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Vergrößern von Krankheit und Leiden: Die dunkle Seite der Religion

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Dieser moralische Dualismus der Religion hat für Kliniker, die den Einfluss der Religion auf das Leben ihrer Patienten beobachten, eine praktische Bedeutung. Religiöse Überzeugungen haben großen Einfluss darauf, wie Menschen die Probleme, derentwegen sie medizinische Hilfe in Anspruch nehmen, wahrnehmen, wie sie darüber denken und wie sie darauf reagieren. Für viele erweisen sich diese religiösen Einflüsse als gesundheitsfördernd, für manche jedoch nicht. Einige Beispiele – und damit ist die Liste keineswegs erschöpft – unterstreichen diese Beobachtung.

Ms. Ames, eine 56-jährige Afro-Amerikanerin, wurde von ihren Kollegen wegen ihres beruflichen Erfolgs bewundert, zu dem sie es trotz Rassendiskriminierung und einer Kindheit in Armut in den Südstaaten gebracht hatte. Nun war sie jedoch auf rätselhafte Weise krank geworden. Plötzlich und ohne Vorwarnung konnte sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen, stürzte zu Boden und fing an unkontrolliert mit ihren Armen und Beinen zu zucken. Sie konnte nicht mehr sicher Auto fahren und begann sich zu fragen, ob sie aufgrund ihrer krankhaften Ausfälle ihren Beruf aufgeben sollte. Die üblichen Gaben krampflösender Medikamente konnten nicht helfen, die Anfälle zu stoppen. Schließlich wurde Ms Ames stationär in ein renommiertes Zentrum für Epilepsiediagnostik aufgenommen, in dem man ihre Anfälle auf Video aufzeichnen konnte, während die Hirnströme kontinuierlich über einen Monitor beobachtet wurden. Diese Untersuchung erbrachte ein überraschendes Ergebnis: Ihre Anfälle wurden keinesfalls durch eine Epilepsie ausgelöst. Vielmehr handelte es sich um eine ganz und gar stressinduzierte Verhaltensstörung. Eine psychiatrische Sprechstunde offenbarte daraufhin eine andere Geschichte ihrer Krankheit. Als Kind war Ms. Ames von ihrem alkoholkranken Vater körperlich misshandelt worden und musste regelmäßig zusehen, wie auch ihre Mutter geschlagen wurde. Wie viele andere, die Misshandlungen in der Kindheit überlebt haben, trug sie bis in ihr Erwachsenenleben hinein eine dauerhafte Verletzbarkeit in sich, und ihr ständig alarmbereiter Körper reagierte sofort, sobald auch nur die Spur eines Konflikts erkennbar war. Wütende Stimmen oder Streit lösten diesen Alarm sofort aus. Im schlimmsten Fall, wenn sie dem Konflikt länger ausgesetzt war, rief dies einen Benommenheitszustand und anfallartiges Zucken der Arme und Beine hervor.

Der gegenwärtige Auslöser für Ms. Ames’ Symptome war ihre Ehe. Ihr Ehemann, der es in seiner beruflichen Laufbahn nicht besonders weit gebracht hatte, fühlte sich herabgesetzt, wenn seine berufliche Tätigkeit mit der öffentlichen Anerkennung seiner Ehefrau als Anwältin verglichen wurde. Er verfügte über eine niedrige Frustrationstoleranz und machte ihr dann ständig Vorhaltungen. Manchmal hielten die Tiraden stundenlang an, obwohl sie versuchte, ihn zu beruhigen. Ms. Ames glaubte, dass ihre Heirat ein Fehler gewesen war. Ihre Freunde rieten ihr, sich scheiden zu lassen. Doch sie glaubte auch an die Unauflöslichkeit der auf Erden geschlossenen Ehe. Für sie als Christin, glaubte sie, kam eine Scheidung nicht infrage. Sie versuchte weiterzumachen und hielt die verbalen Misshandlungen geheim, selbst als ihre Anfälle schlimmer geworden waren. Das Beharren auf ihrer religiösen Überzeugung wurde zu einem aktiven Auslöser für die Entstehung ihrer Krankheit.

Die Geschichte von Ms. Ames ging schließlich doch gut aus. Sie akzeptierte die Befunde ihres Neurologen und Psychiaters bezüglich der nicht-epileptischen Ursache ihrer Symptome. Sie begann die Verbindungen zwischen ihren Anfällen und der Aufregung, die sie empfand, wenn ihr Ehemann seiner Wut Luft machte, wahrzunehmen und darüber nachzudenken. Sie nahm ihr Dilemma mit ins Gebet. Allmählich verschob sich ihr spiritueller Fokus von der Furcht, gegen die Lehren ihrer Kirche zu verstoßen, hin zu einer Sichtweise ihrer Anfälle als „Weckruf Gottes“, der ihr deutlich machte, dass sie ihrer Gesundheit erste Priorität einräumen müsste, da sie ihr sonst ganz genommen würde. Sie nutzte ihre Psychotherapie dazu, die Trennung und Scheidung von ihrem Mann anzusteuern. Mit dem Ende ihrer Ehe hörten auch ihre Anfälle vollständig auf. Sie begann ein neues Leben mit frischem Schwung und fühlte sich dabei sowohl durch ihren Glauben als auch durch ihre Familie, Freunde und Ärzte unterstützt.

Im Gegensatz dazu nahm die Geschichte von Mr. Chin ein nicht so gutes Ende. Mr. Chin, ein älterer Chinese mit einem freundlichen Gesicht, hatte sich bei einem Sturz einen Oberschenkelhalsbruch zugezogen und weigerte sich nun, sich operieren zu lassen. Auch wenn er vermutlich auch ohne Operation überleben würde, würde er doch mit einem verkürzten Bein leben müssen, chronische Schmerzen ertragen und nur mit einer Gehhilfe laufen können. Man holte eine psychiatrische Begutachtung ein, um festzustellen, ob Mr. Chin in einer bewussten Entscheidung die Operation ablehnen konnte. Im Gespräch mit Mr. Chin über die Empfehlungen des Chirurgen wurde schnell klar, dass er die medizinischen Fakten seiner Verletzung, warum die Operation empfohlen wurde, und die Risiken, wenn er sie ablehnte, verstand. Ebenso wurde deutlich, dass er keine psychiatrische Störung aufwies, die sein Denken beeinträchtigt hätte. Stattdessen argumentierte er sehr bewusst innerhalb des Systems seines Glaubens. Mr. Chin war Anhänger des Falun-Gong-Glaubens. Er wollte auf seine spirituelle Meditation, seinen Glauben und die Unterstützung seiner Falun-Gong-Gemeinde vertrauen, um seine körperliche Heilung zu erreichen. Er zeigte mir religiöse Literatur des Falun-Gong-Glaubens, die voll von dramatischen, in der ersten Person geschriebenen Berichten von Leuten war, die durch ihr Vertrauen in Falun Gong von schrecklichen und aussichtslosen Krankheiten geheilt worden waren. Mr. Chin hatte sich in den Jahren der Verfolgung durch die chinesische Regierung, bevor er in die Vereinigten Staaten emigriert war, hartnäckig an seinen Glauben geklammert. Im Alter wollte er sich nicht von den Überzeugungen und Praktiken des Falun-Gong lösen, die so lange Zeit seine Identität bestimmt hatten. Nach einem langen Interview, unterstützt von einem Mandarin-Übersetzer, kam ich zu dem Schluss, dass Mr. Chin in der Lage war, seine eigenen medizinischen Entscheidungen zu treffen und auch eine Operation abzulehnen. Seiner Bitte, in die Obhut seiner Falun-Gong-Gemeinde entlassen zu werden, wurde stattgegeben.

Manchmal beschleunigen religiöse Zusammenhänge nicht direkt den Fortschritt einer Krankheit, verstärken aber unnötig ihre Qual. Ms. Dylan war eine junge Frau, die an Multipler Sklerose erkrankt war. Eine psychiatrische Sprechstunde wurde gewünscht, um ihre depressive Stimmung zu behandeln. Im Gespräch wurde das Ausmaß ihrer Belastung unmittelbar deutlich. Dennoch wies sie keine Symptome einer ständigen Gemütsstörung auf, wie es bei vielen Multiple-Sklerose-Patienten der Fall ist. Ihre Verfassung war auf einer quantitativen Skala zur Beurteilung von Depressionen sogar als normal einzustufen. Da mir der schuldbewusste Unterton auffiel, mit dem sie von ihrer Krankheit sprach, fragte ich Ms. Dylan, ob sie jemals das Gefühl gehabt habe, diese sei eine Strafe. Sie nickte und gab zu, sie habe als Teenager ein promiskes Leben geführt. Sie glaubte daran, dass alle Dinge, die in ihrem Leben geschahen, unter der Herrschaft Gottes geschähen: „Wenn du etwas Falsches tust, wirst du bestraft“, hatte sie als kleines Mädchen gelernt. Nun glaubte sie, sie sei als Strafe Gottes für ihr Verhalten mit Multipler Sklerose geschlagen worden. Ich sagte ihr, dass ich das anders sähe, aber verstünde, wie sie so etwas glauben könne. Wenn sie das trotzdem glaubte, glaubte sie auch, dass es einen Weg gebe, die Strafe aufzuheben? „Durch Gebet und die Bitte um Vergebung“, antwortete sie. Ich fragte sie, ob sie gebetet habe. „Ich habe lange nicht gebetet, weil ich geglaubt habe, dass Gott böse auf mich sei.“ „Haben Sie Angst zu beten?“, fragte ich. „Ja, bei all dem, was ich getan habe, habe ich nicht das Recht zu beten.“

Ich setzte mich mit Ms. Dylan und ihrem Psychotherapeuten zusammen, um zu erklären, warum ich ein Antidepressivum nicht für hilfreich hielt. Ich empfahl ihnen, das Zerbrechen der Beziehung zwischen Ms. Dylan und ihrem Gott in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen, weil ich hoffte, dies könnte einen neuen Weg eröffnen, ihrer Krankheit einen Sinn zu geben.

Die Geschichten von Mr. Lankton, Ms. Ames, Mr. Chin und Ms. Dylan werden später in diesem Buch noch einmal betrachtet. An dieser Stelle halte ich einfach nur fest, dass jeweils die religiösen Überzeugungen, von denen man hoffen sollte, dass sie den Menschen helfen, die Schwierigkeiten des Lebens zu überwinden, stattdessen Krankheit und Leiden verschlimmert haben. Ihre medizinischen Probleme zu behandeln hieß daher, bei diesen nachteiligen Einflüssen ihrer jeweiligen Religionen anzusetzen.

Religion hilft, Religion schadet

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