieser Bruder war kein anderer als Leutnant Cutter, fürwahr ein sehr amüsanter Bursche. Während er hier- und dorthin stürzte, machte er die ganze Zeit grobe, beängstigende Bemerkungen in dem Sinne, er sei ein großer Bär, und wenn er irgendein hübsches Mädel finge, würde er es ganz fürchterlich umarmen … und die Ladies waren so erschreckt und entzückt, dass sie sich, ob sie wollten oder nicht, durch ihr Kreischen ständig verrieten und immer erst im letzten Moment entwischten.
Aber bald wurde klar, dass Leutnant Cutters Umherstolpern etwas recht Merkwürdiges an sich hatte. Wie kam es, dass er, weit davon entfernt, wahllos durch die Gegend zu stolpern, wie man es von einem Mann mit verbunden Augen erwartet hätte, ein ums andere Mal mit seinen beängstigenden Sprüngen an den Offizierskameraden vorbei in Richtung einer Gruppe Ladies galoppierte? Vielleicht nur, weil er sie durch ihr Gekreische orten konnte. Aber wie kam es, dass er so oft auf die Hübscheste von allen zuhielt, nämlich auf Louise Dunstaple, und das arme, atemlos jammernde Geschöpf am Ende fing, um es, wie angedroht, fürchterlich bärenhaft zu umarmen? (Und wie kam es, fragte sich Fleury, dass er sich an diesem unschuldigen Spiel so tierisch wild berauschte?) Leutnant Cutter, der Schurke, hatte sie hereingelegt. Irgendwie war es ihm gelungen, einen kleinen Schlitz in den Falten des seidenen Tuchs vor seinen Augen zu öffnen, und er hatte die ganze Blindheit nur vorgetäuscht!
So ging es weiter mit den Belustigungen. Was für einen wunderbaren Tag sie alle verbrachten … sogar die zerlumpten Eingeborenen, die es vom Rand der Lichtung aus mit ansahen, dürften das Schauspiel genossen haben … und wie herrlich das Wetter war! Der indische Winter ist das perfekte Klima, sonnig und kühl. Erst später am Nachmittag fiel Fleury wieder ein, dass er Captain Hudson, der ein intelligenter Mann zu sein schien, hatte fragen wollen, ob er glaube, dass mit weiteren Unruhen zu rechnen sei … Denn natürlich wäre es töricht für ihn und Miriam, die Dunstaples wie beabsichtigt in Krishnapur zu besuchen, wenn ein Aufruhr im Land umging.
Der Collector hatte sich gewundert, als er von der Meuterei am 19. in Berhampur erfuhr, dass diese Entwicklung in offiziellen Kreisen keinen Alarm auslöste. Später hörte er, General Hearsey sei genötigt gewesen, sich mit einer Rede an die Sepoys in Barrackpur zu wenden, um ihnen zu versichern, niemand habe die Absicht, sie zwangsweise zum Christentum zu bekehren, wie sie vermuteten. Die Engländer, hatte Hearsey ihnen erklärt, seien »Christen der Heiligen Schrift«, was bedeute, dass niemand Christ werden könne, der nicht zuerst die Heilige Schrift gelesen und verstanden und sich freiwillig entschieden habe, Christ zu werden. In Kalkutta glaubte man, diese Rede, die den Sepoys in ihrer eigenen Sprache, in einem kräftigen, männlichen Ton von einem Offizier gehalten worden war, dem sie vertrauten, habe eine heilsame Wirkung gehabt. Der Collector war unterdessen zu einem schmerzhaften Entschluss gelangt. Trotz seiner Besorgnis, nach der Abreise seiner Frau unverzüglich nach Krishnapur zurückzukehren, hielt er es für seine Pflicht, ein paar Tage länger in Kalkutta zu bleiben, um die Leute vor der Gefahr zu warnen, derer er selbst zum ersten Mal durch jene ominösen Chapatis auf seinem Schreibtisch innegeworden war.
Fleury war dem Collector nur bei einer einzigen Gelegenheit begegnet und hatte zu diesem Zeitpunkt unglücklicherweise nicht begriffen, dass er jemandem begegnete, der bald ein interessantes Gesprächsthema für verzweifelnde Gesellschaftszimmer abgeben würde. In den zwei Jahren, die der Collector am Anfang des Jahrzehnts in England verbracht hatte, war er ein aktives Mitglied zahlreicher Gremien und Gesellschaften gewesen: des Magdalen Hospital zur Rückführung von Prostituierten beispielsweise, oder der aristokratischen Mendicity Society zur Unterstützung von Bettlern, ganz zu schweigen von allen möglichen literarischen, zoologischen, antiquarischen und statistischen Gesellschaften. Das war natürlich ganz so, wie es sein sollte; jeder hätte mit seinen privaten Mitteln das Gleiche getan. Aber Hopkins war weiter gegangen. Nicht nur, dass er voller Ideen über Hygiene, Fruchtwechsel und Entwässerung nach Indien zurückgekehrt war, sondern er hatte in dem Glauben, das Gleiche zu tun, was die Römer einst in Britannien getan hatten, einen substanziellen Teil seines Vermögens darauf verwendet, Beispiele europäischer Kunst und Wissenschaft ins ferne Indien zu bringen. Diejenigen, die es gesehen hatten, sagten, die Residenz in Krishnapur sei voller Statuen, Gemälde und Maschinen. Vielleicht konnte man nichts anderes erwarten, als dass diese Bemühungen des Collectors, den Eingeborenen die Zivilisation zu bringen, in Kalkutta verspottet wurden; aber jetzt war er, fast ebenso unterhaltsam, in der Rolle des Unkenrufers wieder da.
Binnen kürzester Zeit wurde er, ständig durch Kalkutta eilend, um bei diversen Würdenträgern vorzusprechen, eine stadtbekannte Figur. Wer auch immer ihn zufällig die Chowringhee entlangschreiten sah, sagte zu sich selbst: »Da geht Hopkins. Fragt sich nur, wen er diesmal warnen will.« Seine Vorhersage des kommenden Unheils, die, wie die Leute sagten, größtenteils darauf beruhte, dass er die gefundenen Chapatis tatsächlich gegessen hatte, war bald eine sprudelnde Quelle der Belustigung. Fleury gehörte zu denen, die sein Treiben mit Erstaunen und Genuss verfolgten. In Regierungskreisen kam es sogar in Mode, vom Collector aufgesucht zu werden, und nicht selten unterhielt ein Gastgeber seine Tafelgesellschaft mit Erzählungen, wie der Collector diesen oder jenen in ein Gespräch verwickelt hatte, um die Katastrophe zu prophezeien. Und wenn er einen besuchte, stürzte er sich in wirre Reden über die Notwendigkeit, den Eingeborenen die Zivilisation näherzubringen oder etwas Ähnliches, gemischt mit den üblichen düsteren Vorhersagen. Doch während die Tage vergingen und die Leute in Kalkutta ihn weiter hierhin und dorthin fahren oder mit einsamer Würde über die nicht mehr sehr grüne Fläche des Maidan* stolzieren, wenn nicht gar tief in Gedanken versunken am Fluss stehen sahen, ungefähr an der Stelle, wo heute die große Howrah Bridge drohend über dem Wasser schwebt, kam die Zeit, da sie ihn kaum noch bemerkten.
Allmählich, als das Wetter heißer und die Liste jener Würdenträger, die ohne Warnung zu lassen er offensichtlich für unklug hielt, nicht kürzer wurde, begann der Collector eine heruntergekommene Erscheinung anzunehmen, obwohl sein Hemd immer noch genauso weiß und sein Cut genauso sorgfältig gebügelt war. Dann, im April, ging eine andere Geschichte über den Collector um, wenngleich es ein Geheimnis blieb, woher sie stammte. Es wurde gesagt, dass er, auch wenn man ihn noch kreuz und quer durch die Stadt ziehen sah, niemanden mehr besuche. In den ersten Tagen nach der Abreise seiner Frau hatte jeder, den Fleury traf, wenn nicht persönlich Besuch bekommen, so doch zumindest einen Freund oder einen Freund eines Freundes, der von dem Collector besucht worden war, »um ihn auf die ernstzunehmende Unruhe unter den Eingeborenen hinzuweisen«. Doch jetzt, wenn man in irgendeinem der Gesellschaftszimmer fragte, in denen man verkehrte, gab es jede Menge Leute, die den Collector auf der Straße gesehen hatten, aber niemand hatte gehört, dass er irgendwo an ein Ziel gelangt wäre.
Außerdem wurde der Collector jetzt, da die Sonne während der Mittagszeit vom Himmel brannte, oft am Straßenrand im Schatten eines Baumes gesehen (auch Sie hätten ihn dort stehen sehen, wenn Sie damals in Kalkutta gewesen wären), gedankenverloren stand er da (über eine Möglichkeit nachdenkend, kicherten die Leute, die Zivilisation mit der Eisenbahn ins Mofussil* zu bringen, um die Eingeborenen zu beruhigen), wie ein Mann, der auf das Ende eines Regenschauers wartete, obwohl natürlich keine Wolke in Sicht war. Aber welche Gründe auch immer zu den langen Pausen unter Bäumen führten, sie nährten mit Sicherheit den Glauben, der Collector habe seine warnenden Besuche aufgegeben. Nur warum er in diesem Fall nicht einfach zu Hause blieb, konnte keiner erklären.
Selbstverständlich gab es eine andere Erklärung, die niemand vermutete. Jetzt, da es nicht mehr der neuste Schrei war, vom Collector besucht und gewarnt zu werden (inzwischen fand man es in der Tat eher lächerlich, denn wenn er mit seinem Besuch so lange gewartet hatte, rangierte man offensichtlich nicht sehr weit oben auf seiner Liste einflussreicher Personen), wurde er zweifelsohne von vielen, die er besuchen wollte, mit der Ausrede abgewiesen, sie seien zu beschäftigt.
Und dann, eines Tages, ziemlich plötzlich, war er verschwunden. Offenbar hatte er beschlossen, Kalkutta seiner Unwissenheit zu überlassen, und war nach Krishnapur zurückgekehrt, um seinen Pflichten nachzugehen. Eine Zeitlang hörte man nichts mehr von ihm.
Der Friedhof, auf dem Fleurys Mutter begraben lag, ist in Kalkutta immer noch zu sehen, an der Park Street, nicht weit vom Maidan entfernt. Heutzutage ist es ein erstaunlicher, einsamer Ort, verwahrlost und verwildert. Viele der erhabensten viktorianischen Grabsteine stehen schief, andere sind umgefallen oder wurden absichtlich zertrümmert. Sehr oft sind auch die Bleibuchstaben aus den Inschriften geklaubt worden, eine kleine, den Toten von den Lebenden auferlegte Steuer. Nahe dem Tor drängen sich ein paar arme Familien unbehaglich in Hütten, die sie aus Stöcken und Lumpen errichtet haben; kein Wunder, dass sie sich so unwohl fühlen, denn sogar für einen Christen herrscht hier eine unheilvolle Atmosphäre.
Zu Fleurys Zeiten jedoch war das Gras geschnitten und die Gräber waren gut gepflegt. Abgesehen davon war er, wie man es erwarten mag, ein Liebhaber von Friedhöfen; er liebte es, dort zu sinnieren und seinen Herzensregungen zu lauschen, indem er die abgekürzten Biographien auf sich wirken ließ, die er in die Steine eingemeißelt fand … so beredt, so bündig! Gleichwohl, nachdem er ein oder zwei Stunden am Grab seiner Mutter gegrübelt hatte, beschloss er, es genug sein zu lassen, denn schließlich will man das Herumschleichen auf Friedhöfen ja auch nicht übertreiben.
Der Entschluss war kein sehr plötzlicher. Seit dem Alter von sechzehn Jahren, als er erstmals begann, sich für Bücher zu interessieren, hatte er, sehr zur Betrübnis seines Vaters, körperliche und sportliche Dinge gering geschätzt. Er war von einer melancholischen und lustlosen Gemütsverfassung gewesen, ein Opfer der Schönheit und Traurigkeit der Welt. Im Lauf der letzten zwei oder drei Jahre jedoch hatte er bemerkt, dass seine düstere und schwindsüchtige Art nicht mehr ganz so wirkte, wie sie einmal gewirkt hatte, insbesondere auf junge Ladies. Sie fanden seine Blässe nicht mehr so interessant, sie wurden ungeduldig mit seiner Melancholie. Die Wirkung, oder die verfehlte Wirkung, die man auf das andere Geschlecht ausübt, ist insofern wichtig, als sie einem verrät, ob man in Fühlung mit dem Zeitgeist steht, dessen Hüter unveränderlich das andere Geschlecht ist. Um die Wahrheit zu sagen, war die Welle der Empfindsamkeit für das Schöne, für Sanftmut und Melancholie allmählich abgeflaut und hatte Fleury zappelnd auf einer Sandbank zurückgelassen. Dieser Tage waren junge Ladies mehr an den Vorzügen von Tennysons »großem, breitschultrigem, leutseligem Engländer« denn an bleichen Dichtern interessiert, dämmerte es Fleury. Louise Dunstaples Vorliebe, mit lustigen Offizieren herumzutollen, die ihn am Tag des Picknicks bestürzt hatte, war keineswegs die erste Abfuhr dieser Art gewesen. Sogar Miriam fragte ihn manchmal laut, warum er so »hündisch« blicke, wo sie einst geschwiegen und »seelenvoll« gedacht hätte.
Trotzdem, man ändert seinen Charakter nicht über Nacht, nur um ihn der Mode anzupassen, auch nicht, wenn man will. Manche eigensinnige Menschen in Fleurys Dilemma bleiben lieber so, wie sie angefangen haben, und geben sich damit zufrieden, ihre Epoche als philisterhaft oder verweiblicht oder was auch immer sie selbst nicht sind zu betrachten. Ein wirkliches Problem wird es erst, wenn man sich verliebt, wie Fleury, und attraktiv sein will.
Einen oder zwei Tage lang wurde Fleury ziemlich aktiv. Er musste sein Buch über den Fortschritt der Zivilisation in Indien voranbringen, und das war auch ein Grund, warum er Interesse am Verhalten des Collectors entwickelte. Er stellte viele Fragen und kaufte sich sogar ein Notizbuch, um einschlägige Informationen festzuhalten.
»Wenn die indischen Völker unter Ihrer Herrschaft glücklicher sind«, fragte er einen Beamten der Schatzkammer, »warum bleiben sie dann in einheimischen Staaten wie Hyderabad, die so miserabel regiert werden, und wandern nicht aus, um hierherzukommen und in Britisch-Indien zu leben?«
»Die Apathie des Eingeborenen ist allgemein bekannt«, erwiderte der Beamte steif. »Er ist nicht unternehmerisch.« Fleury schrieb »Apathie« in schnörkeliger Handschrift nieder, und dann, nach kurzem Zögern, fügte er »nicht unternehmerisch« hinzu. Unglücklicherweise überlebte dieser Energieausbruch die bleiernen Fakten nicht, die ihm genannt wurden, um die segensreichen Wirkungen der Company zu illustrieren. Als er von den spektakulären Steigerungen der Zoll-, Opium- und Salzeinnahmen hörte, verfiel er in einen Stupor, und nicht lange danach sah man ihn wieder lustlos auf einem Sofa liegen, in einen Gedichtband vertieft.
Dr. Dunstaple war von Louise und von Mrs. Dunstaple bedrängt worden, ihre Abreise nach Krishnapur zu verschieben, bis der letzte Ball der kühlen Jahreszeit stattgefunden habe. Dann könne Louise noch am selben Nachmittag Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin in der St Paul’s Cathedral sein. Der Doktor seufzte. Wieder waren ein paar glückliche Schweine seinem Spieß entgangen. Er tanzte nicht gern.
In der Festhalle war die Temperatur weit über neunzig Grad Fahrenheit, die hohen Fenster standen offen und punkahs flatterten wie verwundete Vögel über den Köpfen der Tanzenden. Obwohl Fleury sich nicht vorstellen konnte, wie man bei einer solchen Hitze tanzen sollte, hatte Louise ihre Tanzkarte im Nu gefüllt; als er kam, um sich zu bewerben, war zu seinem Leidwesen nur noch der galloppe frei. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und zog ihn schimmernd, wie mit Olivenöl bestrichen zurück. Auch die Ladies konnten nicht kühl aussehen; noch so viel Reispuder konnte den Glanz ihrer Gesichtszüge nicht mattieren, noch so viel Polsterung konnte feuchte Flecken nicht daran hindern, sich unter ihren Achselhöhlen auszubreiten.
Ein Wunderwerk nach dem anderen hervorhebend, die Musiker, die prachtvoll livrierten Diener, das köstliche Buffet inmitten der Blumen und Lüster und Topfpalmen, empfahl der Doktor Fleury dringend, diese elegante Szene nicht zu vergessen, wenn es darum ging, Beispiele zivilisierten Verhaltens für sein Buch auszuwählen. Fürwahr, stimmte Fleury zu, dies sei sicher eine Art von Zivilisation, aber irgendwie glaube er, eigentlich werde ein ganz anderer Aspekt gebraucht … ihre spirituelle, ihre mystische Seite, die Seite des Herzens! »Zivilisation, wie sie derzeit ist, denaturiert den Menschen. Denken Sie nur an die Mühlen und die Schmelzöfen … Im Übrigen, Doktor, empfiehlt mir jeder, dem ich in Kalkutta von meinem Buch erzähle, auf dies oder jenes zu achten … einen Kanal, der gebaut worden ist, oder irgendeine grausame Sitte wie Kindstötung oder Witwenverbrennung, die abgeschafft wurde … Das sind natürlich Verbesserungen, gewiss, aber so, wie die Dinge liegen, sind es nur Symptome von etwas, was eine große, heilsame Krankheit sein sollte … Das Problem ist, wissen Sie, dass die Symptome zwar da sind, die Krankheit als solche aber fehlt!«
»Eine heilsame Krankheit!«, dachte der Doktor, während er einen entsetzten Blick auf Fleurys errötetes Antlitz warf.
»Hm, das ist alles schön und gut, aber … Hier, nehmen Sie eine von diesen.« Der Doktor bot Fleury sein Zigarrenetui an, wobei er als subtiles Kompliment hinzufügte: »Ich fürchte allerdings, dass sie nicht so gut sind wie Lord Cannings.« Er beobachtete Fleury besorgt. Er hatte gehört, auch wenn es nur ein Gerücht sein mochte, Fleury habe sich im Bengal Club irgendeinen armen Teufel geschnappt und ihm ein langes Gedicht über die Besteigung eines symbolischen Berges vorgelesen.
Überrascht von der Anspielung auf Lord Canning, nahm Fleury eine Zigarre und fuhr nachdenklich mit der Nase daran entlang. Sein Blick fiel auf zwei hübsche, schwitzende Mädchen in der Nähe, als eines von ihnen ausrief: »Ich hasse Männer, die bei der Polka hopsen!« Auf jedem Londoner Ball hätte ihm dieselbe Bemerkung zu Ohren kommen können. Obendrein hatte er gehört, dass in Kalkutta auch reiche indische Gentlemen zu Bällen im zivilisierten europäischen Stil luden, obwohl sie die englischen Ladies zugleich dafür verachteten, mit Männern zu tanzen, als wären sie »nautch girls«*, etwas, was sie ihren eigenen Frauen niemals gestatten würden. Darin schien ein Widerspruch zu liegen. Es war alles sehr kompliziert.
Der Doktor hatte Fleury am Ellbogen gefasst und führte ihn zum Buffet. Wo Mrs. Lang denn heute Abend sei? Fleury erklärte, Miriam habe es abgelehnt, mitzugehen, nicht, weil sie noch trauere, sondern weil sie es zu heiß fand, um zu tanzen. Miriam habe ihren eigenen Kopf, brummte er.
»Was für eine vernünftige junge Frau!«, rief der Doktor neidisch, wünschte er sich doch auch für seine Ladies einen eigenen Kopf, der ihnen sagte, wann es zu heiß zum Tanzen war.
Sie kamen an einer Reihe erhitzter Anstandsdamen am Rand der Tanzfläche vorbei; die ununterbrochene Bewegung ihrer Fächer verlieh diesen Ladies etwas Flatteriges, etwas von Vögeln, die sich ihr Gefieder putzen. Die aus der Blässe schwer gepuderter Gesichter hervortretenden Augen folgten Fleury ausdruckslos, als er vorbeiflanierte. Er dachte: »Wie wahr, dass englische Frauen im indischen Klima nicht gedeihen! Ihr Fleisch fällt ein, es schmilzt dahin und hinterlässt nur Sehnen, Fasern und Falten.«
Plötzlich herrschte Aufregung im Ballsaal, wie ein Lauffeuer ging die Nachricht um: General Hearsey war eingetroffen! Das Gedränge im vorderen Bereich der Tanzfläche war so groß, dass der Doktor und Fleury nichts sehen konnten, und so stiegen sie ein paar Stufen der weißen Marmortreppe hinauf. Von dort aus gelang es ihnen, einen Blick auf den General zu erhaschen, und der Doktor konnte nicht anders, er wünschte sich, unwillkürlich zu Fleury hinüberschielend, sein Sohn Harry wäre an dessen Stelle da. Harry hätte alles gegeben, um des tapferen Generals ansichtig zu werden, während Fleury mit seinem von Zivilisationstheorien aufgeweichten Gehirn sicher nicht den Wert des Mannes schätzen konnte, der jetzt langsam durch die Menge der Gäste schritt, von denen viele vortraten, um ihn zu begrüßen; andere, die keine Gelegenheit gehabt hatten, seine Bekanntschaft zu machen, erhoben sich aus Respekt und verbeugten sich, als er vorüberging.
Aber der Doktor tat Fleury Unrecht, denn Fleury war nicht weniger aufgeregt als er. Fleury hatte sich selbst im Verdacht, ein Feigling zu sein, und hier sah er sich dem Mann gegenüber, der vor dem Zeughaus eines zum Aufruhr bereiten Sepoy-Regiments furchtlos auf den Rebellen, der soeben den Adjutanten erschossen hatte, zugeritten war. Auf die Warnung eines Offizierskameraden, die Muskete des Rebellen sei geladen, hatte der General geantwortet, was in ganz Kalkutta schon zum geflügelten Wort geworden war: »Zum Teufel mit seiner Muskete!« Und der Sepoy, überwältigt von der moralischen Präsenz des Generals, war unfähig gewesen, den Abzug zu drücken. Kein Wunder, dass Fleury seine Theorien im Moment vergaß und sich an dem älteren Soldaten weidete, an dem vollen weißen Haar und Schnauzbart des Generals, an dessen mannhaftem Gebaren, das sein Alter von sechsundsechzig Jahren vergessen ließ. Und als der General, der sich ruhig mit einem Freund unterhielt, aber doch einen müden und angestrengten Ausdruck im Gesicht hatte, seine Augen hob und kurz auf Fleury ruhen ließ, schlug Fleurys Herz, als wäre er kein Dichter, sondern ein Husar.
Erfrischt durch diesen Anblick personifizierten Muts, stiegen Fleury und der Doktor die Marmortreppe weiter hinauf, zu den Galerien. Hier saßen etliche Leute bequem in Nischen, durch Farne und rote Plüschwände voneinander getrennt, mit einem guten Überblick über die Tanzfläche unten. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen von Höflichkeitsbesuchen zwischen diesen Nischen, und hier war der Ort, wo man die nüchternen Tatsachen der Ehe diskutieren konnte, während sich die jungen Leute unten um die gefühlsmäßigen Aspekte kümmerten. Mrs. Dunstaple hatte einen Platz auf einem Sofa unter einer punkah gefunden und redete mit einer anderen Lady, die ebenfalls eine heiratsfähige Tochter hatte, wenngleich um einiges gewöhnlicher als Louise. Als Mrs. Dunstaple Fleury mit ihrem Ehemann näherkommen sah, konnte sie einen Freudenlaut nicht unterdrücken, denn sie hatte ihrer Gefährtin gerade vorgeschwärmt, welche Aufmerksamkeiten Fleury Louise zuteilwerden ließ, und den unangenehmen Eindruck gehabt, dass ihr nicht ganz geglaubt wurde.
Fleury verbeugte sich, als er vorgestellt wurde, und setzte sich dann, benommen von der Hitze. Die roten Plüschwände um ihn herum vermittelten ihm das Gefühl, in einem Ofen zu sitzen. Er nahm ein Taschentuch heraus und tupfte sich die ölige Stirn ab. Auf der Tanzfläche unten ging ein Walzer zu Ende, und bald würde es Zeit für den galloppe sein. Soeben tauchte Louise auf, eskortiert von den Leutnants Cutter und Stapleton, die Fleury beide unverschämt anstarrten und sich der Aufgabe, ihn wiederzuerkennen, offensichtlich nicht gewachsen fühlten.
Fleury blickte bewundernd zu Louise auf; er wusste, dass sie nachmittags Brautjungfer bei der Hochzeit einer Freundin aus ihrer Kindheit gewesen war. Die beiden Mädchen waren zusammen aufgewachsen, und nun, nachdem sie einander so oft gesagt hatten: »O nein, du wirst die Erste sein!«, war die Freundin die Erste gewesen, weil Louise so lange brauchte, um sich zu entschließen.
Fleury sah, dass Louise bewegt war von der Erfahrung, Brautjungfer ihrer Freundin gewesen zu sein; ihr Gesicht war verletzlich geworden, wie zwischen Lachen und Weinen. Er fand diese Verletzlichkeit seltsam entwaffnend.
Und nun, da Louise in dieser Weise aufgebrochen war, kein Wunder, dass sie, zumindest für ein paar Stunden, jeden Mann anschaute, den sie traf, sogar Fleury, und ihn momentan als ihren zukünftigen Ehemann sah. Mrs. Dunstaple sah erst ihre Tochter an und dann Fleury, der insgeheim mit den Zähnen knirschte und sich an den Knöcheln kratzte, wo er gerade von einer Mücke gestochen worden war. Wie schnell das Leben vergeht! Sie seufzte. Die eher gewöhnliche Tochter ihrer Gefährtin litt unter »Hitzepickeln«, wurde ihr anvertraut. Was für eine Schande! Sie redete mitfühlend daher.
Es war Zeit für den galloppe. Als sie auf der Tanzfläche ihre Haltung einnahmen, blickte Louise auf und sah Fleury forschend an. Aber Fleury träumte vor sich hin, er dachte selbstzufrieden, dass man in London keine Gentlemen mehr in braunen Fräcken gesehen hätte, wie sie hier getragen wurden, und er dachte an die Zivilisation, dass sie mehr sein müsse, als von einem Land ins andere importierte Moden und Gebräuche, dass sie eine höhere Sicht der Menschheit sein müsse, und wie er in seinem schwarzen Frack erstickte, und was für ein strenger Schweißgeruch den Saal hier unten erfüllte, und ob er den bevorstehenden Tanz wohl überleben würde. Dann, endlich, spielte das Orchester mit einer flotten Melodie auf und setzte die Füße der Tänzer in Bewegung, darunter Louises weiße Satinschühchen und Fleurys Lackstiefel, rhythmisch stürmend und drängend, als fände all dies nicht in Indien statt, sondern irgendwo in einem gemäßigten fernen Land.