Читать книгу Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte - James R. Doty - Страница 11

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Der entspannte Körper

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Seit Beginn der Zivilisation ist der Ursprung der menschlichen Intelligenz und des menschlichen Bewusstseins ein tiefes Mysterium. Im 17. Jahrhundert vor Christus glaubten die Ägypter, die Intelligenz sei im Herzen beheimatet. Nach dem Tod eines Menschen bewahrte man dessen Herz und andere innere Organe auf und verehrte sie. Das Gehirn hingegen besaß einen so geringen Wert für die alten Ägypter, dass sie es vor der Mumifizierung ihrer Toten routinemäßig mittels eines Hakens aus der Nasenhöhle zogen und als Abfall entsorgten. Im 4. Jahrhundert vor Christus glaubte Aristoteles, dass das Gehirn in erster Linie ein Kühlungsmechanismus für das Blut sei, weshalb er die Menschen (mit ihren größeren Gehirnen) im Vergleich zu den »heißblütigen« Tieren für die rationaleren Wesen hielt. Erst zweitausend Jahre später konnte diese Sichtweise auf das Gehirn revidiert werden. Die zentrale Bedeutung des Gehirns für unsere Identität begann man erst zu verstehen, als bei Patienten, die durch einen Unfall oder eine Kriegsverletzung ein Schädel-Hirn-Trauma erlitten hatten, Einschränkungen in deren Denkvermögen oder Gehirnfunktionen festgestellt wurden. Obwohl das Wissen über die Anatomie und die Funktionen des Gehirns ständig zunahm, blieb den Forschern ein wirkliches Verständnis des Organs auch weiterhin verschlossen. Tatsächlich glaubte man fast das ganze 20. Jahrhundert über, das menschliche Gehirn sei ein von vornherein festgelegtes, unveränderliches und statisches Organ. Heute wissen wir, dass es ein hohes Maß an Plastizität besitzt und in der Lage ist, sich zu verändern, anzupassen und umzugestalten. Erfahrung, Wiederholung und Absicht formen es. Dank der außergewöhnlichen Fortschritte in der Medizintechnik der vergangenen Jahrzehnte können wir heute die Fähigkeit des Gehirns beobachten, sich auf der Ebene der Zellen, der Gene, ja bis in den molekularen Bereich hinein zu verändern. Wie ich gelernt habe, besitzt jeder von uns die Fähigkeit, die Nervenzellen in seinem Gehirn neu zu verschalten.

Meine erste Begegnung mit Neuroplastizität würde ich mit Ruth erleben – im Hinterzimmer jenes Zauberladens. Mit zwölf Jahren war ich mir dessen natürlich noch nicht bewusst, aber in diesen sechs Wochen gelang es Ruth, mein Gehirn – im wahrsten Sinne des Wortes – »neu zu verdrahten«. Sie schaffte, was zum damaligen Zeitpunkt viele für unmöglich gehalten hätten.

Ich verriet niemandem etwas von meinem Vorhaben, jeden Tag in den Zauberladen zu fahren, aber mich fragte auch niemand, wohin ich ging. Der Sommer in Lancaster war wie der Aufenthalt in einem glühenden, vom Wind gepeitschten, schier endlosen Fegefeuer – ich hatte ständig das unruhige Gefühl, dass ich etwas Sinnvolles mit meiner Zeit anfangen sollte, aber was konnte ich in Lancaster schon groß tun? Um unseren Wohnblock herum gab es nichts als vertrocknete Erde und Steppenroller. Hin und wieder lag ein Autogerippe in der Landschaft herum oder ein weggeworfenes Maschinenteil. Gegenstände, die keiner mehr brauchte oder wollte – entsorgt an einem Ort, wo sie niemanden störten.

Kinder genau wie Erwachsene können sich am besten entfalten, wenn sie in einer Umgebung leben, die ihnen Stetigkeit und Verlässlichkeit bietet. Das menschliche Gehirn sehnt sich nach beidem. Bei mir zu Hause gab es weder das eine noch das andere. Es gab keine festen Essenszeiten, niemand stellte mir den Wecker, damit ich pünktlich in die Schule kam, oder kümmerte sich darum, dass ich rechtzeitig im Bett war. Ließen die Depressionen meiner Mutter so weit nach, dass sie das Bett verlassen konnte, kochte sie gelegentlich etwas für uns. Das geschah natürlich nur dann, wenn wir etwas zum Essen im Haus hatten. War das nicht der Fall, musste ich mit knurrendem Magen ins Bett, oder ich stattete einem Freund einen Besuch ab in der Hoffnung, dass er mich zum Abendessen einlud. Ich hielt mich für einen Glückspilz, weil ich, anders als die meisten meiner Freunde, nie zu einer festen Zeit zu Hause sein musste. Ich wollte auch immer erst ganz spät nach Hause gehen, denn kam ich zu früh, konnte es passieren, dass ich in einen Streit meiner Eltern oder sonstige Schwierigkeiten hineinplatzte. In solchen Momenten wünschte ich nur noch, woanders zu leben oder jemand anderes zu sein.

Manchmal braucht man nur jemanden, der mit einem redet, über irgendetwas, nur um das Gefühl zu haben, dass man ihm wichtig ist. Und manchmal liegt es nicht daran, dass man den anderen nicht wichtig ist, sondern sie sehen einen nur deshalb nicht, weil sie selbst so tief in ihrem eigenen Schmerz stecken. Ich redete mir ein, ein glücklicher Mensch zu sein, weil mich niemand behelligte – niemand sagte mir, ich solle meine Hausaufgaben machen, niemand weckte mich, damit ich zur Schule ging, oder schrieb mir vor, was ich anziehen sollte. Aber in Wahrheit war ich alles andere als glücklich. Jugendliche sehnen sich zwar nach Freiheit, aber nur, wenn sie in stabilen und sicheren Verhältnissen aufwachsen.


Ruth hatte mich gebeten, um zehn Uhr morgens in den Laden zu kommen. Ich war an jenem Tag früh aufgewacht und hatte ein Gefühl im Bauch, als würden Geburtstag und Weihnachten zusammenfallen. Nachts hatte ich vor Aufregung kein Auge zugekriegt. Ich hatte keine Ahnung, was Ruth mir beibringen wollte, und eigentlich war es mir auch egal. Ich wollte einfach nur wieder mit ihr reden. Außerdem war es ein gutes Gefühl, tagsüber etwas vorzuhaben. Ich fühlte mich dadurch wichtig.

Ich konnte Ruth schon von Weitem durch die Fensterscheiben des Zauberladens erkennen, als ich am ersten Tag auf meinem orangefarbenen Bonanzarad mit dem weißen Bananensattel angeradelt kam. An das Fahrrad erinnere ich mich deshalb so genau, weil es mein wertvollster Besitz war und ich es mir von meinem eigenen Geld gekauft hatte. Geld, das ich während langer heißer Sommertage mit dem Mähen unzähliger Rasenflächen verdient hatte.

Als ich den Laden betrat, sah ich, dass Ruth ein breites blaues Stirnband trug, mit dem sie ihr schulterlanges braunes Haar zurückgenommen hatte, ihre Brille baumelte an einem Kettchen um den Hals. Das Kleid hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen langen Kitteln, die wir in der Schule während des Malunterrichts über der Kleidung tragen mussten. Es hatte genau die gleiche Farbe wie der morgendliche Himmel über Lancaster – ein klares Hellblau mit horizontalen weißen Streifen. Jeden Morgen, wenn ich aufstand, sah ich als Allererstes aus dem Fenster. Aus irgendeinem Grund erfüllte mich der Anblick dieses blauen Himmels stets mit Hoffnung.

Ruth begrüßte mich mit ihrem allerschönsten Lächeln. Ich lächelte zurück, aber ich konnte spüren, wie mein Herz in der Brust hämmerte. Das kam zum Teil wohl daher, dass ich so schnell zum Laden geradelt war, aber auch, weil ich nicht wusste, was Ruth eigentlich mit mir vorhatte. Und ich verstand auch nicht, weshalb ich überhaupt in den Zauberladen gekommen war. Am Tag zuvor hatte ich die Idee einfach gut gefunden, am Morgen hatte ich mir gedacht, dass es allemal besser sei, in den Laden zu gehen, als einen weiteren Tag auf meinem Bonanzarad durch endlose Felder von Strauchkugeln zu kurven, immer ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen, aber stets in der Hoffnung, irgendwo anzukommen. Aber jetzt überfielen mich wieder Zweifel.

Auf was hatte ich mich da eingelassen? Was, falls ich nicht schlau genug für Ruths Magie war? Was, falls sie die Wahrheit über meine Familie herausfand? Was, wenn sie eine Geisteskranke war, die mich kidnappen und in die kalifornische Wüste verschleppen wollte, um an meinem Leichnam schwarze Magie auszuprobieren? Vor einiger Zeit hatte ich den Film »Voodoo Woman« gesehen, und jetzt fragte ich mich, ob Ruth womöglich eine verrückte Zauberin sei, die mich in ein Monster verwandeln würde, das sie mit ihrem Geist kontrollieren konnte, um anschließend die Weltherrschaft an sich zu reißen.

Plötzlich wurden meine Arme weich wie Pudding. Ich hatte die Ladentür bis zur Hälfte geöffnet, aber jetzt fühlte sie sich zentnerschwer an. Sie schien mir Widerstand zu leisten. Ich sah zu meinem Rad, das auf dem Boden des fast leeren Parkplatzes lag. Was tat ich eigentlich hier? Warum hatte ich dem Ganzen überhaupt zugestimmt? Ich hätte auf mein Fahrrad springen, davonradeln und nie wieder an diesen Ort zurückkehren können.

Ruth lachte und rief meinen Namen. »Schön, dich zu sehen, Jim. Für einen Moment dachte ich schon, du würdest nicht kommen.« Sie nickte mir zu wie eine gütige Oma und bedeutete mir durch einen Wink einzutreten. Ein Gefühl der Wärme erfüllte mich. Sie wirkte doch nicht wie eine verrückt gewordene Zauberin, die es auf mich abgesehen hatte.

Ich machte die Tür ganz auf, die sich jetzt wie von selbst öffnete.

Als ich über die Ladenschwelle trat, sagte Ruth: »Also, so, wie du auf deinem Fahrrad hier angerast kamst, hätte man glauben können, der Teufel höchstpersönlich sei hinter dir her.« In der Tat hatte ich oft das Gefühl, dass mich jemand verfolgte, aber ich wusste nicht, wer es war.

Dann wurde ich puterrot im Gesicht. Vielleicht hatte sie meine Angst oder meine Zweifel bemerkt. Vielleicht besaß sie eine Art Röntgenblick. Ich sah auf meine alten Tennisschuhe hinunter. Mein rechter Schuh hatte vorn ein kleines Loch. Ich schämte mich dafür. Also zog ich meine Zehen ein, damit sie sie nicht sehen konnte.

»Das ist mein Sohn Neil. Er ist der Zauberer«, erklärte Ruth. Hatte sie das Loch in meinem Schuh bemerkt, überspielte sie es jetzt auf geschickte Weise.

Neil sah nicht so aus, wie ich mir einen Zauberer vorstellte. Er trug eine große schwarze Brille und hatte die gleichen braunen Haare wie seine Mutter. Er sah sogar ziemlich normal aus. Kein Zauberhut. Kein Umhang. Kein gezwirbelter Schnauzbart.

»Du magst also Zauberei?« Neil hatte eine tiefe Stimme und sprach langsam. Vor ihm auf der Glastheke stapelten sich etwa fünfzig Kartenspiele.

»Ja, ich finde Zaubern super!«

»Kennst du dich mit Kartentricks aus?« Er nahm einen Kartenstoß und begann ihn zu mischen. Die Karten schienen zu fliegen – von seiner rechten in seine linke Hand, hin und her, vor und zurück, quer durch die Luft. Ich wollte unbedingt lernen, wie man so etwas macht. Er hielt inne und breitete die Karten vor mir wie einen Fächer aus.

»Zieh eine!«

Ich betrachtete die Karten. Eine ragte leicht aus dem Fächer heraus, und ich vermutete, dass Neil sie absichtlich so platziert hatte, damit ich mich für sie entschied, also zog ich eine von der rechten Seite.

»Du darfst mir deine Karte nicht zeigen, aber halte sie vor dir und sieh sie dir an.«

Ich warf einen Blick auf die Karte, hielt sie ganz dicht vor meine Brust, für den Fall, dass Neil im Hintergrund irgendwelche Spiegel versteckt hatte. Es war die Pikdame.

»Leg sie mit der Vorderseite nach unten an einer beliebigen Stelle in den Stoß, und jetzt mischst du die Karten, so gut du kannst. Los geht’s!«

Neil drückte mir die Karten in die Hand, und ich versuchte sie zu mischen – natürlich war ich dabei nicht so geschickt wie er, aber es gelang mir ganz gut.

»Misch sie noch mal.«

Ich mischte sie wieder, und diesmal machte ich es ein bisschen besser. Der Stapel wurde sauberer und präziser.

»Und jetzt ein drittes Mal, Jim.«

Dieses Mal erinnerte ich mich daran, meine Knöchel fest in die Karten zu drücken, damit sie sich kunstvoll verbogen, und als ich die beiden Stapel zusammenbrachte, griffen sie wie zwei Zahnräder ineinander.

»Gut gemacht«, sagte Neil. Ich gab ihm die Karten zurück. Er deckte eine nach der anderen auf. Von Zeit zu Zeit hielt er eine Karte hoch und sagte: »Das ist nicht deine Karte!« Schließlich drehte er die Pikdame um. »Das ist sie. Deine Karte.« Er schwang sie elegant durch die Luft und legte sie mit dem Bild nach oben vor mir auf die Ladentheke.

»Wow!«, sagte ich mit erstauntem Lächeln. Ich fragte mich, wie er herausgefunden hatte, dass es meine Karte gewesen war. Ich nahm sie, wendete sie und prüfte, ob an einer der vier Ecken vielleicht ein Knick oder etwas Ähnliches zu erkennen war. Aber da war nichts.

»Weißt du, wer das ist? Hast du eine Ahnung, für wen die Pikdame steht?«

Ich versuchte, mich an eine vornehme Dame oder Königin aus dem Geschichtsunterricht zu erinnern. Ich konnte mich nur an eine entsinnen. »Queen Elizabeth?«

Neil lächelte. »Na ja, wenn das ein englisches Blatt wäre, hättest du recht. Aber in dem Fall ist es ein französisches Blatt, und im französischen Kartenspiel stellt jede Dame eine bestimmte Gestalt aus der Geschichte oder der Mythologie dar. Die Herzdame und die Karodame stehen für zwei einflussreiche Frauen aus der Bibel: Judit und Rahel. Die Kreuzdame steht für Argine, einen Namen, den niemand kennt, weil er in Wirklichkeit ein Anagramm von Regina ist, dem lateinischen Wort für Königin. Deine Karte, die Pikdame, ist die griechische Göttin Pallas Athene. Sie ist die Göttin der Weisheit und die Begleiterin aller Helden. Wenn du dich auf eine Heldenfahrt begibst, brauchst du Pallas Athene unbedingt an deiner Seite.«

»Und woher wusstest du, dass ich die Pikdame gezogen hatte?«

»Du weißt, Zauberer verraten niemals ihre Tricks. Aber weil du hier bist, um etwas zu lernen, werde ich heute mal eine Ausnahme machen.« Neil drehte die Karte auf die Rückseite. »Es ist ein gezinktes Kartenspiel. Auf den ersten Blick wirkt es wie ein ganz normales Kartendeck, aber wenn du am unteren Ende hier das Symbol in Form einer Blume näher betrachtest, siehst du acht winzige Blütenblätter, die um ein Zentrum herum angeordnet sind. Jedes Blütenblatt steht für eine Spielkarte von Zwei bis Neun, das Zentrum der Blume steht für die Zehn. Hier, die vier Spiralen am Rand verweisen auf die jeweilige Kartenfarbe.« Dabei deutete er auf ein weiteres Symbol neben der Blume. »Wenn Zauberer Kartenspiele zinken, färben sie entweder nur ein Blütenblatt oder sie färben ein Blütenblatt und das Zentrum, um damit den Buben, die Dame oder den König zu kennzeichnen. Ist das Zentrum farblos, ist es ein Ass. Dann kennzeichnen wir die Karte noch an dieser Stelle hier oben, um die jeweilige Farbe anzuzeigen. Wenn du deine Karte anschaust, erkennst du die Verschlüsselung: Das Zentrum und das dritte Blütenblatt sind gefärbt – also ist es eine Dame. Und die Markierung hier steht für die Farbe Pik!«

Ich sah mir die Karte an. Die Färbung war eher unauffällig. Und wenn man nicht von vornherein wusste, wonach man suchte, fiel es einem gar nicht auf.

»Es verlangt ein bisschen Erfahrung, aber hast du es erst einmal im Kopf, kannst du die Karten im Handumdrehen lesen.«

Mein Blick fiel auf die anderen Kartenspiele, die über die Theke verstreut lagen.

»Sind das alles gezinkte Spiele?«

»Nein, das sind verschiedene Typen von Trickkarten. Sie heißen Stripper, Svengali, Gaffed, Forcing. Ich besitze sogar ein Brainwave-Kartenspiel. Ich stelle sie her. Trickkarten sind meine Spezialität.«

Ich hatte schon einmal von Gaffed-Karten gehört: die Karo-Dreizehn, der tote Pikkönig oder die Karte mit dem Joker, der genau diejenige Karte in der Hand hält, die jemand im Publikum gezogen hat. Aber mehr wusste ich nicht. All die anderen Namen klangen ziemlich geheimnisvoll. Stripper und Brainwave? Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was das für Karten waren, aber ich wollte mein Unwissen Neil gegenüber nicht eingestehen.

»Wusstest du, dass es im Zweiten Weltkrieg speziell präparierte Spielkarten gab, die an Kriegsgefangene in Deutschland verschickt wurden? Die oberste Schicht jeder Karte ließ sich abziehen, und in ihrem Inneren erschien der Teil einer Landkarte. Setzte man alle Karten zusammen, ergab sich eine geheime Fluchtroute für die Gefangenen. Das war ein erstaunlicher Zaubertrick.«

Neil steckte meine Pikdame wieder zurück in den gezinkten Kartenstapel und überreichte ihn mir. »Den kannst du behalten. Ist ein Geschenk für dich.«

Ich nahm das Kartenspiel entgegen. Bisher hatte mir noch nie jemand etwas geschenkt, einfach so, ohne Gegenleistung.

»Danke, Neil«, sagte ich. »Vielen Dank!« In diesem Moment schwor ich mir, dass ich jede gezinkte Karte auswendig lernen würde.

»Meine Mutter möchte dir also eine ganz besondere Magie beibringen, was?«

Ich lächelte ein wenig verlegen, weil ich nicht wusste, was ich darauf antworten sollte.

»Ihre Magie ist viel mehr als das, was du hier siehst.« Er wies mit seiner Hand in den Laden. »Mit ihrer Magie kannst du lernen, all das zu bekommen, was du dir wünschst. Ähnlich wie Aladin und der Flaschengeist, nur dass sie dir den Geist in deinem Kopf zeigen wird. Aber überleg dir genau, was du dir wünschst!«

»Hab ich auch drei Wünsche frei?«, fragte ich neugierig.

»So viele Wünsche du willst. Aber du wirst dich anstrengen müssen, es erfordert viel Übung. Es ist viel komplizierter als die Kartentricks, die ich dir gezeigt habe. Außerdem wirst du die Wirkung der Magie am Anfang noch kaum spüren. Ich selbst habe lange dafür gebraucht. Achte genau auf jedes Wort meiner Mutter. Du darfst nichts überstürzen. Du musst jeden Schritt genauso ausführen, wie sie ihn dir erklärt.«

Ich nickte Neil zu und verstaute die Spielkarten in meiner Hosentasche.

»Meine Mutter wird jetzt mit dir nach hinten gehen. Wir haben dort einen kleinen Büroraum. Und denk daran, mach alles genau so, wie sie es dir erklärt.« Er sah Ruth an und lächelte.

Sie versetzte ihrem Sohn einen leichten Knuff gegen den Unterarm und sah dann zu mir. »Los geht’s, Jim. Fangen wir an!«

Sie ging zu einer Tür am Ende des Ladens, und ich folgte ihr, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was mich erwartete.

Der Büroraum war düster und roch ein wenig muffig. Er hatte keine Fenster, es gab nur einen alten braunen Schreibtisch und zwei Metallstühle. Der braune Fransenteppich sah in der Mitte ein wenig verfilzt aus und stand an den Wänden über wie kurzes braunes Wiesengras. Von Zaubertricks war weit und breit nichts zu sehen. Weder Zauberstäbe noch Plastikkelche, weder Trickkarten noch Zauberhüte.

»Setz dich, Jim.«

Ruth nahm auf dem einen Stuhl Platz, ich auf dem anderen. Wir saßen uns so dicht gegenüber, dass sich unsere Knie beinahe berührten. Wie immer, wenn ich nervös war, begann mein rechtes Bein zu zittern. Ich saß mit dem Rücken zur Tür, aber zumindest wusste ich, wo sie war, für den Fall, dass ich ganz schnell von hier verschwinden musste. Ich rechnete mir im Geiste aus, wie viel Zeit ich benötigen würde, um aus dem Raum zu rennen und zu meinem Fahrrad zu gelangen.

»Ich freue mich, dass du wiedergekommen bist, Jim.« Ruth lächelte mich an, und das Zittern meines Beins ließ ein wenig nach.

»Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut.«

»Und wie fühlst du dich jetzt gerade, in diesem Augenblick?«

»Ich weiß nicht.«

»Bist du nervös?«

»Nein«, log ich.

Ruth legte ihre Hand auf mein rechtes Knie und hielt es fest. Mein Knie hörte schlagartig zu zittern auf. Ich bereitete mich sicherheitshalber schon mal auf Flucht vor, für den Fall, dass die Situation noch unheimlicher wurde. Dann zog sie ihre Hand wieder von meinem Knie zurück.

»Dein Bein hat ja gezittert, als seist du nervös.«

»Ich glaube, ich frage mich einfach, was du mir beibringen wirst.«

»Die Magie, die ich dir zeigen werde, kannst du nicht in einem Laden kaufen. Sie existiert seit Hunderten, wenn nicht Tausenden von Jahren, und man kann sie nur lernen, wenn sie einem von einer anderen Person beigebracht wird.«

Ich nickte zustimmend.

»Aber zuerst musst du mir etwas geben.«

Ich war bereit, Ruth alles zu geben, was ich hatte, um ihr Geheimnis kennenzulernen, allerdings besaß ich nicht viel mehr als mein Fahrrad.

»Was soll ich dir geben?«

»Du musst mir versprechen, dass du das, was ich dir in diesem Sommer beibringen werde, jemand anderem beibringen wirst. Und dieser Mensch muss dir versprechen, dass auch er es jemand anderem beibringen wird. Und so weiter. Gibst du mir dein Ehrenwort darauf?«

Ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, wem ich die Magie beibringen könnte, und ich wusste auch nicht, ob ich überhaupt in der Lage war, sie irgendjemandem beizubringen. Aber Ruth sah mich eindringlich an und erwartete eine Antwort von mir, und mir war klar, dass es nur eine einzige Antwort gab.

»Ich verspreche es dir.«

Eine Sekunde lang erwog ich die Möglichkeit, mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken abzuschwören, für den Fall, dass ich niemanden finden würde, dem ich Ruths Wissen beibringen konnte. Stattdessen streckte ich drei Finger in die Luft, wie ich es bei den Pfadfindern gesehen hatte. Ich ging davon aus, dass mein Versprechen damit offiziell besiegelt war.

»Schließ die Augen. Ich möchte, dass du dir vorstellst, du seist ein Blatt, das durch die Luft gewirbelt wird.«

Als ich die Augen wieder öffnete, grinste ich. Ich war ziemlich groß für mein Alter, aber ich wog lediglich vierundfünfzig Kilo. Ich sah mich eher wie einen dürren Zweig, der im Boden steckt, denn als ein Blatt, das durch die Luft gewirbelt wird.

»Schließ die Augen«, sagte Ruth mit freundlicher Stimme und nickte mir zu.

Also schloss ich wieder die Augen und versuchte mir ein Blatt vorzustellen, das durch die Luft gewirbelt wird. Vielleicht hatte Ruth vor, mich zu hypnotisieren, damit ich glaubte, ich sei ein Blatt. Ich hatte einmal auf der Bühne einen Hypnotiseur gesehen, der die Leute im Publikum glauben machte, sie seien verschiedene Tiere eines Bauernhofs. Und später hatte er sie noch dazu gebracht, gegeneinander zu kämpfen. Ich musste lachen und öffnete wieder die Augen.

Ruth saß mir gegenüber aufrecht auf dem Stuhl, ihre Handflächen lagen auf ihren Schenkeln. Sie gab einen leichten Seufzer von sich.

»Jim, beim ersten Trick lernst du, wie du jeden Muskel deines Körpers entspannst. Aber es ist nicht so leicht, wie es klingt.«

Ich war mir nicht sicher, ob ich mich jemals in meinem Leben entspannt gefühlt hatte. Ich fühlte mich eher, als sei ich ständig auf der Flucht oder in Kampfbereitschaft. Ich öffnete die Augen wieder, Ruth neigte den Kopf nach rechts und sah mir direkt ins Gesicht.

»Ich werde nichts Schlimmes mit dir anstellen. Ich will dir nur helfen. Vertraust du mir?«

Ich dachte darüber nach, was sie mich gerade gefragt hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob ich in meinem Leben überhaupt schon jemals einem Menschen vertraut hatte. Jedenfalls keinem Erwachsenen. Aber noch niemals hatte mich jemand darum gebeten, ihm zu vertrauen. Es war ein gutes Gefühl. Ich wollte Ruth vertrauen. Und ich wollte lernen, was sie mir zu zeigen hatte. Aber die ganze Situation erschien mir irgendwie bizarr.

»Warum?«, fragte ich. »Warum willst du mir helfen?«

»Weil ich von dem Augenblick an, als ich dich sah, wusste, dass du ein großes Potenzial besitzt. Ich sehe es. Und ich will dir beibringen, dass du es ebenfalls siehst.«

Weder wusste ich, was das Wort »Potenzial« bedeutete, noch verstand ich, woraus sie schloss, dass ich welches besaß. Und damals konnte ich noch nicht wissen, dass sie wahrscheinlich in jedem, der an jenem Sommertag 1968 in den Zauberladen gekommen wäre, dieses Potenzial gesehen hätte.

»Okay«, entgegnete ich. »Ich vertraue dir.«

»Wunderbar. Beginnen wir mit Folgendem. Du konzentrierst dich auf deinen Körper. Was fühlst du?«

»Ich weiß es nicht.«

»Stell dir vor, du radelst auf deinem Fahrrad. Wie fühlt es sich in deinem Körper an, wenn du richtig schnell auf deinem Fahrrad fährst?«

»Es fühlt sich gut an, glaube ich.«

»Und was macht dein Herz jetzt gerade?«

»Es schlägt«, antwortete ich mit einem Lächeln.

»Langsam oder schnell?«

»Schnell.«

»Sehr gut. Und wie fühlen sich deine Hände an?«

Ich sah an mir herab und bemerkte, dass meine Hände die Stuhlkante umklammerten. Ich lockerte sie.

»Sie sind entspannt.«

»In Ordnung. Was ist mit deiner Atmung? Ist sie tief oder flach?« Ruth atmete tief ein und wieder aus. »Ist sie so oder eher so?« Dabei begann sie hastig zu atmen wie ein hechelnder Hund.

»Ich glaube, weder so noch so. Eher eine Mischung aus beidem.«

»Bist du nervös?«

»Nein«, log ich.

»Dein Bein zittert ja schon wieder.«

»Na ja, vielleicht ein bisschen.«

»Weißt du, Jim, unser Körper gibt uns ständig Zeichen, wie wir uns im Innern wirklich fühlen. Es ist erstaunlich. Da fragt dich zum Beispiel einer: ›Wie geht’s?‹ Und du antwortest ihm: ›Ich weiß es nicht.‹ Vielleicht weißt du es ja wirklich nicht, oder du willst es der betreffenden Person nur nicht sagen. Dein Körper dagegen weiß immer, wie es dir geht. Wenn du ängstlich bist. Wenn du dich freust. Wenn du aufgeregt bist. Wenn du nervös bist. Wenn du sauer bist. Wenn du neidisch bist. Oder einfach nur traurig. Selbst wenn dir dein Geist vorgaukeln möchte, dass du nicht weißt, wie es dir gerade geht – von deinem Körper bekommst du prompt die Antwort. Der Körper besitzt sozusagen einen eigenen Geist. Er reagiert auf alles, und er gibt uns Antwort. Manchmal reagiert er in einer Situation genau richtig, ein anderes Mal irrt er sich. Verstehst du, was ich meine?«

Plötzlich dachte ich mir, wie sehr das stimmte, was Ruth mir erzählte. Wenn ich nach Hause kam, wusste ich, sobald ich die Türschwelle überquerte, ob meine Mutter gute oder schlechte Laune hatte. Sie musste mir gar nichts sagen. Ich spürte es in meiner Magengrube.

Ich zuckte die Achseln. Ich versuchte, Ruths Erklärungen zu folgen.

»Bist du schon einmal richtig traurig oder richtig wütend gewesen?«

»Ja, manchmal.« Ich war sogar ziemlich oft wütend, aber das wollte ich Ruth gegenüber nicht eingestehen.

»Ich möchte, dass du mir von einer Situation erzählst, in der du wütend oder ängstlich warst – und anschließend reden wir darüber, was du in deinem Körper fühlst, während du mir davon erzählst.«

Mir schossen tausend Sachen durch den Kopf. Ich wusste nicht, was ich ihr erzählen sollte. Sollte ich ihr von meiner Zeit auf der katholischen Schule erzählen, als mir eine Nonne eine Ohrfeige verpasste und ich – ohne eine Sekunde zu zögern – zurückschlug? Oder sollte ich ihr von Donnerstagabend berichten, als mein Vater wieder einmal betrunken nach Hause gekommen war? Ich könnte ihr natürlich auch erzählen, was der Doktor über meine Mutter gesagt hatte, als ich sie ins Krankenhaus brachte, und wie ich ihm dafür am liebsten eine in die Fresse gehauen oder mich verkrochen hätte oder am liebsten beides gleichzeitig.

»Jim, du denkst so laut nach, dass ich deine Gedanken fast schon hören kann, aber ich verstehe sie nicht. Also, was geht dir gerade im Moment durch den Kopf?«

»Ich denke über all die Dinge nach, die ich dir nicht erzählen will.«

Ruth lächelte. »Kein Problem. Es gibt nichts, was du mir nicht erzählen könntest. Alles ist erlaubt. Wir reden darüber, wie du dich gefühlt hast. Es gibt keine richtigen oder falschen Gefühle. Es sind schlicht und einfach Gefühle, sonst nichts!«

So ganz konnte ich ihr nicht glauben. Ich schämte mich für meine Gefühle, für meinen Zorn, für meine Traurigkeit, für die ganze Art, wie meine Emotionen manchmal mit mir durchgingen. Am liebsten wäre ich aus dem Laden gerannt.

»Dein Bein schlottert ja im Rekordtempo!«, sagte Ruth zu mir. »Ich werde bis drei zählen, und dann fängst du an, mir eine Geschichte zu erzählen. Aber du darfst nicht darüber nachdenken, was du erzählen wirst, okay? Ich zähle jetzt bis drei. Bereit?«

Ich war immer noch wie wild damit beschäftigt, die in meiner Erinnerung aufsteigenden Gedanken und Gefühle wegzuwischen und etwas zu finden, was nicht ganz so peinlich war. Schließlich wollte ich Ruth nicht vergraulen.

»Eins …«

Was, falls Ruth eine strenggläubige Katholikin war und es sie schockierte, dass ich eine Nonne geohrfeigt hatte, von der Schule geflogen war und danach zu meiner älteren Schwester und ihrem Mann ziehen musste, wo ich ebenfalls wegen einer Prügelei von der Schule flog? Was, falls Ruth mich am nächsten Tag nicht wiedersehen wollte, weil ich zu gewalttätig war?

»Zwei …«

Was, wenn ich ihr erzählte, wie wütend ich auf meinen Vater war, weil er im Suff unser Auto demoliert hatte und wir jetzt mit einer vollkommen verbeulten Vorderseite herumfahren mussten und die Stoßstange mit einem Strick festgebunden war und wie ein großes Schild aussah, auf dem stand: Seht her, was für arme Schlucker wir sind, wir haben nicht mal das Geld, um unser Auto reparieren zu lassen? Was, wenn sie dachte, ich sei ein schlechter Sohn?

»Und drei … Los!«

»Mein Vater trinkt. Zwar nicht jeden Tag, aber doch ziemlich häufig. Er betrinkt sich, dann verschwindet er manchmal wochenlang, und wir sitzen ohne einen Penny zu Hause, und alles, was uns bleibt, sind die Essensmarken der staatlichen Fürsorge, aber viel ist das nicht. Wenn er gerade mal nicht trinkt, schleichen wir auf Zehenspitzen durchs Haus, damit er nicht einen von seinen Wutanfällen bekommt. Greift er zu Hause zur Flasche, dann brüllt und flucht er und zerschlägt Sachen, und meine Mutter fängt an zu heulen. In solchen Momenten macht sich mein Bruder meist aus dem Staub, und ich verkrieche mich in mein Zimmer, aber ich höre genau, was sie reden, für den Fall, dass etwas Furchtbares passiert und ich dazwischengehen muss. Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Sie ist ständig krank und liegt fast den ganzen Tag im Bett. Und wenn mein Vater sich betrinkt und die beiden miteinander streiten, geht es ihr danach oft noch schlechter. Wenn er zu Hause ist, schreit sie ihn an, und wenn er aus dem Haus geht, vergräbt sie sich in Schweigen. Sie verlässt das Bett nicht mehr, isst nichts, liegt bloß noch herum. In solchen Momenten weiß ich überhaupt nicht, was ich machen soll.«

»Erzähl weiter, Jim!« Ruth hörte mir wirklich zu. Es schien sie tatsächlich zu interessieren, was ich zu erzählen hatte. Sie wirkte auch nicht, als würde es sie schockieren. Sie blickte mich mit ihrem verständnisvollen Lächeln an. Als verstünde sie genau, wovon ich sprach, oder hielte meine Familie zumindest nicht für den letzten Abschaum, nur weil wir arm waren.

»Erzähl weiter«, ermutigte sie mich.

»Einmal, als ich von der Schule nach Hause kam, war es ganz still, irgendwie unheimlich. Ich ging ins Schlafzimmer meiner Mutter, und dort lag sie, auf ihrem Bett. Sie hatte eine Handvoll Tabletten geschluckt. Es waren ihre Beruhigungstabletten, aber sie hatte zu viele davon genommen. Ich rannte in die Wohnung nebenan und bat die Nachbarin, ob sie uns ins Krankenhaus fahren könnte. Sie war deshalb schon einmal im Krankenhaus gewesen, meine Mutter, meine ich – sie hatte es früher schon einmal getan. Später, im Krankenhaus, lag sie im Bett, und ich saß neben ihr und hörte, was auf der anderen Seite des Vorhangs gesprochen wurde. Der Mann hinter dem Vorhang klang genervt, weil er wegen meiner Mutter diesen ganzen Papierkram ausfüllen musste. Dann sagte er, sie sei schon einmal hier gewesen und er habe es langsam satt, seine Zeit mit Menschen wie meiner Mutter zu vergeuden. Die Frau neben ihm lachte und sagte etwas wie »vielleicht ist es das letzte Mal«. Aber ich konnte ihre Worte nicht richtig verstehen. Dann lachten sie beide, und ich war so wütend, dass ich am liebsten den Vorhang heruntergerissen hätte, um den beiden ins Gesicht zu schreien. Leute, die in einem Krankenhaus arbeiten, sollten nicht so reden. Außerdem bin ich sauer auf meine Mutter, weil ich nicht verstehe, warum sie uns all das antut. Es ist nicht fair, und es ist peinlich. Und ich bin sauer auf meinen Vater, weil er meine Mutter immer so wütend und traurig macht. Ich bin wirklich sauer auf die beiden und auf all die Leute im Krankenhaus, und manchmal raste ich richtig aus.«

Ich wusste nicht genau, was ich tun sollte, als ich zu Ende geredet hatte. Ruth saß mir gegenüber auf ihrem Stuhl, und ich starrte auf das doofe Loch in meinem doofen Tennisschuh.

»Jim«, sagte Ruth mit sanfter Stimme. »Wie fühlt sich dein Körper jetzt an?«

Ich zuckte mit den Schultern. Ich fragte mich, was sie jetzt, wo sie über meine Familie Bescheid wusste, wohl über mich dachte.

»Was fühlst du in deinem Magen?«

»Mir ist schlecht.«

»Und wie fühlt sich deine Brust an?«

»Sie ist verkrampft. Sie tut ein bisschen weh.«

»Und dein Kopf?«

»In dem pocht es so komisch.«

»Und was ist mit deinen Augen?«

Ich wusste nicht, warum, aber in dem Moment, als sie nach meinen Augen fragte, hatte ich nur noch den Wunsch, sie zu schließen und loszuheulen. Nein, ich würde nicht weinen. Ich wollte nicht weinen, aber ich konnte nichts dagegen tun. Eine Träne lief mir über die Wange.

»Sie brennen, glaube ich, ein bisschen.«

»Danke, dass du mir von deinen Eltern erzählt hast, Jim. Manchmal müssen wir aufhören, darüber nachzudenken, was wir erzählen dürfen, und einfach das erzählen, was uns auf dem Herzen liegt.«

»Das sagst du so leicht.«

Ruth und ich mussten lachen, und in diesem Augenblick fühlte ich mich schon ein bisschen besser.

»Meine Brust fühlt sich nicht mehr so eng an.«

»Gut. Das ist sehr gut«, sagte Ruth. »Ich werde dir zeigen, wie du jeden einzelnen Muskel deines Körpers entspannst, und ich bitte dich, es jeden Tag eine Stunde zu üben. Alles, was wir hier morgens üben, wiederholst du zu Hause abends noch mal. Es ist eine Art Hausaufgabe, die du von mir bekommst. Den Körper zu entspannen hört sich leicht an, aber es ist in Wirklichkeit ziemlich schwer und erfordert eine Menge Übung.«

Ich war mir immer noch nicht sicher, ob ich mich an eine Zeit erinnern konnte, in der ich richtig entspannt gewesen war. Ich fühlte mich häufig müde, aber ich hatte keine Ahnung, ob ich mich jemals entspannt hatte. Im Grunde wusste ich gar nicht, was es bedeutete, entspannt zu sein.

Ruth erklärte mir, dass ich mich in möglichst bequemer Haltung auf den Stuhl setzen und die Augen schließen sollte. Dann bat sie mich, mir wieder vorzustellen, dass ich ein Blatt sei, das durch die Luft gewirbelt wird. Ich fand es irgendwie aufregend, durch Straßen gewirbelt zu werden, die nur in meinem Kopf existierten. Und ich fühlte mich ein bisschen leichter auf meinem Stuhl.

»Achte auf deine Haltung. Du sollst dich entspannen, aber deine Muskeln sollen dabei nicht erschlaffen, und du sollst auch nicht einschlafen. Atme einmal tief ein und dann wieder aus. Das machst du dreimal hintereinander. Atme durch die Nase ein und anschließend durch den Mund wieder aus.«

Ich atmete so tief ein und aus, wie ich konnte. Dreimal hintereinander.

»Und jetzt möchte ich, dass du dich ganz auf deine Zehen konzentrierst. Stell dir deine Zehen vor. Spüre sie. Wackle mit ihnen ein wenig hin und her. Spann sie im Schuh an und entspann sie dann wieder. Atme tief ein und anschließend langsam wieder aus. Konzentriere dich beim Atmen auf deine Zehen. Spüre, wie deine Zehen schwerer und schwerer werden.«

Ich atmete mehrmals tief ein und aus und versuchte, mich auf meine Zehen zu konzentrieren. Das hört sich zwar einfach an, aber so leicht war es nicht. Ich wackelte ein bisschen mit den Zehen im Schuh, aber dann fragte ich mich, ob ich wohl vor Schulbeginn noch neue Schuhe bekäme, und ich dachte darüber nach, dass wir kein Geld hatten, und zum Schluss hatte ich meine Zehen völlig vergessen.

Es schien, als würde Ruth genau bemerken, wann ich über etwas anderes als meine Zehen nachzudenken anfing, denn jedes Mal, wenn meine Gedanken abschweiften, unterbrach sie mich und sagte mir, dass ich wieder einen tiefen Atemzug machen sollte. Ich kann nur schwer sagen, wie lange ich so ein- und ausatmete und mich auf meine Zehen konzentrierte. Aber es kam mir vor wie eine kleine Ewigkeit.

»Atme jetzt tief ein und lenke deine Konzentration auf deine Füße.«

Ich wurde langsam hungrig. Ich begann mich zu langweilen. Was hatten meine Füße mit dem Erlernen von Magie zu tun? Es musste wohl schon Zeit zum Mittagessen sein. Vielleicht wollte Ruth mich ja verhungern lassen. Sie musste meine Gedanken gelesen haben, denn ich schwöre, dass sie genau wusste, an welchem Punkt sie mich zu unterbrechen hatte.

»Deine Füße, Jim! Lenke deine Aufmerksamkeit wieder zu deinen Füßen zurück!«

Ich bewegte meine Fußgelenke und dachte über meine großen, dummen, hungrigen Füße nach.

»Konzentriere dich jetzt auf deine Fußknöchel. Auf deine Knie. Entspanne deine Oberschenkel. Fühle, wie deine Beine schwer werden und in den Stuhl sinken.«

Ich stellte mir vor, ich wäre der schwerste Mann der Welt und der Stuhl unter mir bekäme ein solches Gewicht, dass er durch den Fransenteppich brach und auf der anderen Seite der Erde, in China, wieder auftauchte.

»Jetzt entspannst du deine Bauchmuskeln. Spann sie an und lockere sie anschließend wieder.« Als ich das tat, begann mein Magen so laut zu knurren, dass ich überzeugt war, Ruth konnte es hören.

»Und nun deine Brust, Jim. Atme einmal tief ein und aus und entspanne deine Brust. Spüre deinen Herzschlag und entspanne die Muskeln um dein Herz herum. Dein Herz ist ein Muskel, der ständig Blut und Sauerstoff durch deinen Körper pumpen muss. Du kannst ihn entspannen wie jeden anderen Muskel auch.« Ich fragte mich, ob mein Körper den Dienst aufgeben würde, sobald ich mein Herz entspannte. Was würde Ruth dann wohl tun?

»Konzentriere dich auf die Mitte deiner Brust. Fühle, wie sich deine Brustmuskulatur entspannt. Atme tief ein und spüre deinen Herzschlag, während du dich weiter entspannst. Jetzt atmest du aus und konzentrierst dich wieder ganz auf die Entspannung deiner Brustmuskulatur.« Ich bemerkte, dass mein Herz nicht mehr so wild in meiner Brust hämmerte, während ich die Übung machte.

Im Medizinstudium würde ich später das menschliche Herz studieren. Dort würde ich lernen, dass das Herz über ein Nervensystem mit jenem Bereich des Hirnstamms verbunden ist, den man als Medulla oblongata bezeichnet. Besondere Bedeutung hat hier der Vagusnerv. Stimuliert man den Vagusnerv mittels Entspannung des Körpers und Verlangsamung der Atmung, regt dies den Parasympathikus an. Die Folge: Herzfrequenz und Blutdruck sinken. Ich lernte auch, dass eine Verminderung des Vagusnerv-Tonus den Sympathikus stimuliert. Das geschieht immer dann, wenn wir erschrecken oder Angst haben: Unser Herzschlag beschleunigt sich. An jenem Tag im Zauberladen wusste ich das noch nicht, aber ich bemerkte, dass ich mich durch Ruths Entspannungs- und Atemübung ein bisschen besser und ruhiger fühlte. Damals wusste ich noch nichts über das vegetative Nervensystem und über die unzähligen Möglichkeiten, die Hirn und Herz haben, um miteinander zu kommunizieren. Weder mein Gehirn noch mein Herz brauchten ein Medizinstudium, um zu funktionieren. Ich sendete Signale aus meinem Gehirn in mein Herz, und mein Herz reagierte darauf.

»Jetzt will ich, dass du deine Schultern entspannst. Deinen Hals. Deinen Kiefer. Deine Zunge ruht auf dem Mundboden. Spüre, wie sich deine Augen und deine Stirn anspannen und wieder entspannen. Lass alles, jeden einzelnen Muskel in deinem Körper … einfach … locker.«

Dann verfiel Ruth eine Zeit lang in Schweigen, was mir wie eine kleine Ewigkeit vorkam. Ich saß da und versuchte mich zu entspannen, versuchte langsam ein- und auszuatmen. Ich versuchte, nicht nervös auf dem Stuhl hin und her zu rutschen. Ich konnte hören, wie Ruth tief einatmete und ihren Atem anschließend wieder ausstieß, und verstand es als Zeichen, dasselbe zu tun. Es ist gar nicht so leicht zu atmen, wenn man die ganze Zeit darüber nachdenkt, wie man atmen soll. Ein- oder zweimal blinzelte ich mit zusammengekniffenen Augen zu Ruth hinüber und konnte sehen, dass auch sie die Augen geschlossen hatte. Ich überprüfte meine Körperhaltung. Schließlich brach Ruth ihr Schweigen.

»Okay. Die Zeit ist um. Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

Ich öffnete die Augen und richtete mich im Stuhl auf. Mein Körper fühlte sich anders an, irgendwie merkwürdig.

»Das war’s, Jim. Ich wette, du hast jetzt Hunger.« Sie öffnete eine Schublade des Schreibtischs und zog eine Tüte Schokoladenkekse von »Chips Ahoy!« heraus.

»Nimm dir davon so viele, wie du willst.« Ich nahm eine Handvoll. Es waren meine Lieblingskekse. Dann blickte mich Ruth über den Rand ihrer Brille an und sagte: »Du bist auf dem richtigen Weg!«

Ich verstand nicht, was sie mit dem »Weg« meinte. Und ich verstand auch nicht, was eine Stunde auf einem Stuhl sitzen eigentlich mit Magie zu tun hatte.

»Jim, ich möchte, dass du übst, deinen Körper zu entspannen. Besonders in den Momenten mit deiner Familie, von denen du mir erzählt hast. Du kannst dich entspannen, selbst wenn du wütend bist oder traurig. Ich weiß, dass sich das nach viel Arbeit anhört, aber bald wirst du in der Lage sein, praktisch auf Anhieb in einen Zustand der totalen Entspannung zu kommen. Das ist einer der besten Tricks, die man lernen kann. Vertrau mir.«

»Okay. Aber warum soll ich das lernen?«

»Weil es in unserem Leben viele Dinge gibt, die sich unserer Kontrolle entziehen. Vor allem als Kind ist es oft schmerzhaft, wenn man merkt, dass man Dinge nicht kontrollieren und noch viel weniger ändern kann. Aber du kannst deinen Körper und deinen Geist kontrollieren. Am Anfang wirst du das vielleicht für nicht besonders spektakulär halten, aber mit der Zeit wirst du merken, dass es dir große Macht verleiht. Es kann dein ganzes Leben verändern.«

»Ich weiß nicht.«

»Du wirst schon sehen. Komm einfach morgen wieder. Übe weiterhin alles, was ich dir diesen Sommer über beibringe, und du wirst das Resultat sehen.«

Ich nickte, aber ich wusste nicht, ob ich am nächsten Tag wiederkommen würde. Was Ruth mir beibrachte, hatte nichts mit den Zaubertricks zu tun, die ich lernen wollte.

»Weißt du, wer Isaac Newton war?«, fragte sie mich dann.

»War der nicht Wissenschaftler?«

»Ja, genau. Er war Physiker und Mathematiker und wahrscheinlich einer der größten Wissenschaftler, die es je auf Erden gegeben hat. Über Newton gibt es eine Geschichte, die dir vielleicht gefallen wird. Er hatte kein einfaches Leben. Sein Vater starb drei Monate vor seiner Geburt. Er selbst kam als Frühgeburt zur Welt, und er hatte ja keinen Vater mehr, also nicht gerade das, was man sich unter einem idealen Start ins Leben vorstellt. Als er drei Jahre alt war, heiratete seine Mutter ein zweites Mal, aber der kleine Isaac konnte seinen Stiefvater nicht besonders leiden. Später einmal drohte er damit, das Wohnhaus mitsamt seinen Eltern darin anzuzünden. Er muss in deinem Alter ziemlich jähzornig gewesen sein. Irgendwann nahm ihn seine Mutter von der Schule, weil sie wollte, dass er Landwirt wurde. Sein Vater war ebenfalls Landwirt gewesen, es war das, was jedermann von ihm erwartete. Aber Newton hasste die Landwirtschaft, er hasste einfach alles, was damit zu tun hatte. Ein Lehrer konnte seine Mutter schließlich davon überzeugen, ihn wieder auf die Schule zu schicken. Er entwickelte sich zum besten Schüler seines Jahrgangs und erhielt Spitzennoten. Damit rächte er sich bei seinen Mitschülern dafür, dass sie ihn zuvor grausam gehänselt und schikaniert hatten. Später ging er auf die Universität, aber damit er seine Studiengebühren und sein Essen bezahlen konnte, musste er für andere Studenten als Diener arbeiten. Er hatte zwar nicht die gleichen günstigen Voraussetzungen, das gleiche Glück oder so viel Geld wie seine Kommilitonen, aber er veränderte die Welt.«

Ich selbst hatte bis zu diesem Moment nicht gewusst, dass berühmte Wissenschaftler ihre Eltern hassen konnten oder sich mit ihren Mitschülern stritten.

Als ich mich von Ruth und Neil verabschiedete und schon beinahe zur Tür hinaus war, hörte ich, wie Ruth noch rief: »Und vergiss deine Übungen nicht, Jim!« Sie sah mir dabei in die Augen und lächelte.

Ich radelte mit dem Gefühl einer großen Wärme im ganzen Körper zur Avenue I. Ich hatte keine Ahnung, warum mir Ruth beibrachte, meinen Körper zu entspannen, aber sobald ich zu Hause wäre, würde ich mit meinen Übungen anfangen und sehen, ob der Zauber wirklich funktionierte.

Heute weiß ich, dass ein Großteil dessen, was ich von Ruth an diesem ersten Tag lernte, mit der Reaktion unseres Gehirns und unseres Körpers auf akuten Stress zu tun hat, was man gemeinhin als Kampf-oder-Flucht-Reaktion bezeichnet. Sobald das Gehirn sich bedroht fühlt oder sein eigenes Überleben in Gefahr sieht, wird innerhalb des vegetativen Nervensystems der Sympathikus aktiviert und das Stresshormon Adrenalin ausgeschüttet. Gleichzeitig wird durch Hormone aus dem Hypothalamus die Nebenniere in Gang gesetzt und Cortisol produziert. Ich bin mir sicher, dass ich schon mit zwölf Jahren einen erhöhten Cortisolspiegel hatte. Alle körperlichen Reaktionen, die nicht unmittelbar mit dem Überlebenskampf zu tun haben, werden in solchen Momenten heruntergefahren. Der Verdauungsprozess verlangsamt sich, die Blutgefäße ziehen sich zusammen (außer denen in den langen Muskeln, die sich erweitern), die Hörfähigkeit nimmt ab, die Sehfähigkeit ist reduziert, die Herzfrequenz steigt an, und der Mund wird trocken, weil die Tätigkeit der Tränendrüse, die auch den Speichelfluss reguliert, augenblicklich ins Stocken gerät.

All diese Reaktionen sind wichtig, wenn wir tatsächlich um unser Überleben kämpfen. Aber die akute Stressreaktion ist von unserem Körper nur für einen kurzen Zeitraum vorgesehen. Leben wir in einem Zustand von permanentem Stress, kann das allerlei psychische und physische Auswirkungen haben – Wut, Depression, Angstgefühle, Schmerzen im Brustkorb oder Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit und ein geschwächtes Immunsystem.

Bereits lange bevor die Diskussion über Stresshormone aufkam, hatte Ruth mir beigebracht, die Reaktion meines Körpers auf chronischen Stress oder eine Bedrohung selbst zu regulieren. Wenn ich heute einen Operationssaal betrete, kann ich meine Atmung verlangsamen, meinen Blutdruck regulieren und meinen Pulsschlag niedrig halten. Wenn ich durchs Mikroskop blicke und an komplizierten Bereichen des Gehirns operiere, habe ich eine ruhige Hand und einen entspannten Körper dank der Techniken, die ich von Ruth im Zauberladen gelernt habe.

Um die Wahrheit zu sagen: Ohne Ruth hätte ich es wohl kaum bis zum Neurochirurgen gebracht. Zu lernen, wie man den eigenen Körper entspannt, war und ist für mich immer wichtig gewesen. Aber das war nur der Anfang. Ruth brauchte zehn Tage, bis sie mich so weit hatte, dass ich in der Lage war, meinen kompletten Körper zu entspannen. Am elften Tag fuhr ich mit meinem Fahrrad zum Laden, setzte mich auf den Stuhl, schloss die Augen und wartete darauf, dass Ruth mich durch die Entspannungsübung führte. Aber sie hatte etwas anderes mit mir vor.

»Mach die Augen wieder auf, Jim. Es ist an der Zeit, dass wir etwas gegen die vielen Stimmen in deinem Kopf unternehmen.«

Der Neurochirurg, der sein Herz vergessen hatte

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