Читать книгу Die Belagerung von Krishnapur - James Gordon Farrell - Страница 8
III
ОглавлениеGegen Ende April legte die dak gharry, die alle vierzehn Tage die englische Post ins Landesinnere beförderte, wie gewohnt ihren beschwerlichen Weg durch die große Ebene nach Krishnapur zurück. Sie zog einen Staubschleier hinter sich her, der zu unerhörten Höhen aufstieg und über mehrere Meilen wie eine Regenwolke in der Luft hing. Außer der Post enthielt die gharry auch Miriam, Fleury, Leutnant Harry Dunstaple und eine Spanieldame namens Chloë, welche einen guten Teil der Reise damit zugebracht hatte, ihren Kopf aus dem Fenster zu stecken und voller Verwunderung den Staub zu beobachten, der von den Rädern aufgewirbelt wurde.
»Was ich gern wüsste, Harry, wenn ich fragen darf, ob das ein Moslem- oder ein Hindu-Friedhof ist?«
»Die Hindus begraben ihre Toten nicht, also muss er mohammedanisch sein.«
»Natürlich muss er das, was für ein Dummkopf ich doch bin!« Einen Blick auf Harry werfend, forschte Fleury nach Zeichen des Spotts, den Neuankömmlinge in Indien, beleidigend »Griffins« genannt, von alten Hasen zu erwarten hatten. Aber Harrys freundliches Gesicht verzeichnete nur höfliches Desinteresse an den Bestattungsbräuchen der Eingeborenen.
Fleury und Miriam waren beim letzten dak bungalow* auf Harry gestoßen; äußerst zuvorkommend war er ihnen zur Begrüßung entgegengeritten, obwohl er den linken Arm in einer Schlinge trug; er hatte sich beim Sauspießen das Handgelenk verstaucht. Nicht genug damit, so weit herauszureiten, hatte er sein Pferd mit dem sais zurückgeschickt und sich den Reisenden in der unbequemen gharry hinzugesellt, einem Gefährt, das große Ähnlichkeit mit einem länglichen Kasten auf vier Rädern ohne Federung besaß; sie hatten schon fast zwei Tage in diesem Transportmittel verbracht und ihre weichen Körper schrien nach Bequemlichkeit. Miriam hatte die meiste Zeit der Reise ihre Nase in ein Taschentuch vergraben, während schmierige Tränen aus ihren Augen flossen, nicht wegen einer erneuten Aufwallung ihres Kummers um Captain Lang, sondern wegen des erstickenden Staubs, der ihre Augäpfel reizte. Was Fleury anbelangt, so wurde seine Erregung bei der Aussicht auf ein Wiedersehen mit Louise durch Zweifel gedämpft, als was für ein Ort sich dieses Krishnapur erweisen würde. Die ausgedörrte Ebene, die sie durchquerten, war wenig verheißungsvoll. Sehr wahrscheinlich gab es dort nur Unbequemlichkeit und Schlangen. Unter solchen Umständen, fürchtete er, würde er nicht glänzen.
Harry hatte ihn mit einer Mischung aus Wohlwollen und Vorsicht begrüßt, und eine Weile hatten sie hoffnungsvoll, allerdings vergeblich versucht, ein gemeinsames Interesse zu finden. Der Joint Magistrate sei erkrankt und zur Heilung in die Berge gegangen, von wo er, so befürchte man, nicht zurückkehren werde, hatte Harry erklärt, darum wolle man ihnen, solange er nicht da war, seinen Bungalow zur Verfügung stellen.
Chloë, überwältigt von der Hitze, hatte sich hechelnd auf Fleurys Schoß geworfen und war dort eingeschlafen. Er versuchte, sie herunterzuschubsen, aber ein Hund, der nicht von seinem Platz bewegt werden will, kann sich in der Tat sehr schwer machen, und so musste er sie wohl oder übel liegenlassen. Fleury selbst war nicht gerade vernarrt in Hunde, aber er wusste, dass junge Ladies es in aller Regel waren. Er hatte Chloë, deren goldene Locken ihn an Louise erinnerten, einem jungen Offizier abgekauft, der sich beim Pferderennen ruiniert hatte. Zu dieser Zeit hatte er Chloë als ein feinsinniges Geschenk gedacht; ihre goldenen Locken hatten sich in seinem Geist mit der Vorstellung von hündischer Treue und Ergebenheit vermischt. Er wollte Chloë als eine erste Salve im Werben um Louises Zuneigung benutzen. Aber inzwischen fand er sie nur lästig.
Als sie sich Krishnapur näherten, sahen sie auf der Straße ein paar Reisende, auch einige Sepoys, die sehr schmuck aussahen in ihren roten Röcken und schwarzen Hosen. Als sie an ihnen vorbeifuhren, salutierten die Sepoys der Bleiche der Gesichter, die sie im trüben Inneren der Kutsche gewahrten (ganz zu schweigen von Chloës goldenen Locken). Nur Harry bemerkte stirnrunzelnd, dass einer oder zwei von ihnen mit der linken Hand salutiert hatten; wäre er allein gewesen, hätte er angehalten und sie wegen einer so vorsätzlichen Respektlosigkeit gemaßregelt; doch unter den gegebenen Umständen musste er so tun, als hätte er es nicht bemerkt. Sie fuhren schwerfällig an einem Kamel vorbei, das als Zugtier vor einen Karren gespannt war, und Fleury starrte zweifelnd auf den Gurt um seinen ballonartig aufgeblähten Bauch … all diese fremden Anblicke ließen ihn wieder melancholisch werden, ein einsamer Wanderer auf Erden. Alte Männer saßen auf ihren Fersen gegen die Wand des Wohnsitzes eines Nabob* gelehnt, und neben ihnen, an die Wand gekettet, saß ein staubiger Löwe. Als Nächstes passierten sie eine bis auf Lampen aus buntem Glas leere Moschee und ratterten über eine Eisenbrücke. Eine Familie gelbgrüner Affen starrte feindselig zu ihnen hinauf, die Augen wie polierte Klumpen Jade.
Und dann tauchten sie in den Basar ein, massenhaft bevölkert mit Menschen in weißem Musselin. Wo mochten sie nur alle leben? Ein unpassendes Bild von hundertfünfzig zusammengekauerten Menschen auf dem Fußboden des Gesellschaftszimmers seiner Tante in Torquay kam Fleury in den Sinn. Plötzlich schlingerte die gharry und bog in ein Tor ein. Sie waren angekommen. Ihn verließ der Mut.
Aber sie waren nicht angekommen. Harry war ausgestiegen und stritt mit einem Mann, der rufend neben der Kutsche hergelaufen war und sie veranlasst hatte, in diese Einfahrt einzubiegen, die, wie sich herausstellte, zum dak bungalow gehörte. Harry schien ziemlich wütend zu sein; hier hatte er absolut nicht halten wollen. Es folgte eine mühsame Verhandlung, da sich Harrys Sprachvermögen auf ein paar häusliche und militärische Befehle beschränkte. Er geriet außer sich und begann zu schreien; Soldaten sind bekannt für ihre Reizbarkeit, wenn man sich ihrem Willen widersetzt. Doch obwohl der Mann bei jedem neuen Ausbruch leicht zusammenzuckte, blieb er standhaft. Sie hätten noch eine Weile so weitermachen können, Harry schreiend, der Eingeborene zuckend, wäre nicht ein anderer Mann aufgetaucht, der, älter und sehr dick, aus der Richtung des Bungalows herbeieilte. Als er zu sprechen begann, sah Fleury, dass sein Mund vom Betelkauen erstaunlich orangerot gefärbt war. Wie hypnotisiert starrte er in diese glühende Höhle, aus der Englisch kam, wenngleich nicht von der Sorte, die er verstand. Dieser Mann sei der khansamah des dak bungalow, erklärte Harry Fleury, und was er sagen wolle, sei … warten Sie!
Ein Ausdruck des Schreckens trat in Harrys Gesicht, und ohne weitere Worte abzuwarten, rannte er zu dem Bungalow, die Treppe hinauf, und verschwand im Inneren. Fleury wäre ihm gefolgt, hätte Chloë nicht just diesen Moment gewählt, um sich seinem Griff zu entwinden und in den verführerischen grünen Dschungel des Anwesens abzutauchen. Ohne seine Rufe zu beachten, raste sie, die Nase am Boden, davon. Er verfolgte sie verzweifelt und fand sie nach einer langen Jagd versuchsweise den braunen Bauch eines Babys leckend, das sie ziemlich weit entfernt bei den Hütten der Dienerschaft im Dreck spielend aufgestöbert hatte. Unter Schlägen und Schimpfen schleifte er sie zurück. Harry war wieder da.
»Was war eigentlich los?«
»Ich dachte, Sie hätten es gehört. Der khansamah sagte, eine Frau versuche sich umzubringen.« Harry legte eine Pause ein, er sah erschüttert aus. »Anscheinend ist sie … also ja, ich glaube, man würde ›betrunken‹ sagen, um es nicht zu beschönigen.«
»Eine Hindu?«, riskierte Fleury mittelmäßig sicher. Er hatte sich erinnert, dass Mohammedaner nicht trinken.
»Also, das ist es ja. Sie scheint Engländerin zu sein, fürchte ich. Das heißt, ich wollte sagen, sie ist tatsächlich Engländerin. Ich habe früher schon mal von ihr gehört. Wie es scheint …« Harry räusperte sich gekünstelt. Seine bereits geröteten Wangen wurden röter, und er warf einen verlegenen Blick in Richtung Miriam. »Anscheinend hat ihr irgendein Offizier ihre Tugend geraubt. Dann hat er sie natürlich verlassen, sonst hätte er Ärger mit seinem Oberst bekommen. Sie hat das schon einmal gemacht, wissen Sie. Ich meine, einen Selbstmordversuch. Man weiß wirklich nicht so richtig, was man tun soll.«
Die Sonne ging unter, als Fleury und Miriam zum Bungalow des Joint Magistrate gelangten. Er erwies sich als ein gelb verputztes Gebäude, umgeben von einer Veranda und um der Kühle willen strohgedeckt. Träger tauchten aus der Dämmerung auf, um sich mit ihren Kisten abzumühen, während sie in die Innenräume spähten. Es gab zwei Schlafzimmer, jedes mit direktem Zugang zu einem eigenen Bad, und zwei weitere Räume, die statt Türen durch Stücke roten Baumwolltuchs voneinander getrennt waren. Miriam, die sagte, sie sei müde, verschwand alsbald mit ihren Kisten im leersten der beiden Schlafzimmer, während sie Fleury sich selbst überließ. Er nahm es ihr übel, ihn so abrupt an diesem unbekannten Ort allein zu lassen; so war sie seit dem Tod ihres Ehemanns.
Melancholie überkam ihn beim Gedanken an den einsamen Abend, der vor ihm lag. Obgleich der Joint Magistrate fortgegangen war, um in den Bergen zu sterben, hatte er es nicht für angebracht gehalten, seine Sachen mitzunehmen. Einer der Räume hatte als Büro gedient; überall waren Papiere angehäuft. Fleury stieß mit der Spitze seines Stiefels an einen Stapel von Schriftstücken, der ins Rutschen kam und Staub ausdünstend umfiel; das Licht war gerade noch hell genug, um zu erkennen, dass es eine Sammlung der mit dem morschen, ausgeblichenen roten Band des offiziellen Indien-Handels gebündelten Salzberichte war. Es gab auch Blaubücher, Kodizes und zahllose Briefe, manche geordnet, andere wahllos gestapelt. Es schien unvermeidlich, dass niemand je aus den Bergen zurückkehren würde, um diese Masse an amtlichen Papieren zu sortieren. Von der Wand aus starrte ihn missfällig der Kopf eines sehr kleinen Tigers an; zumindest glaubte er, es müsse ein Tiger sein, obwohl er eher einer gewöhnlichen Hauskatze glich.
Inzwischen war der größte Teil seines Gepäcks in sein Schlafzimmer gebracht worden und wurde unter den Augen des khansamah ausgepackt, wobei dieser seinerseits von Harry überwacht wurde, der hilfsbereit wieder aufgetaucht war und eine Einladung zum Abendessen in der Residenz mitgebracht hatte. Nach und nach wurde der Inhalt seiner Kisten ausgeleert: Bücher und Kleidung, Havannas, Brown Windsor Seife, Konfitüren und Konserven in wundersamerweise unzerbrochenen Gläsern, ein Fass Branntwein, Seidlitz Pulver, Kerzen, eine Zinnblechwanne für Fußbäder, Jahresbände von Bell’s Life, noch mehr Kerzen, auf Leisten gespannte Stiefel und ein erfinderisch gestaltetes Möbelstück, das in häuslichen Notlagen, welche Fleury niemals zu erleben hoffte, als Wasch- und Schreibpult in einem dienen konnte. Nach einer kurzen Diskussion auf Hindustani wurden seine Bücher auf den Tisch, und dessen Beine in irdene, mit Wasser gefüllte Untersetzer gestellt. Dadurch sollten sie vor Ameisen geschützt werden, erklärte Harry. Fleury nickte ruhig, aber ihm kam ein schrecklicher Gedanke: Was, wenn Schlangen zum Trinken an die Untersetzer kröchen, während er schlafend im Bett lag? Etwas warnte ihn jedoch, diese Angst Harry gegenüber zu erwähnen. Harry würde es nicht verstehen. Dann, als er sich in der zunehmenden Dunkelheit genauer umsah, bemerkte Fleury, dass nicht nur die Tischbeine, sondern auch die Schränke und sogar das Bett selbst in randvoll mit Wasser gefüllten Untersetzern standen.
Bis Fleury die Residenz erreichte, war es viel zu dunkel, als dass er die wütenden Löwenmäulchen, die die Beete neben der Einfahrt bewachten, hätte sehen können, aber er roch den schweren Duft der Rosen … der Geruch störte ihn; wie Weihrauchduft war er stärker, als ein Engländer gewohnt ist. In diesem Moment, müde und entmutigt, hätte er viel darum gegeben, die frische Brise der Sussex-Downs zu riechen. Das sagte er zu Harry Dunstaple.
»Ja, ich sehe, was Sie meinen«, stimmte Harry vorsichtig zu.
»Und das, was ist das alles hier?«
Bei ihrer Annäherung an das Tor waren zwei bedrohlich aufragende Erdwälle aus der Dunkelheit hervorgetreten und hatten sie wie eine Flutwelle verschlungen.
»Entwässerungsgräben«, sagte Harry steif.
»Entwässerungsgräben!«
»Nun ja, eigentlich nicht wirklich zur Entwässerung. Es sind Befestigungsanlagen für den Fall, dass die Residenz verteidigt werden müsste. Eine Idee des Collectors, wissen Sie.« Harry klang missbilligend. Das Militär in Captainganj sah die Erdarbeiten des Collectors gar nicht gerne, eine Sicht, die Harry teilte. Manche, wusste Harry, hätten es unverblümter ausgedrückt und gesagt, der Collector sei verrückt geworden. Jeder in Captainganj glaubte, es bestehe selbstverständlich überhaupt keine Gefahr, doch das, was an Gefahr bestehe, werde durch die zur Schau gestellte Ängstlichkeit des Collectors maßlos geschürt. Gleichwohl, der Collector hatte die höchste Gewalt in Krishnapur inne, noch höher als die General Jacksons. Der General konnte in Captainganj tun und lassen, was er wollte, aber das war die Grenze seines Reichs; seine Autorität war ringsum eingebettet in die des Collectors, dessen Herrschaft sich in alle Richtungen bis zum Horizont erstreckte. Aus Harrys Sicht hatte die Autorität des Collectors Ähnlichkeit mit der eines römischen Kaisers, so fehlbar ein Collector als Mensch auch sein mochte, als Repräsentant der Company gebot er Respekt. Es lag in der Natur der Dinge, dass ein römischer Kaiser oder ein Collector gelegentlich verrückt wurde, darauf bestand, sein Pferd zum General zu befördern, und man ihn bei Laune halten musste; so etwas droht in jeder starren Hierarchie. Aber in Captainganj herrschte die Meinung, dass es zu keinem schlechteren Zeitpunkt hätte passieren können; das Militär wurde lächerlich gemacht. Die Kunde vom Verhalten des Collectors in Kalkutta hatte die Kasernen schon erreicht, zusammen mit spöttischen Kommentaren von Offizierskameraden anderer Standorte. Niemand mag Gespött, auch nicht verdientermaßen, aber für einen Soldaten ist es wie ein Teppich aus glühenden Kohlen. Die Residenz war nicht ihr Zuständigkeitsbereich, aber die Leute würden es glauben oder so tun, als glaubten sie es; die Leute würden sagen, sie »unkten«! Das ängstliche Verhalten des Collectors würde auf sie abfärben.
Und doch, obwohl Harry all das dachte, brachte er es nicht über sich, es auszusprechen … jedenfalls nicht gegenüber Fleury; unter vier Augen mit einem Offizierskameraden würde er sich vielleicht erlauben, über den Collector zu lästern, aber gegenüber einem Fremden, auch wenn es fast ein Vetter war, hätte es sein Ehrgefühl verletzt. So war ein missbilligender Tonfall das Äußerste, was er sich bezüglich der Entwässerungsgräben erlauben konnte … wie auch immer, inzwischen hatten sie die Gräben hinter sich gelassen und ihre Stiefel klackten auf den Stufen des Portikus.
Die Residenz war um diese Abendzeit von Lampen erleuchtet. Die Marmortreppe, die sich Fleurys Blick gleich am Eingang darbot, vermittelte ihm das köstliche Gefühl, ein heimatlich zivilisiertes Haus zu betreten; seine Augen, ausgehungert nach solcher Nahrung, seit er Kalkutta verlassen hatte, folgten gierig dem geschwungenen Geländer, bis es sich unten wie das Horn eines Widders einrollte. Nicht nur Fleury, auch andere Europäer hatten sich an dieser Treppe ergötzt; in Kalkutta wäre sie einem wohl nicht besonders aufgefallen, aber hier, im Kantonnement von Krishnapur, waren alle anderen Häuser einstöckig; die Möglichkeit, nach oben zu gehen, war ein Luxus, in dessen Genuss nur der Collector und seine Gäste kamen. Tatsächlich war der einzige sonstige Wohnsitz in der näheren Umgebung, der sich einer Treppe rühmen konnte, der Palast des Maharaja von Krishnapur; nicht, dass dies der Gemeinschaft der Engländer viel genutzt hätte, denn der alte Maharaja hatte zwar einen wohlgeratenen Sohn, der in Kalkutta von englischen Privatlehrern erzogen worden war, aber er selbst war exzentrisch, lüstern und sprach kein Englisch.
Zwei Kronleuchter hingen über dem langen Esstisch aus Walnussholz, und ihr schillerndes Glitzern spiegelte sich in der polierten Oberfläche. Fleurys Lebensgeister waren unverzüglich wieder erwacht, teils dank der zivilisierten Atmosphäre in der Residenz, teils dank den »Entwässerungsgräben« des Collectors, die ihn daran erinnert hatten, was für ein unterhaltsamer Charakter sein Gastgeber war. Er begann, sich eifrig nach weiteren Zeichen von Extravaganz umzusehen. Zugleich versuchte er, die Namen all der Personen, denen er eben vorgestellt worden war, zu erinnern. Er war herzlich von Dr. und Mrs. Dunstaple begrüßt worden, und unhörbar von Louise, die jetzt ein bisschen abseits des Tisches stand, hold und bleich, ihre langen goldenen Locken wie eine Bugwelle vom Scheitel ihres Kopfes herabfließend, die schlanken Finger in geistesabwesender Ruhe auf … also ja, auf was wie irgendeine Maschine aussah. »Hallo, was haben wir denn hier?«, frohlockte Fleury insgeheim. »Eine Maschine im Esszimmer, wie verteufelt sonderlich!« Er schaute genauer hin, was Louise veranlasste, ihre zarten Finger von dem Ding zu lösen und sich, ihn ignorierend, zu entfernen. Es war ein rechteckiger Metallkasten mit einem Trichter an einem Ende und Zahnrädern zu beiden Seiten. Ein leichter Duft von Zitronenverbena schlich sich hinter seinem Rücken an. Als er sich umwandte, war es der Collector, der ihn mürrisch beobachtete.
»Das ist eine Ginsterpresse«, erklärte er gewichtig, ehe Fleury auch nur fragen konnte. »Wozu die gut ist? Damit Ginster an das Vieh verfüttert werden kann. Die Idee dabei ist, die harten Spitzen der Dornen aufzuweichen, in denen die nahrhaften Säfte enthalten sind. Es heißt, dass Ginster, wenn er einmal durch diese Maschine gegangen ist, von jedem Pflanzenfresser gierig verschlungen wird.«
In dem Bewusstsein, vom Collector beobachtet zu werden, musterte Fleury das Gerät mit einem höflichen, wissbegierigen Ausdruck.
»Ah, da kommt der Padre, um das Tischgebet zu sprechen.«
Kaum hatte das Mahl begonnen, als Gespräche der zivilisiertesten Art rund um den Tisch zu fließen begannen. Fleury schien sich an dem Gespräch zu beteiligen: Er nickte weise, runzelte die Stirn, lächelte und strich sich ab und an bedächtig übers Kinn, aber er war so hungrig, dass sein Geist an nichts denken konnte als an die Speisen, die eine nach der anderen über den Tisch wanderten … den in Backteig frittierten, wie Malzzucker glänzenden Fisch, das Currygeflügel, gewürzt mit Limonensaft, Koriander, Kreuzkümmel und Knoblauch, den zarten Zickleinbraten und die Minzsauce. Während ihm all diese Speisen vorgesetzt wurden, stiegen gelegentlich unzusammenhängende Gesprächsfetzen durch den Nebel seiner Schlemmerei zu ihm auf, starrten ihn wie Fremde an, und verschwanden wieder.
»Humani generis progressus … Ich zitiere den offiziellen Katalog der Exhibition«, ertönte gespenstisch die Stimme des Collectors. »Doch ich fürchte, Doktor, für diesen Ihren Sohn, der sich eher mit Gewehren und Pferden beschäftigt hat als mit seinen Büchern, muss ich wohl übersetzen … ›Der Fortschritt der Menschheit, der sich aus der Arbeit aller Menschen ergibt, sollte das höchste Ziel der Anstrengung jedes Einzelnen sein.‹«
Aber Fleurys Natur flüsterte ihm zu, dass es Zeiten gibt, in denen ein Mensch die Probleme der Welt eine Weile sich selbst überlassen muss, bis er erfrischt bereit ist, wieder einzuschreiten und sich ihrer anzunehmen. Und so aß er erbarmungslos weiter.
Erst als das Dessert in Gestalt einer kalten und sahnigen Mangocreme vor ihm stand, zogen die Schwaden der Schlemmerei langsam aus Fleurys Gehirn ab und erlaubten ihm zu hören, was über »Fortschritt« gesagt wurde. Dies war allerdings kein Thema, das jeden interessierte. Harry zum Beispiel hatte kaum ein Wort gesagt; genau wie sein Vater am anderen Ende des Tisches war er offensichtlich nicht gut für abstrakte Gespräche zu haben. Armer Harry, wahrscheinlich war es ihm nie in den Sinn gekommen, dass man auch eine »abenteuerliche« Bemerkung machen konnte (wie er, Fleury, es häufig tat), oder dass es »aufregende« Gespräche gab. Im Moment sah er ziemlich blass aus, sicher quälte ihn sein verstauchtes Handgelenk; er hätte wohl besser nicht zum dak bungalow hinausreiten und sich auf dem Rückweg diesem Gerüttel aussetzen sollen.
Auch Louise blieb still. Nach Fleurys Ansicht tat sie gut daran, ruhig auf ihrem Platz zu sitzen und zuzuhören, was die Gentlemen zu sagen hatten, denn in Gesellschaft viel zu sprechen, ist keine attraktive Eigenschaft für eine junge Lady. Eine junge Lady mit starken Meinungen ist noch schlimmer. Was könnte einem mehr das Herz zerreißen, als eine Vertreterin des schönen Geschlechts ausrufen zu hören: »Erstens dies … und zweitens das …«, während sie mit ihren Fingern die Luft zerhackt und alles, was man gerade gesagt hat, in Kategorien unterteilt? Nein, das besondere Geschick einer Frau besteht darin, ruhig anzuhören, was der Mann zu sagen hat, und dadurch jene Art Atmosphäre zu schaffen, in der gute Gespräche aufblühen können. So jedenfalls dachte Fleury.
Mrs. Hampton, die Frau des Padre, wagte gelegentlich eine Meinung, da Rang und Reife sie dazu berechtigten … aber sie nutzte ihr Privileg nur, um die Ansichten ihres Ehemanns zu unterstützen, wogegen niemand etwas einwenden konnte. Von den anderen Ladies waren zwei bemerkenswert geschwätzig, oder wären es gewesen, wenn Mrs. Hampton, die sie streng in Schach hielt, sie nicht eingeschüchtert hätte, indem sie ihnen jedes Mal, wenn eine von ihnen versuchte, eine dumme Rede loszulassen, entschieden ins Wort fiel. Eine der beiden, eine hübsche, jedoch ziemlich vulgäre Person, war Mrs. Rayne, die Frau des Opiumverwalters; die andere, noch redseliger als die erste, war ihre Freundin und Gefährtin, die jüngst verwitwete Mrs. Ross.
Jetzt, da er gegessen hatte, wartete Fleury nur auf eine Gesprächspause, ehe er seine Meinung zum Thema Fortschritt äußerte. Sie bot sich fast unverzüglich an. »Wenn es in unserem Jahrhundert irgendeinen Fortschritt gegeben hat«, erklärte er selbstbewusst, »dann weniger in materiellen als in geistigen Dingen. Denken Sie an den Fortschritt vom Zynismus und Materialismus unserer Großeltern … von einem Gibbon zu einem Keats, von einem Voltaire zu einem Lamartine!«
»Da bin ich anderer Meinung«, erwiderte Mr. Rayne mit einem Lächeln. »Man kann nur in praktischen Dingen nach Zeichen des Fortschritts suchen. Ideen sind ständig im Wandel, gewiss, aber wer könnte entscheiden, die eine sei besser als die andere? Es sind die materiellen Dinge, in denen Fortschritt klar zu erkennen ist. Ich hoffe, Sie verzeihen mir, wenn ich Opium erwähne, aber weiter braucht man wirklich nicht zu gehen, um ein anschauliches Beispiel für Fortschritt zu finden. Opium ist, sogar mehr als Salz, eine große Einnahmequelle unserer eigenen Schöpfung, und heute ist sie ergiebiger als jede andere, abgesehen von der Grundsteuer. Und wer bezahlt es? Na wer schon? John Chinaman … der unser Opium jedem anderen vorzieht. Das ist es, was ich Fortschritt nenne.«
Der Collector hatte sich seltsam benommen; abwechselnd mürrisch und redselig, vielleicht aus Müdigkeit oder wegen des Claret*, den er getrunken hatte, war er plötzlich wieder redselig. »Meine lieben Freunde, von einer Aufteilung der Bedeutung des Geistigen und des Praktischen kann überhaupt keine Rede sein. Das eine verleiht dem anderen einen Zweck … Und das andere verschafft dem Ersteren ein unerlässliches Werkzeug! Mr. Rayne, Sie haben vollkommen recht, die Steigerung der Opiumeinnahmen zu erwähnen, aber bedenken Sie einen Moment … wozu das alles? Es geht nicht nur darum, Reichtum zu erlangen, sondern durch den Reichtum diesen überragenden Lebensstil, den wir vage als Zivilisation bezeichnen und der so viele Dinge einschließt, sowohl geistige als auch praktische … und von äußerster Diversität … ein System unparteiischer Rechtsprechung auf der einen Seite, und auf der anderen Kunstwerke von einzigartiger, seit der Antike unübertroffener Schönheit. Die Verbreitung des Evangeliums auf der einen Seite, die Verbreitung der Eisenbahnen auf der anderen. Und doch, wo soll ein solches Phänomen angesiedelt werden wie der gigantische stählerne Segeldampfer, die Great Eastern, die unser verehrter Landsmann, Mr. Brunel, derzeit baut und die bald die sieben Weltmeere bezwingen wird? Ist das nicht ein ungeheurer materieller Triumph und der von Gottes Gnaden leibhaftig gewordene Geist der Menschheit in einem? Mr. Rayne, beide, der Dichter und der Opiumverwalter, sind für unsere Weltanschauung notwendig. Was sagen Sie, Padre? Habe ich recht?«
Trotz seiner schmächtigen Gestalt war Reverend Hampton in Oxford bei den Ruderern gewesen und hatte aus jenen Tagen ein gesundes und bescheidenes Auftreten bewahrt, erleuchtet von einer ernsthaften Schlichtheit des Glaubens, die durch all seine Worte und Gesten hindurchschien. In der von religiösen Streitigkeiten aufgeheizten Atmosphäre, die damals in Oxford herrschte, tat ein Mann gut daran, sich ans Rudern zu halten; die Angriffe der Traktarianer reichten aus, um den Stärksten zu erschüttern; man sagte, in Oxford habe Dr. Whately, derzeit Erzbischof von Dublin, während seiner Predigt sogar ein Bein von der Kanzel baumeln lassen.* Gleichviel hatte der Padre manchmal eine sorgenvolle Miene; der Grund war, dass er fürchtete, die Aufgaben, zu denen der Herr ihn berufen hatte, könnten seine Kräfte übersteigen.
»Mr. Hopkins, wie Sie wissen, hatte ich die Ehre, genau wie Sie die Great Exhibition zu besuchen, die fast auf den Tag genau vor sechs Jahren in unserem Heimatland eröffnet wurde. Dort umherzuwandern, in diesem großen Glaspalast, so riesig, dass die darin eingeschlossenen Ulmen wie Weihnachtsbäume aussahen, war eine Wanderung durch ein Wunderland der Schönheit und menschlichen Erfindungskunst … Doch unter all den vielen Wundern, die es enthielt, war eines in der amerikanischen Abteilung, das mich besonders beeindruckt hat, weil es das Geistige und das Praktische so glücklich zu verbinden schien. Ich meine die Schwimmende Kirche für Seeleute aus Philadelphia. Diese ungewöhnliche Konstruktion schwamm auf den gepaarten Schiffsrümpfen von zwei New Yorker Klippern und war ganz im gotischen Stil gehalten, mit Kirchturm und Turmspitze … innen gab es einen Bischofsstuhl; außen war sie wie aus braunem Sandstein gestrichen. Während ich sie betrachtete, dachte ich an alle über die Jahrhunderte von Menschen erbauten Kirchen und sagte mir: ›Dies ist sicher die vollkommenste Verkörperung des Glaubens, die es je gegeben hat.‹«
»Ein großartiges Beispiel«, stimmte der Collector zu. »Eine sehr glückliche Verbindung von Faktischem und Spirituellem, von Tat und Geist.«
»Aber nein, Sir! Aber nein, Padre!«, rief Fleury so vehement, dass diejenigen Gäste, deren Gedanken während der vorausgehenden Diskussion abgeschweift waren, aufschreckten. Alle Augen richteten sich auf ihn, und während er sprach, fragte er sich, ob er nicht möglicherweise ein ganz klein wenig betrunken war. »Aber nein, mit Verlaub, das ist es ganz und gar nicht. Bitte bedenken Sie doch, Padre, dass eine Kirche nicht mehr Kirche ist, weil sie schwimmt! Wäre eine Kirche denn eher eine Kirche, wenn wir sie mit tausend Ballons in den Himmel aufsteigen lassen könnten? Nur wer fähig ist, den zärtlichsten Regungen seines Herzens zu lauschen, ist fähig zu dieser luftigen Erhebung, die ihn mit dem Ewigen vereint. Was Ihre größten Ingenieure anbelangt, wenn sie nicht auf die Stimme ihres Herzens hören, werden nicht Tausend, nicht Millionen Ballons in der Lage sein, ihre bleiernen Füße auch nur einen Millimeter von der Erde zu heben …« Fleury unterbrach, die Bestürzung im Gesicht des Doktors gewahrend. Er wagte es nicht, einen Blick auf Louise zu werfen. Irgendwie wusste er, dass sie verstimmt sein würde. Jetzt hätte er sich in den Hintern treten können, diese Sachen mit den »zärtlichsten Regungen des Herzens« so herausposaunt zu haben … das war wirklich der allerletzte Spruch bei einem Mädchen wie Louise, das gern mit Offizieren flirtete. Er hatte nichts davon sagen wollen … er hatte geradeheraus und männlich sein und viel lächeln wollen. Was für ein Tor er war! Während er dasaß, kam ihm ein zufälliger, furchterregender Gedanke in den Sinn: Heute Nacht würde er inmitten schlürfender Schlangen schlafen müssen!
Derweilen blickte der Padre ausgesprochen beunruhigt drein. Dieser junge Mann hatte eine theologische Hasenjagd eröffnet, die vielleicht schwer zu bremsen war, wenn er sie laufen ließ. Er dachte grimmig an seine Studienzeit zurück, als diese Art theologischer Hatz sehr in Mode gewesen war und am Ende leider mehr als einen jungen Mann zu Fall und um seinen Glauben gebracht hatte. Dabei war der Padre schon genug von Sorgen geplagt; abgesehen von den mannigfaltigen Problemen des Predigtamts in einem heidnischen Land waren kaum zwei Stunden vergangen, seit er eine schmerzliche Unterredung mit dem gefallenen Mädchen im dak bungalow gehabt und es immer noch so berauscht gefunden hatte, dass es der Stimme des Gewissens nicht zugänglich war. Doch er hatte noch eine größere Sorge als das, denn mit der englischen Post, die am selben Nachmittag von der dak gharry geliefert worden war, war eine Nummer der Illustrated London News mit einem starken Leitartikel wider eine Gefahr gekommen, derer er sich noch nicht einmal bewusst gewesen war … das Vorhaben einer neuen Bibelübersetzung. Es bedurfte nicht des Leitartikels, um ihm das Ausmaß der Gefahr, die da über der christlichen Welt schwebte, klarzumachen. Die Bibel war heilig, und der Padre wusste, dass man etwas Heiliges nicht verändern darf. Menschen schickten sich an, heilige Worte verbessern zu wollen! In ihrem Wahn und ihrem Stolz machten sie sich daran, den göttlichen Urheber zu bearbeiten.
Doch zugleich konnte er nicht verstehen, warum es hatte sein sollen, dass die Bibel überhaupt, auch das erste Mal, übersetzt werden musste … warum sie auf Hebräisch und auf Griechisch geschrieben wurde, obwohl Englisch doch die nächstliegende Sprache war, denn außerhalb einer entlegenen Ecke der Welt konnte kaum jemand Hebräisch verstehen, während Englisch in jeder Ecke jedes Kontinents gesprochen wurde. Der Allmächtige hatte, wohl wahr, nachträglich eine wunderbare Übersetzung erlaubt, als hätte er seinen Irrtum bemerkt … aber natürlich, der Allmächtige konnte nicht irren, so ein Gedanke war absurd. Hier merkte der Padre, dass er in Angelegenheiten von äußerster theologischer Komplexität eindrang, die sein Gehirn verblendete. Es war so heiß, und man durfte sich nicht wie ein Widder in der Hecke der Sophisterei verfangen. Er versuchte sich zu sammeln, und sagte milde, aber fest: »Ich stimme Ihnen zu, Mr. Fleury, dass eine Kirche ein Haus Gottes ist, in welcher Gestalt auch immer. Mit der Schwimmenden Kirche habe ich ein Beispiel von Menschen angeführt, die Gott einen Erfindungsgeist höchsten Ranges weihen.«
Armer Fleury, er hatte sich überstürzt zu weit in den Sumpf der Disputation gewagt. Sein Stolz stand auf dem Spiel, und er konnte nicht mehr zurück. Er konnte nur noch vorwärts, obwohl jeder saugende Schritt, den er nach vorne tat, Louises Verachtung unvermeidlich steigern musste.
»Aber ich glaube, weihen ist nicht genug. Wir rechnen, wir folgern, wir beobachten, wir bauen, wo wir fühlen sollten! Wir tun all diese Dinge, statt zu fühlen.«
Harry Dunstaple rutschte ungeduldig auf seinem Platz herum, bleicher denn je; er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was das sollte, so viel Gerede um nichts.
Die strengen Züge des Collectors hatten einen Ausdruck gut gelaunter Ungeduld angenommen; während Fleury sprach, hatte er einen der Träger etwas holen geschickt, und gerade kehrte der Mann mit drei Lederbänden zurück. »Dieses unser Universum folgt Gesetzen, die wir in unserer bescheidenen Unwissenheit kaum wahrzunehmen vermögen, geschweige denn verstehen. Doch wenn Gottes Güte uns erlaubt, einige wenige seiner Wunder zu erforschen, ist es nur recht, dass wir es tun. Nein, Mr. Fleury, jede Erfindung ist ein Gebet zu Gott. Jede Erfindung, noch so groß, noch so klein, ist eine bescheidene Nachahmung der größten aller Erfindungen, des Universums. Lassen Sie mich nur aufs Geratewohl aus dem Katalog jener Ausstellung zitieren, die der Padre eben erwähnt hat, der Great Exhibition, die ich Sie bitte, als ein gemeinsames Gebet aller zivilisierten Nationen zu betrachten … Lassen Sie mich sehen, hier, Nummer 382: Gerät, um die Blinden schreiben zu lehren. Modell einer Luftmaschine und eines lenkbaren Ballons. Feuervernichter von R. Weare aus Plumstead Common. Ein Haustelegraph mit nur einer Glocke für beliebig viele Räume. Ein ausziehbares Pianoforte für Yachten und so weiter. Künstliche Zähne, aus Nilpferdelfenbein geschnitzt, von Sinclair und Hockley aus Soho; ein Universalbohrer zur Entfernung von Zahnfäule. Ein Kieferhebel, um Tieren die Mäuler aufzusperren. Verbessertes Doppel-Bruchband für Leistenbrüche, erfunden von einem Arbeiter … Der Erfindungsgeist der Menschheit scheint unerschöpflich zu sein, und ich könnte endlos fortfahren, Beispiele zu zitieren. Aber ich bitte Sie nur, diese bescheidenen Kunstwerke der gottgegebenen Fähigkeit des Menschen, zu beobachten und zu berechnen, als winzige Fortschritte der Menschheit im Streben nach Vereinigung mit jenem höchsten Wesen zu betrachten, in dem alles Wissen ist und ewig sein wird.«
»Amen«, murmelte der Padre automatisch. Aber hatte eine leise kleine Stimme gerade versucht, ihm etwas zuzuflüstern?
Der Collector hatte im Ton einer Autorität gesprochen, der die Diskussion beendete. Einen Augenblick war Fleury versucht, eine letzte hitzige Tirade loszulassen … aber nein, das kam nicht infrage. Fleury blieb stumm, ein Hauch von Blamage haftete ihm an.
Es war schon hell, als Fleury erwachte. Ringsum herrschte ein tiefes und bedrückendes Schweigen, als wäre der Bungalow verlassen; die punkah, die während der ganzen Nacht rhythmisch geflattert hatte, hing jetzt reglos herunter; in der stehenden Luft klebte sein Nachthemd an der Haut. Doch als er auf die Veranda hinausblickte, war alles normal. Der punkah-wallah* war einfach eingenickt; er hockte dort auf der Veranda, immer noch das Seil haltend, das zu einem Loch hoch oben in der Wand führte. Neben ihm butterte der khansamah einen Frühstückstoast mit dem fettigen Flügel eines Federviehs; als er Fleury sah, weckte er den punkah-wallah mit einem Tritt, und ohne ein Wort zu sagen nahm der Mann das rhythmische Ziehen an dem Seil genauso wieder auf, wie er es die ganze Nacht hindurch getan hatte.
Fleury zog sich rasch an, dankbar, den trinkenden Schlangen in der Nacht nicht zum Opfer gefallen zu sein, und frühstückte dann mit Miriam, die bereits aufgestanden war. Sie verbrachten den Vormittag zusammen, bis Miriam sich für einen Besuch bei den Dunstaple-Ladies ankleiden musste. Die Stunden schleppten sich dahin. Fleury fand es zu heiß, um nach draußen zu gehen. Er versuchte ein Buch zu lesen. Miriam war noch nicht zurück, als Rayne, der Opiumverwalter, gegen vier Uhr einen seiner Diener hinüberschickte, um Fleury zum Tee einzuladen. Im Schatten der Veranda beobachtete Fleury Raynes Diener unter einem schwarzen Schirm aus den Tiefen des Anwesens zu ihm heraufhasten; auf der Veranda angelangt, schüttelte er den Schirm heftig aus, wie um Sonnentropfen abzuschütteln.
Am Vortag war Fleury nicht zu Rayne gegangen, doch nun war seine Langeweile so akut, dass er beschloss, die Einladung anzunehmen. Unter dem Schirm des Dieners machte er sich auf den Weg, begleitet von Chloë, die den ganzen Tag geschlafen hatte und voller Energie war. Raynes Anwesen, stellte sich heraus, war nur durch ein paar leerstehende Bungalows von dem des Joint Magistrate getrennt. Die beiden jungen Beamten waren enge Freunde gewesen und hatten sich so daran gewöhnt, einander formlose Besuche abzustatten, ohne über die Straße zu gehen, dass ein Trampelpfad durch den Dschungel entstanden war, zu dem sich die verwahrlosten Gärten der Nachbarschaft ausgewachsen hatten … kein richtiger Pfad eigentlich, denn an manchen Stellen war das Blattwerk in der Hitze schon verdorrt und es gab keine Spur von einem Pfad. Raynes Träger führte ihn an einem verlassenen Bungalow mit Löchern in dem strohgedeckten Dach und einer absackenden Veranda vorbei; an der Seite, auf einem kleinen Hügel, lag das von Würmern wimmelnde Gerippe eines Fahnenmasts, während nach vorn heraus ein Albtraum knalliger Geranien wucherte. Als sie sich von dem Bungalow entfernten, gab es plötzlich ein raufendes Geräusch, dann Stille.
»Was war das?«
»Schakal, Sahib.«
Sie kletterten über eine niedrige Lehmmauer, durch eine Masse wilder Rosen, noch in Blüte, und krochen durch ein schattenloses Dickicht. Auf einmal blieb Fleury wie angewurzelt stehen, jemand lauerte ganz nahe im Gestrüpp, beobachtete ihn. Es dauerte einen Moment, bis er erkannte, dass dort ein Bildnis stand, ein kleiner, dicker Mann mit schwarzem Gesicht und sechs Armen. Ein Pfad führte zu ihm hin; es war ein Schrein. Fleury trat näher, begleitet von dem Träger, der ihm den Schirm über den Kopf hielt. »Lord Bhairava«, erklärte er.
Lord Bhairavas Augen stachen weiß aus einem schwarzen Gesicht hervor, und er schien Fleury boshaft und belustigt anzusehen. Einer der sechs Arme hielt einen Dreizack, ein anderer ein Schwert, der dritte schwenkte einen abgetrennten Unterarm, der vierte hielt eine Schale, während der fünfte eine Handvoll abgeschlagener Köpfe an den Haaren hielt: Die Gesichter der Köpfe hatten dünne Schnurrbärte und drückten Verwunderung aus. Die sechste Hand, leer, hielt die drei Mittelfinger hoch. Bei näherer Betrachtung sah Fleury, dass Besucher Münzen und Essen in der Schale hinterlassen hatten und dass noch mehr Essen an Lord Bhairavas kichernden Lippen klebte, die außerdem voller Purpur waren, wie mit Blut beschmiert. Fleury wandte sich schnell ab, erschrocken ob der unerwarteten Begegnung und darauf bedacht, diesen unheimlichen Garten schleunigst zu verlassen.
Während sie weitergingen, löste ein süßlich erstickender Duft den nächsten ab, sodass er, benebelt von der Hitze und der Anspannung, den Eindruck hatte, durch ein unbekanntes, sinnliches Element zu taumeln. Gegenwärtig kam ein anderer verlassener Bungalow in Sicht, noch verlorener als der letzte, fast ohne Dach, mit riesigen Disteln, die aus den Fenstern heraus in die Höhe wuchsen. Eine ausgemergelte Kuh, die Hörner grün angemalt, weidete auf ein paar vertrockneten Grasbüscheln, die einst ein Rasen gewesen waren. Dann kletterten sie über eine andere Lehmmauer in ein ebenso dürres, aber besser gepflegtes Anwesen. Als sie sich Raynes Bungalow näherten, durchdrangen Stimmen und Gelächter die Stille und Hitze des späten Nachmittags.
Nach dem blendenden Licht im Freien schien auf der Veranda mitternächtliche Finsternis zu herrschen. Eine Gestalt trat aus der Dunkelheit und schüttelte Fleury die Hand, indem sie ihn lauthals in Tönen, die er als Raynes erkannte, willkommen hieß. Eine andere Gestalt zeichnete sich ab, verbeugte sich und schlug die Hacken zusammen: Das war Burlton, der die Schatzkammer betreute. Er schien ein empfindlicher junger Mann zu sein, einer, der gefallen wolle und maßlos über alles lache, sagte Rayne. Drinnen war noch ein Mann, bisher nur schemenhaft wahrgenommen, der von seinem Sessel aus eine sich verbeugende Bewegung machte, als er Fleury vorgestellt wurde; zugleich lachte er sardonisch; sein Name war Ford, einer der Eisenbahningenieure. »Immer erfreut, einen Griff zu treffen«, sagte er gedehnt.
»Wir haben Ford und seinesgleichen, aber hol mich der Henker, wenn die Eisenbahn je Krishnapur erreicht«, spottete Rayne, der offenbar einigermaßen betrunken war. »Wo ist denn der verdammte Träger? Ram, bring dem Sahib was zu trinken … Simkin! Das bedeutet Champagner, alter Knabe. Wir trinken keinen Tee in diesem Haus.«
Fleury tastete sich zu einem Sessel durch und nahm Platz. Einen Augenblick verfiel Rayne in Schweigen und das einzige Geräusch war sein ziemlich schweres Atmen. Als der Träger mit einem Glas Champagner für Fleury zurückkehrte, sagte Rayne laut: »Wir nennen diesen Kerl ›Ram‹. Das ist nicht sein wirklicher Name. Sein wirklicher Name ist Akbar oder Mohammed oder so was in der Art. Wir nennen ihn Hammel, weil er aussieht wie ein Hammel. Und das ist Monkey«, fügte er hinzu, als ein anderer Diener mit einem Teller Feingebäck hereinkam. Monkey hob nicht den Blick. Er hatte sehr lange Arme, fürwahr, und eine ziemlich affenartige Erscheinung.
»Wo sind die Mems*?«, wollte Ford wissen, aber es kam keine Antwort.
»Bald ist es kühl genug für einen Kanter.«
»Sollen wir nicht solange Karten spielen?«
Aber niemand rührte sich. Fleury schlürfte seinen Champagner, der unangenehm sauer schmeckte. Er hörte Chloë auf der Terrasse jaulen, wo einer der Diener sie angebunden hatte. Im Moment kam ein anderer Diener mit einer Kiste Stumpen herein; er war älter und würdevoll, aber außerordentlich klein, fast ein Zwerg.
»Wie würden Sie diesen Wicht nennen?«, fragte Burlton.
»Ant«, sagte Rayne.
Burlton schlug sich auf den Schenkel und lachte hemmungslos.
»Ich würde gern wissen, was Mr. Fleury von dieser Meerut-Geschichte hält«, sagte Fort. »Was? Ist das zu fassen? Verdamm mich, wenn er überhaupt davon gehört hat! Wo waren Sie den ganzen Tag?« Und entzückt machte er sich daran, Fleury zu erzählen, was als ein größtenteils erfundener Bericht über einen grauenhaften Aufstand irgendwelcher Sepoys erschien, lauter »pummelige junge Griffins, ungefähr so alt wie Sie«, die »im besten Mannesalter in Stücke gehackt« worden seien. Fleury merkte, dass er zum Besten gehalten wurde, war aber trotzdem alarmiert.
»Keine Sorge«, sagte Burlton herablassend; er war schon fast ein Jahr in Indien und nicht mehr ganz so ein Griffin wie Fleury. »Jack Sepoy mag in der Lage sein, wehrlose Leute niederzumetzeln, aber richtigem Schneid hält er nicht stand.«
»Wann war das alles?«
»Was haben wir heute? Dienstag. Es war Sonntagabend.«
Ford hatte derweilen das Interesse an Meerut verloren, aber von Burlton konnte Fleury in etwa erfahren, was geschehen war. Zwei Eingeborenenregimenter der Infanterie hatten ihre Offiziere erschossen und offen revoltiert; bald hatten sich die badmashes* aus dem Basar hinzugesellt und waren plündernd über das britische Kantonnement hergefallen. Während des Ausbruchs der Unruhen waren die britischen Truppen zur Kirchenparade gewesen. Am Ende hatten sie den Aufstand niederschlagen können, aber die Meuterer waren mit den Feuerwaffen entflohen. Die Telegraphendrähte waren gekappt worden, kaum dass die erste Nachricht von den Ereignissen eingetroffen war, aber es kursierten alle möglichen grausigen Gerüchte. Krishnapur lag fast fünfhundert Meilen von den Unruhen entfernt. Dennoch, Nachrichten verbreiteten sich in Indien auch ohne Telegraphen in Windeseile … man brauchte nur an die Geschwindigkeit zu denken, mit der sich die Chapatis verbreitet hatten. Was niemand wusste, war, ob die in Captainganj stationierten Sepoys dem Beispiel folgen und das Kantonnement von Krishnapur angreifen würden.
»Ant! Monkey! Simkin her, aber dalli!«
»Natürlich wissen sie es schon, kann gar nicht anders sein«, sagte Burlton. »Es haut mich um, Rayne, wie diese verflixten Eingeborenen eher davon hören konnten als ich. Heute Morgen habe ich mitgehört, wie die Babus* im Büro des Magistrate über Meerut redeten. Sie sagten, die rebellierenden Sepoys seien auf dem Marsch nach Delhi, und bald würde das Mogulreich wiederauferstehen.«
»Wers glaubt, wird selig! Die Leute wissen, wo es ihnen gut geht. Das würden sie nicht zulassen.«
»Nun ja, sie schienen zu glauben, dass es so kommen kann. Sie wollten wissen, wer die zweiundfünfzig Rajas sind, die sich versammeln würden, um den Kaiser auf den Thron zu heben.«
Aber Rayne und Ford waren an Burltons Hirngespinsten nicht interessiert, und Ford sagte vernichtend: »Das Erste, was man in Indien lernt, Burlton, ist, nicht auf den verdammten Unsinn zu hören, den die Eingeborenen immer verzapfen.« Woraufhin der arme Burlton vor Scham errötete und Fleurys Blick mied.
Inzwischen hatte sich Fleury an die Dunkelheit gewöhnt und konnte erkennen, dass Ford ein Mann mit groben Gesichtszügen um die vierzig war; trotz seines geringeren gesellschaftlichen Status als Ingenieur hatte er Rayne und Burlton eindeutig im Griff. Ford sagte unangenehm: »Vielleicht wird Mr. Fleury uns erzählen, was er darüber denkt, wo er doch so viele Busenfreunde unter den ›hohen Tieren‹ in Fort William hat.«
»Also, was ich denke, ist Folgendes«, begann Fleury … doch was er dachte, wurde nie enthüllt, denn in diesem Moment sprangen seine Gesprächspartner plötzlich auf. Vor Schreck sprang auch Fleury auf; nach dem ganzen Gerede über Meuterei lagen seine Nerven blank. Aber es waren nur die beiden Ladies, die den Raum betraten.
»Was für ein widerwärtiges Geschöpf!«, rief Mrs. Rayne aus, ein reizendes Lächeln auf dem Gesicht.
»Wie bitte?«
»Oh, Burlton. Würde es Ihnen etwas ausmachen, dem kleinen Wichtelmann zu sagen, dass er frischen simkin für die Ladies bringen soll?«
»Haben Sie nicht von der Frau im dak bungalow gehört, Mr. Fleury, eine Engländerin, die sich schändlich benommen hat? Wie ich höre, war der Padre schon mehrfach draußen, um sie zur Vernunft zu bringen.«
»Kann man dieses liederliche Mädchen nicht wegschicken?«, fragte Mrs. Ross. »Sie kann doch nicht ewig im dak bungalow bleiben. Und das Recht, in der Gesellschaft tugendhafter Frauen zu leben, hat sie endgültig verwirkt.«
»Ist es denn wahr, Sophie«, stichelte Ford, »dass
›… alles Leid ein Recht auf Tränen hat im Lande,
nur nicht der gefehlten Schwester Schande‹?«*
Ford hatte seinen Sessel näher an den von Mrs. Ross gezogen und seine lethargische Haltung aufgegeben.
»Wie sehr wünschte ich mir, Florence hätte ein Klavier«, jammerte Mrs. Ross, abrupt das Thema wechselnd. »Meine Finger brennen regelrecht darauf, zu spielen. Ich fürchte, Mr. Fleury wird in Krishnapur gar wenig von den Annehmlichkeiten der Zivilisation finden, habe ich recht?« Mit weit geöffneten Augen sah sie Fleury fragend an.
»Also«, begann Fleury, aber wieder wurde er unterbrochen, diesmal durch etwas, was wie ein tobender Tornado auf der Veranda und der zu ihr hinaufführenden Holztreppe war. Ein solches Krachen und Rumsen erschütterte das Haus, dass die Gentlemen auffuhren und zu den mit Luftschlitzen versehenen Flügeltüren strebten, um nach dem Rechten zu schauen. Doch kaum hatten sie ein paar Schritte getan, da flogen die Türen auf und ein junger Offizier, den Fleury sofort als Leutnant Cutter erkannte, ritt wild um sich blickend, schreiend und einen Säbel schwingend auf dem Rücken eines Pferdes in den Raum. Die Ladies fassten sich an die Brüste und wussten nicht, ob sie vor Angst oder vor Lachen kreischen sollten, als Cutter, sein Gesicht genauso rot wie seine Uniform, das sich sträubende Pferd in den Raum trieb und auf ein leeres Sofa zuhielt. Mit einem Satz ging es drüber, glatt wie ein Zirkuspony, und landete, rutschend, mit dröhnendem Gepolter auf der anderen Seite. Cutter machte kehrt, köpfte säbelschwingend eine eingetopfte Geranie, wendete sein Pferd und trieb es erneut auf das Sofa zu. Aber diesmal verweigerte das Tier und Cutter glitt, immer noch den Säbel in der Hand, vom Pferderücken auf den Boden. »Ergeben Sie sich, Sir?«, bellte er ein Kissen auf dem Sofa an, den Arm zum Stoß bereit zurückgezogen.
»Ja, es ergibt sich!«, kreischte Mrs. Rayne.
»Nein, es fordert Sie heraus«, rief Ford.
»Dann sterben Sie, Sir!«, schrie Cutter und stürzte das Kissen aufspießend vorwärts, wobei er im Eifer des Gefechts an einem Teppich hängenblieb und infolgedessen in einem Wirbelwind von Federn auf den Boden stürzte.
»Das ist nur ein Scherz«, erklärte Burlton Fleury, der ob dieser jüngsten Entwicklung ebenso erstaunt wie erschüttert war. »Der führt immer was im Schilde. Was für ein Clown er ist!«
»Wer ist dieser Griffin?«, schrie Cutter, während er sich von dem Teppich, in dem er sich mit den Sporen verhaspelt hatte, freikämpfte. »Wer ist dieser Milchbart? Ergeben Sie sich, Sir?« Und den Säbel erneut zurückziehend, schien er drauf und dran zu sein, Fleury zu durchbohren.
»Ja, er ergibt sich!«, riefen alle außer Fleury, der einfach nur dastand, zu verwirrt, um zu sprechen, während die Säbelspitze über die Knöpfe seiner Weste patrouillierte.
»Oh, dann ist es ja gut«, sagte Cutter. »Nein danke, Rayne, Ihren Kalkutta-Champagner können Sie behalten. Ich trinke nur Todd and James, mein Pferd trinkt diesen Dreck. Monkey, bring mir Brandy-pawnee*.« Aber Monkey wusste offenbar, was Leutnant Cutter schmeckte, denn er eilte bereits mit einem Tablett herbei.
»Trinkt Beeswing wirklich simkin?«, wollte Mrs. Rayne nun wirklich wissen, denn wie es schien, hatte Cutter seinem Pferd den Namen der gefeierten Kalkutta-Stute gegeben. Sogleich sprang Cutter, der matt auf das federbestreute Sofa gesunken war, indem er Stiefel und Sporen über das Ende baumeln ließ, mit einem Brüllen wieder auf, und nun kannte er nichts mehr: Beeswing, der die ganze Zeit geduldig am Fenster gestanden hatte, gelegentlich den Kopf senkend, um versuchsweise den Perserteppich unter seinen Hufen abzufressen, musste sich der Gesellschaft anschließen und sein Maß trinken. Ram beeilte sich, eine neue Flasche und eine Schüssel zu holen, doch Cutter ignorierte die Schüssel und ergriff einen Tropenhelm von einem Beistelltisch; dort hinein ließ er den Inhalt der Flasche plätschern, während er sein Pferd mit Wiehern und Rufen ermunterte. Als der Champagner ihm unter die Nase gehalten wurde, begann Beeswing, durstig von dem Kanter in der Hitze des späten Nachmittags, ihn gierig aufzulecken.
Die Sonne stand schon tief am Horizont, und Fleury drängte es nach Hause, um zu sehen, ob Miriam zurück war, und in Erfahrung zu bringen, ob die Dunstaples ihn vielleicht zum Abendessen einladen wollten. Doch um Beeswing herrschte eine solche Ausgelassenheit, dass er größte Schwierigkeiten hatte, die Aufmerksamkeit seines Gastgebers zu bekommen.
»Was? Sie gehen schon?«, rief Rayne. »Ich hatte noch nicht mal die Möglichkeit, mit Ihnen zu reden … Ein Gespräch über Zivilisation, das war es, was ich haben wollte! Fragen Sie Mrs. Rayne, ob ich nicht zu ihr sagte: ›Ich werd ihn rüberbitten, und dann reden wir ernsthaft über Zivilisation.‹ Meine Worte, ich schwöre es. Und jetzt machen Sie sich aus dem Staub.«
»Ich würde nur allzu gerne … ein andermal, vielleicht. Wäre es möglich, einen Ihrer Träger zu bitten, mich zu begleiten?«
Rayne brüllte einen Befehl, aber dann musste er seine Aufmerksamkeit wieder Cutter zuwenden, der mit Ford gerade eine extravagante Wette abgeschlossen hatte, nämlich um ein Dutzend Clarets, dass er und Beeswing mit einem einzigen Satz von draußen über die Veranda durchs Fenster des Gesellschaftszimmers ins Haus springen könnten. Fleury sagte den Ladys auf Wiedersehen und eilte von dannen, Chloë schnüffelnd voraus; er hatte nicht die geringste Lust, dieses waghalsige Kunststück zu beobachten.