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Aber wie schneidet die „Spiritualität" im Ideologie-Test ab?

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Noch ein weiteres Kriterium muss bei den Definitionen von Spiritualität berücksichtigt werden: Besteht die jeweilige Beschreibung von Spiritualität den „Nazi-Test“? In einer Rede, die Heinrich Himmler am 4. Oktober 1943 vor SS-Gruppenführern in Posen hielt, fasste er die Moral der Nazis im Dritten Reich folgendermaßen zusammen:

Ein Grundsatz muss für den SS-Mann absolut gelten: ehrlich, anständig, treu und kameradschaftlich haben wir zu Angehörigen unseres eigenen Blutes zu sein und zu sonst niemandem. Wie es den Russen geht, wie es den Tschechen geht ist mir total gleichgültig. (Jüdische Öffentliche Bibliothek)

Kann eine spezielle Definition von Spiritualität eine Unterscheidung zwischen Mutter Teresa und Heinrich Himmler treffen? Das heißt, hilft sie, zwischen jemandem zu unterscheiden, für den Sinn und Ziel im Mitgefühl für die von der Gesellschaft Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten verankert sind, und jemandem, für den Sinn und Ziel in der Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen außerhalb der eigenen Identifikationsgruppe verankert sind? Auch wenn der Unterschied offen zutage zu liegen scheint, ist er häufig dennoch nicht so deutlich.

Im Allgemeinen haben diejenigen Definitionen, die Spiritualität vor allem als eine Quelle höchster Sinnhaftigkeit und Verbundenheit beschreiben, Schwierigkeiten, den Ideologie-Test zu bestehen. In den letzten Jahren haben viele versucht, Spiritualität von dem formalen Begriff der Religion zu trennen, indem sie Spiritualität mehr von der persönlichen Seite her betrachten, als Quelle von Sinn und Lebensziel für den Einzelnen oder als Sinn für Verbundenheit des Einzelnen mit anderen, und zwar in einem Ausmaß, dass beinahe alles, was Sinn und Verbundenheit stiftet, als „meine persönliche Spiritualität“ gelten kann. In ihrem Ausbildungsprogramm für Ärzte kündigte die Association of American Medical Colleges (Ärztevereinigung) an, Lehrpläne für die Medizinerausbildung, die Spiritualität und Gesundheit als Lehrgebiet aufnehmen, zu unterstützen, wobei Spiritualität betrachtet wird als „die Suche des Individuums nach dem höchsten Sinn durch Teilhabe an einer Religion und/oder dem Glauben an Gott, durch Familie, Rationalismus, Humanismus und die Künste“ (Association of American Medical Colleges 1999). Dass Spiritualität in dieser Weise in Zusammenhang mit den letzten Dingen, tiefen sinnstiftenden Quellen oder positiven Gefühlen gestellt wird, ist sicher Bestandteil der meisten spirituellen Traditionen. Solche Definitionen können jedoch nicht ohne weiteres zwischen Heiligen und Dämonen unterscheiden, wenn beide ihre Energie aus Quellen schöpfen, die größer sind als sie selbst. Zwei Themen der persönlichen Spiritualität sind am besten dazu geeignet, sie von den ideologischen „Ismen“ zu unterscheiden: der Einsatz für die Beziehung von Mensch zu Mensch, die völlig frei von jeglicher gesellschaftlicher Kategorisierung ist, und eine Ethik des Mitfühlens, das sich auf alle Menschen erstreckt, selbst auf diejenigen, die außerhalb der eigenen religiösen oder gesellschaftlichen Gruppe stehen. Andere Hauptthemen im Zusammenhang mit der Spiritualität eignen sich weniger für eine klare Unterscheidung. Es ist durchaus möglich, ein Leben voller Hingabe an Gott zu führen, aus den heiligen Schriften Sinn abzuleiten, die Gemeinschaft mit anderen Gläubigen zu erfahren und sich selbstlos den Zielen der Religionsgemeinschaft zu widmen und dennoch Gleichgültigkeit oder sogar Hass gegenüber denjenigen an den Tag zu legen, die nicht zu der eigenen Religionsgemeinschaft gehören oder die gleiche religiöse Identität teilen. Aufmerksamkeit und Verantwortung für das Wohlergehen der Außenstehenden eignen sich am besten dafür, die persönliche Spiritualität von anderen machtvollen gesellschaftlichen Prozessen religiöser und nichtreligiöser Art zu unterscheiden, die ebenfalls existenzielle Sinnangebote und ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen anbieten. Der Nazi-Test richtet die Aufmerksamkeit auf die Qualität der Beziehung zu denjenigen, die außerhalb der eigenen Gruppe leben. Spiritualität bezieht sich auf Personen, nicht auf Kategorien. Spiritualität erweitert die menschliche Verbundenheit auf diejenigen, die nicht den eigenen Glaubensüberzeugungen und -praktiken folgen oder nicht zu der eigenen spirituellen Gemeinschaft gehören. Religiosität ist dann keine Spiritualität, wenn erst nach der Unterscheidung ob jemand „einer von uns“ ist oder nicht, Beziehungen aufgenommen werden.

Die eigene Spiritualität von religiösen oder ideologischen Bestrebungen abzukoppeln ist häufig ein kritisches Unterfangen. Meine eigenen Erfahrungen mit diesen Unterscheidungen sind oft sehr eindringlich gewesen. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Einer meiner Klassenkameraden in der High School war Mitglied des Ku-Klux-Klan. Seine Art zu reden war häufig eine nahtlose Verbindung aus Bibelzitaten und weißer Arroganz, die zu einer streng logisch verknüpften Ideologie ausgearbeitet war. Er brachte es tatsächlich fertig, mich mit seiner Frömmigkeit zu beschämen. Seine Träumereien, seine Überzeugtheit und seine Begeisterung, wenn er von einer Gesellschaft sprach, die die Reinheit unserer Rasse schützen würde, ließen deutlich erkennen, dass er für seine Überzeugungen kämpfen und vielleicht sogar sterben würde. Wie konnte man diese Haltung von derjenigen der Jünger Jesu unterscheiden, die den Märtyrertod starben?

Im Laufe der Jahre habe ich noch weitere verträumte Ideologen kennen gelernt, Juden, Muslime, Hindus oder Vertreter verschiedener christlicher Sekten, die allesamt Einfühlungsvermögen und Mitgefühl auf ihre eigene Religionsgemeinschaft beschränkten. Zwischen persönlicher Spiritualität und religiösem Eifer zu unterscheiden wurde zu einem pragmatischen Anliegen, als ich begann, beruflich in einem multikulturellen Umfeld zu arbeiten, in dem sich viele verschiedene ethnische und religiöse Gruppen mischten. Das Problem schien darin zu liegen, dass die Religion den Einzelnen auf vielfältigen Wegen für die Kämpfe des Lebens aufrichten, stärken und kräftigen konnte, deren an der Oberfläche liegenden Ähnlichkeiten über die tiefer liegenden Unterschiede hinwegtäuschten. Einer dieser Wege, die soziobiologische Religion, wurde über die Ideologie, die Rollen, die Verantwortlichkeiten und die Hierarchie der eigenen Religionsgemeinschaft zugänglich gemacht. Ein anderer Weg, die persönliche Spiritualität, wurde dagegen durch gefühlsmäßige Verbundenheit zwischen einzelnen Menschen zugänglich gemacht, die jeweils von Mensch zu Mensch in der Einzigartigkeit ihres Wesens das Leben des anderen berührten.

Religion hilft, Religion schadet

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