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Persönliche Spiritualität und soziobiologische Religion driften manchmal stark auseinander

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Als allgemeine Regel lässt sich sagen, dass die Religion dann Gefahr läuft, für einzelne Menschen schädliche Auswirkungen zu haben, wenn eines der oben erörterten sechs Themen der persönlichen Spiritualität blockiert oder nicht vorhanden ist, so dass die Religiosität einzig über ihre Soziobiologie definiert wird. Die soziobiologische Religion gründet sich auf ihren Bezug zu normativen Vorgaben aus sozialen Systemen. Spiritualität entsteht, wie Kunst, durch den kreativen Ausdruck individuellen Empfindens. Wenn das religiöse Leben nicht mehr Medium für den individuellen Ausdruck ist, läuft es Gefahr, potenziell Menschen zu schaden.

Persönliche Spiritualität und soziobiologische Religion können an neuralgischen Punkten auseinanderdriften, wenn es nicht gelingt, ihre Hauptziele aufeinander abzustimmen. Es gibt eine inhärente Spannung. Zu den schwersten Formen des Missbrauchs von Religion gehört die Gewalt gegenüber „dem Fremdem“, der außerhalb der religiösen Gruppe steht. Rassismus oder Stammesdenken sind eine natürliche Folge, wenn Verwandtenselektion und Gemeinschaftsbildung der Personenbezogenheit gegenüber Vertretern von Außengruppen den Weg verstellen. Mitglieder religiöser Gruppen sind auch selbst gefährdet, wenn ihre Unterordnung unter eine Rollenwahrnehmung und Autorität eine mitfühlende Beziehung zu dem eigenen Selbst verhindert, wie es Karen Armstrongs „The Spiral Staircase“ (2004) (Das spirituelle Treppenhaus) anschaulich schildert. Machtvoll erlebte Begegnungen mit dem Heiligen, wie sie in der persönlichen Spiritualität stattfinden, führen einzelne Menschen häufig auf eigenwillige Wege und in Konflikte mit den religiösen Verhaltensweisen wie sie von kirchlichen Autoritäten vorgeschrieben werden.

Der polnische Auslandskorrespondent Ryszard Kapuscinski (2008, S. 36) hat dieses menschliche Rätsel gut in seinen Betrachtungen über die Gewalt beschrieben, die er aus erster Hand in Afrika, Asien und Mittelamerika erfahren hat: „Der Mensch ist, wenn er allein ist, gewöhnlich ‚menschlicher‘ als wenn er Mitglied einer Menge, einer aufgebrachten Masse, ist. Einzeln sind wir klüger und besser, weniger gewissenlos. Der Anschluss an eine Gruppe kann aus einem ruhigen, freundlichen Einzelnen einen Teufel machen.“ Die soziobiologische Religion ist der Ursprung des „Gruppenwesens“ im religiösen Leben und die persönliche Spiritualität ist der Ursprung des „Allein-Seins“.

Die Fallbeispiele aus dem klinischen Alltag, die in diesen Kapiteln geschildert werden, konzentrieren sich größtenteils auf Interventionen, die auf die Bereiche der persönlichen Spiritualität abzielen – die Bezogenheit auf die ganze Person, eine Ethik des Mitfühlens, persönliche Begegnungen mit dem Heiligen, die Mobilisierung existenzieller Haltungen der Widerstandskraft und der Vorrang der einzelnen Person gegenüber der Gruppe –, um so der Spiritualität innerhalb der religiös geprägten Entscheidungsfindung von Patienten in Medizin und Psychiatrie wieder eine Stimme zu geben.

Religion hilft, Religion schadet

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