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Wahre Magie Lancaster, Kalifornien, 1968

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Der Tag, an dem ich merkte, dass mein Daumen fehlte, begann wie jeder Tag in jenem Sommer, bevor ich in die achte Klasse kam. Ich verbrachte die Zeit damit, auf meinem Fahrrad durch die Stadt zu fahren, auch wenn es manchmal so heiß wurde, dass sich das Metall meiner Lenkstange in eine glühende Herdplatte zu verwandeln schien. Ich konnte ständig Staub im Mund schmecken – körnig und krautig wie der gelbe Hasenpinsel und der Kaktus, die in der Wüstensonne und der Hitze ums Überleben kämpften. Meine Familie hatte wenig Geld, und ich war oft hungrig. Ich hasste es, hungrig zu sein. Und ich hasste es, arm zu sein.

Lancaster kannten die meisten Menschen nur deshalb, weil Chuck Yeager nahe der Edwards Air Force Base zwanzig Jahre zuvor die Schallmauer durchbrochen hatte. Den ganzen Tag flogen Flugzeuge über uns hinweg, Piloten wurden trainiert und neue Maschinen getestet. Ich fragte mich, wie sich Chuck Yeager wohl gefühlt haben mochte, als er seine Bell X-1 mit Überschallgeschwindigkeit flog, was keinem Menschen zuvor gelungen war. Wie klein und verlassen muss ihm Lancaster aus 45 000 Fuß Höhe erschienen sein, als er mit Geschwindigkeiten dahinschoss, die niemand für möglich gehalten hatte. Selbst mir erschien die Stadt klein und verlassen, und meine Füße waren gerade mal einen Fuß vom Boden entfernt, als ich auf meinem Fahrrad durch die Gegend radelte.

Am Morgen hatte ich gemerkt, dass mein Daumen fehlte. Ich hielt unter meinem Bett eine Holzkiste versteckt, in der ich meine wertvollsten Schätze aufbewahrte: ein kleines Notizbuch, in das ich meine geheimen Gedichte gekritzelt hatte, und kuriose Dinge, die ich irgendwo aufgeschnappt hatte – darunter »Täglich werden auf der Welt zwanzig Banken ausgeraubt«, »Schnecken können bis zu drei Jahre lang schlafen« oder »Wer einem Affen in Indiana eine Zigarette gibt, macht sich strafbar«. In der Kiste lag auch ein zerlesenes Exemplar von Dale Carnegies Buch Wie man Freunde gewinnt. Die Kunst, beliebt und einflussreich zu werden. Die Seiten, auf denen die sechs Prinzipien standen, mit denen man andere dazu bringen konnte, einen zu mögen, hatten Eselsohren. Ich konnte die sechs Punkte auswendig.

1.Interessieren Sie sich aufrichtig für andere.

2.Lächeln Sie.

3.Denken Sie daran: Für alle Menschen klingt der eigene Name am süßesten – in allen Sprachen.

4.Seien Sie ein guter Zuhörer. Ermuntern Sie andere, über sich selbst zu sprechen.

5.Sprechen Sie von Dingen, die den anderen interessieren.

6.Sorgen Sie dafür, dass der andere sich wichtig fühlt – und zwar ganz ernsthaft.

Ich versuchte, all diese Punkte zu beherzigen, wenn ich mit jemandem sprach, aber ich lächelte immer mit geschlossenem Mund, weil ich als Kleinkind hingefallen war, mir die Oberlippe am Couchtisch aufgeschlagen und dabei einen vorderen Milchzahn verloren hatte. Deshalb wuchs später mein Zahn schief nach und war dunkelbraun verfärbt. Meine Eltern hatten nicht genügend Geld, um diesen Makel zu beheben. Ich fand es peinlich, zu lächeln und dabei meinen schiefen und verfärbten Zahn zu zeigen, also hielt ich den Mund die meiste Zeit über geschlossen.

Neben dem Buch bewahrte ich in meiner Holzkiste auch all meine Zaubertricks auf – einen Stapel mit gezinkten Spielkarten, Trickmünzen, die ich von Fünf- in Zehncent-Stücke verwandeln konnte, und meinen wertvollsten Besitz: einen Plastikdaumen, in dessen Innerem ich ein Seidentuch oder eine Zigarette verstecken konnte. Das Buch und meine Zaubertricks hatten für mich große Bedeutung: Es waren Geschenke meines Vaters. Mit dem Plastikdaumen hatte ich unzählige Stunden geübt. Ich hatte gelernt, wie ich meine Hände halten musste, damit der Schwindel nicht aufflog, und wie ich ein Seidentuch oder eine Zigarette so sanft hineinstopfte, dass es aussah, als wären sie auf magische Weise verschwunden. Ich konnte meine Freunde und unsere Nachbarn im Wohnblock inzwischen geschickt täuschen. Aber heute fehlte mein Plastikdaumen. War verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Und ich nicht besonders davon begeistert.

Mein Bruder war wie meistens nicht zu Hause, aber ich vermutete, dass er es war, der meinen Plastikdaumen an sich genommen hatte, oder dass er zumindest wusste, wo ich ihn finden konnte. Ich hatte keine Ahnung, wohin er sich jeden Tag verzog, aber ich beschloss, mich auf mein Fahrrad zu setzen und ihn zu suchen. Der Plastikdaumen war mein wertvollster Besitz. Ohne ihn war ich nichts. Ich musste meinen Daumen unbedingt wiederhaben.

Ich fuhr durch ein verlassen wirkendes Einkaufszentrum an der Avenue I – eine Gegend, die normalerweise nicht zu meiner Strecke gehörte, denn außer dem Einkaufszentrum gab es dort im Umkreis von anderthalb Kilometern nichts als kahle Flächen, Gestrüpp und Maschendrahtzäune. Vor dem kleinen Supermarkt entdeckte ich eine Gruppe älterer Jungen, aber mein Bruder war nicht darunter. Ich war erleichtert, denn immer wenn ich meinen Bruder in einer Gruppe Halbstarker fand, bedeutete es, dass sie ihn provoziert hatten und ich mich in einen Streit verwickeln würde, um ihn zu verteidigen. Er war zwar anderthalb Jahre älter als ich, aber von kleinerer Statur, und Schlägertypen lieben es nun mal, sich auf diejenigen zu stürzen, die nicht in der Lage sind, sich zu verteidigen.

Neben dem Supermarkt befand sich der Laden eines Optikers, und neben diesem lag ein Geschäft, das mir vorher noch nie aufgefallen war: »Cactus Rabbit Magic Shop«. Ich hielt auf dem Gehsteig vor dem Einkaufszentrum und ließ meinen Blick neugierig über den Parkplatz wandern. Die gesamte Fassade des Ladens bestand aus fünf senkrecht angeordneten Schaufenstern und einer gläsernen Eingangstür auf der linken Seite. Die Sonne spiegelte sich in den staubbedeckten Fensterscheiben, sodass ich nicht erkennen konnte, ob sich jemand im Laden aufhielt. Trotzdem schob ich mein Fahrrad zum Eingang, in der Hoffnung, dass der Laden geöffnet hatte. Ich wollte wissen, ob sie im Laden Plastikdaumen verkauften und wie teuer sie waren. Ich hatte zwar kein Geld, aber fragen kostete ja nichts. Ich lehnte mein Fahrrad an einen Pfosten vor dem Geschäft und schielte kurz zu der Gruppe der Jungen vor dem Supermarkt. Sie schienen weder mich noch mein Fahrrad bemerkt zu haben, also ließ ich es, wo es war, und drückte gegen die Ladentür. Sie schien sich zuerst nicht bewegen zu wollen, aber dann, als wäre sie von einem Zauberstab berührt worden, gab sie mir den Weg frei und öffnete sich sanft. Ein Glöckchen klingelte über meinem Kopf, als ich den Laden betrat.

Das Erste, was ich sah, war die lang gestreckte Glastheke voller Kartenspiele, Zauberstäbe, Plastikkelche und Goldmünzen. An der Wand lehnten einige große schwarze Koffer, von denen ich wusste, dass sie für Zaubervorführungen benutzt wurden, und daneben standen hohe Regale voller Bücher über Magie und Illusionskunst. In einer Ecke gab es sogar eine Mini-Guillotine und zwei grüne Boxen, mit deren Hilfe man einen Menschen in der Mitte durchsägen konnte. Eine ältere Frau mit braunen Locken las in einem Taschenbuch, die Brille vorne auf der Nase. Sie lächelte, ihren Blick immer noch auf das Buch gerichtet, dann nahm sie die Lesebrille ab, schaute auf und sah mir geradewegs in die Augen, wie mich noch nie zuvor ein Erwachsener angesehen hatte.

»Ich bin Ruth«, sagte sie. »Und wie heißt du?«

Ihr Lächeln war so ansteckend und ihre Augen waren so braun und gütig, dass ich einfach zurücklächeln musste und darüber völlig meinen schiefen Zahn vergaß.

»Ich heiße Jim.« Bis dahin hatten mich alle Bob genannt. Mein zweiter Vorname war Robert. Allerdings kann ich mich nicht mehr daran erinnern, warum alle Bob zu mir sagten. Ich weiß nicht, aus welchem Grund, aber als sie mich fragte, sagte ich ihr, mein Name sei »Jim«. Und es war der Name, den ich für den Rest meines Lebens tragen sollte.

»Also, Jim. Ich freue mich sehr, dass du reingekommen bist.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte, und sie starrte mir weiterhin in die Augen. Dann stieß sie einen Seufzer aus, aber er war eher fröhlich als traurig.

»Was kann ich für dich tun?«

Für ein paar Sekunden hatte ich einen totalen Blackout. Ich konnte mich nicht mehr an den Grund erinnern, weshalb ich den Laden überhaupt betreten hatte, und plötzlich überkam mich dasselbe Gefühl, wie wenn man sich zu weit in einem Stuhl zurücklehnt und an den Punkt gelangt, wo der Stuhl ins Kippen gerät. Sie wartete geduldig und lächelte mich immer noch an, bis ich meine Sprache wiederfand.

»Mein Daumen«, antwortete ich.

»Dein Daumen?«

»Ich habe meinen Plastikdaumen verloren. Haben Sie welche?«

Sie sah mich an und zuckte fragend mit den Schultern, als hätte sie keine Ahnung, wovon ich eigentlich sprach.

»Für meine Zaubervorführungen. Es ist einer von meinen Tricks. Ein Daumenaufsatz aus Plastik.«

»Ich will dir ein Geheimnis verraten«, erwiderte Ruth. »Ich habe überhaupt keine Ahnung von Zaubertricks.« Ich sah auf die unendlich vielen Zauberartikel aller Art, die im Laden ausgestellt waren, und danach blickte ich wieder zu ihr, zweifellos mit Verwunderung.

»Der Laden gehört meinem Sohn, aber der ist gerade nicht da. Ich sitze nur hier und lese und warte darauf, dass er von seinen Besorgungen zurückkommt. Ich verstehe nichts von Zauberkunst oder Tricks mit falschen Daumen, es tut mir wirklich leid.«

»Danke. Ich wollte mich sowieso nur ein bisschen im Laden umsehen.«

»Klar, mach nur. Wenn du findest, wonach du suchst, sagst du mir einfach Bescheid.« Sie lachte, und obwohl ich nicht sicher war, weshalb sie lachte, war es ein angenehmes Lachen, das mich fröhlich stimmte, ohne dass es dafür einen bestimmten Grund gab.

Ich ging durch den Laden und betrachtete die endlosen Reihen mit Kartenspielen, Zauberrequisiten und Büchern. Es gab sogar eine ganze Vitrine mit Plastikdaumen. Ich spürte, wie mich ihre Blicke verfolgten, während ich herumstöberte, und obwohl ich wusste, dass sie mich anstarrte, tat sie es nicht auf dieselbe Weise wie der Typ, der den Supermarkt neben unserer Wohnung besaß. Ich bin ziemlich sicher, er dachte, ich würde etwas stehlen, und jedes Mal, wenn ich in seinen Laden ging, fühlte ich, wie seine argwöhnischen Blicke mich auf Schritt und Tritt verfolgten.

»Wohnst du in Lancaster?«, fragte Ruth.

»Ja«, erwiderte ich. »Aber am anderen Ende der Stadt. Ich bin gerade mit dem Rad vorbeigekommen, weil ich meinen Bruder suche, da habe ich den Laden entdeckt.«

»Magst du Zaubern?«

»Ja, sehr.«

»Was genau magst du denn so sehr daran?«

Ich wollte eigentlich bloß sagen, dass ich Zaubern irgendwie toll und witzig fand, aber dann rutschte mir etwas ganz anderes heraus. »Ich mag Dinge, die ich so lange üben kann, bis ich sie wirklich gut beherrsche. Ich mag Dinge, die ich unter meine Kontrolle bringen kann. Ob ein Trick funktioniert oder nicht, soll nur von mir selbst abhängen. Egal, was andere darüber sagen, tun oder denken.«

Ruth schwieg einen Moment, und ich schämte mich sofort für meine Worte.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte sie. »Erklär mir deinen Trick mit dem Plastikdaumen.«

»Na ja, man steckt sich den Plastikdaumen auf den Daumen, und das Publikum denkt, es wäre der echte. Am besten hält man eine Hand davor, denn wenn man genauer hinsieht, fällt schon auf, dass es ein künstlicher Daumen ist. Innen ist er hohl, und man kann ihn vom Daumen weg in die Handfläche der anderen Hand bewegen, ungefähr so … « Ich machte eine typische Magierbewegung, griff mit der einen Hand in die andere und verschränkte die Finger ineinander.

»Man bringt den Plastikdaumen unauffällig in die andere Hand, man kann ein dünnes Seidentuch oder eine Zigarette in den Daumen stopfen, dann macht man noch mal dieselbe Handbewegung und setzt sich den Daumen wieder auf. Aber jetzt steckt in seinem Innern, was man verbergen will, und es sieht so aus, als hätte man etwas auf magische Weise verschwinden lassen, oder, wenn man es umgekehrt macht, als würde man etwas aus der Luft zaubern.«

»Verstehe«, sagte Ruth. »Und wie lange übst du diesen Trick schon?«

»Seit ein paar Monaten. Ich übe jeden Tag, manchmal ein paar Minuten, manchmal eine Stunde. Aber jeden Tag. Zuerst fand ich es sogar mit dem Anleitungsheft richtig schwer. Aber mit der Zeit wird es immer leichter. Jeder kann den Trick lernen!«

»Das klingt nach einem guten Trick, und es ist super, dass du ihn übst. Aber weißt du, weshalb er funktioniert?«

»Was meinst du damit?«, fragte ich.

»Warum denkst du, fallen die Leute auf den Trick rein? Du hast ja selbst gesagt, dass der Daumen ziemlich künstlich aussieht. Also, wieso fallen die Leute trotzdem darauf herein?«

Sie wirkte plötzlich sehr ernst, so als erwarte sie wirklich, dass ich ihr etwas erklärte. Ich war es nicht gewohnt, dass mich irgendjemand, und erst recht kein Erwachsener, darum bat, ihm etwas zu erklären. Ich dachte einen Augenblick nach.

»Ich glaube, er funktioniert, weil der Magier so gut ist, dass er die Leute an der Nase herumführen kann. Sie bemerken seine Technik nicht, und man muss das Publikum während der Vorführung ablenken.«

Ruth lachte auf. »Das Publikum ablenken. Das ist genial! Du bist wirklich klug. Willst du wissen, warum ich denke, dass der Zaubertrick funktioniert?« Sie wartete darauf, dass ich ihr antwortete, und wieder fand ich es sonderbar, dass mich ein Erwachsener um Erlaubnis bat, mir etwas erklären zu dürfen.

»Ja, klar.«

»Ich glaube, der Trick funktioniert deshalb, weil die Menschen lediglich das sehen, was sie sehen wollen, anstatt zu sehen, was sie in Wirklichkeit vor sich haben. Der Trick mit dem Plastikdaumen funktioniert, weil der menschliche Geist eine verrückte Sache ist. Er sieht, was er sehen will. Er möchte einen echten Daumen sehen, also sieht er ihn auch. Das menschliche Gehirn ist, so geschäftig es zu sein scheint, in Wirklichkeit ein ziemlich träges Organ. Und, ja, der Trick funktioniert, wie du schon gesagt hast, auch deshalb, weil die Menschen sich so leicht ablenken lassen. Aber nicht die Fingerfertigkeit des Zauberers lenkt sie ab. Die meisten Zuschauer einer Zaubershow sind gar nicht in der Show. Sie sind in Gedanken bei dem, was sie gestern getan haben und jetzt bereuen, oder sie sorgen sich schon darüber, was ihnen am nächsten Tag widerfahren könnte. Mit anderen Worten: Sie sind eigentlich gar nicht anwesend. Wie sollten sie da einen künstlichen Daumen erkennen?«

Ich verstand nicht genau, wovon sie sprach, aber ich nickte sicherheitshalber. Ich würde später noch mal darüber nachdenken, mir ihre Worte ins Gedächtnis zurückrufen und herauszufinden versuchen, was sie mit alldem gemeint hatte.

»Versteh mich nicht falsch. Ich glaube an Magie. Aber nicht an die von Kunstgriffen, Kniffen und Taschenspielertricks. Kannst du dir vorstellen, welche Art von Magie ich meine?«

»Nein. Aber es hört sich spannend an«, erwiderte ich. Ich wollte unbedingt, dass sie weiterredete. Es gefiel mir, dass wir ein echtes Gespräch miteinander führten. Ich fühlte mich wichtig.

»Hast du schon einmal einen Trick mit Feuer probiert?«

»Na ja, man kann den Trick mit dem Plastikdaumen auch mit einer brennenden Zigarette machen, aber ich habe es noch nicht ausprobiert. Zum Anzünden der Zigarette braucht man Feuer.«

»Stell dir ein kleines, flackerndes Flämmchen vor, und du besitzt die Macht, es in eine gigantische Flamme zu verwandeln, groß wie ein Feuerball.«

»Das hört sich wirklich toll an. Wie macht man so was?«

»Das ist die Magie. Du kannst dieses winzige Flämmchen mit einer einzigen Sache in einen riesigen Feuerball verwandeln – deinem Geist!«

Ich verstand nicht, was sie damit meinte. Aber die Vorstellung faszinierte mich. Mich begeisterten Magier, die Menschen hypnotisieren konnten. Kraft ihres Geistes Gabeln verbogen. Imstande waren, über dem Boden zu schweben.

Ruth klatschte in die Hände.

»Ich mag dich, Jim. Du bist mir wirklich sympathisch.«

»Danke, Ruth.« Ihre Worte gingen mir runter wie Öl.

»Ich bin nur sechs Wochen in der Stadt, aber wenn du einverstanden bist, mich in den kommenden sechs Wochen hier jeden Tag zu besuchen, kann ich dir etwas Magie beibringen. Jene Art von Magie, die man nicht im Laden kaufen kann und die dir dabei hilft, all das tatsächlich in dein Leben zu holen, was du dir wünschst. Wahre Magie! Keine Kunstgriffe. Keine Plastikdaumen. Keine Taschenspielertricks. Was meinst du?«

»Warum würdest du das tun?«, fragte ich.

»Weil ich weiß, wie man ein Flämmchen in eine Flamme verwandelt. Jemand hat es mir beigebracht, und jetzt glaube ich, ist es an der Zeit, dass ich es dir beibringe. Ich sehe etwas Besonderes in dir, und wenn du jeden Tag hierherkommst und nicht ein einziges Mal fehlst, wirst du es ebenfalls lernen. Das verspreche ich dir. Aber du wirst dich anstrengen müssen, und du wirst die Tricks, die du von mir lernst, noch fleißiger üben müssen als deinen Trick mit dem Plastikdaumen. Aber ich verspreche dir: Was ich dir beibringe, wird dein Leben verändern.«

Ich war sprachlos. Noch nie hatte jemand etwas Besonderes in mir gesehen. Und ich ahnte, wenn Ruth die Wahrheit über mich und meine Familie erfuhr, würde sie mich nicht mehr für so besonders halten. Ich war mir nicht sicher, ob sie mir wirklich beibringen könnte, wie man Dinge aus dem Nichts hervorzaubert, aber eigentlich hatte ich nur Lust darauf, mit ihr weitere Gespräche zu führen, so wie das von heute. Wenn ich mit ihr zusammen war, fühlte ich mich einfach gut. Ich war viel fröhlicher. Ich fühlte mich fast geliebt, wobei ich wusste, dass es absurd war, zu glauben, dass einen ein völlig Fremder lieben könnte. Ihrer äußeren Erscheinung nach wirkte Ruth wie jede x-beliebige Oma, aber ihre Augen versprachen Rätsel, Geheimnis und Abenteuer. Ich hatte diesen Sommer nichts Besonderes vor, und hier war nun plötzlich diese Frau mit ihrem Angebot, mir etwas beizubringen, was mein Leben verändern würde. Es war verrückt. Ich wusste nicht, ob das, was sie mir erzählte, auch stimmte. Aber eins war mir klar: Ich hatte absolut nichts zu verlieren. Und seit Langem fühlte ich endlich wieder so etwas wie Hoffnung in mir aufsteigen.

»Also was nun, Jim? Bist du bereit, ein Stück wahre Magie zu lernen?«

Und mit dieser schlichten Frage veränderte sich der Verlauf meines weiteren Lebens und alles, was das Schicksal ursprünglich einmal für mich vorgesehen hatte.

Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte

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