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Als die amtliche Kolonne – zwei Krankenwagen und ein Streifenwagen mit Hilfssheriff – von Rosies Parkplatz in einer Staubwolke hinausrauschte, schalteten sie alle gleichzeitig die Sirenen ein und verschwanden heulend in der Ferne. Für Rosie und mich, auf den Eingangsstufen sitzend, hörte es sich an wie der Anfang vom Ende der Welt.

»Auf die Sirenen sin’ die Kerle wirklich scharf«, meinte sie leise.

»Das ist so ungefähr der einzige Spaß, den sie im Leben haben«, sagte ich.

»Sprechen Sie aus Erfahrung?«, fragte sie mit schmalen Augen.

»Ich bin schon mit ein paar Polizeiautos abtransportiert worden«, sagte ich, und sie nickte, als würde das auch für sie gelten.

Während sie und ich im Lokal aufgeräumt, die Verwundeten hinausgetragen und eine höchst unwahrscheinliche, aber zufällige Version der Schießerei erfunden hatten, waren Rosie und ich Freunde geworden. Jetzt verbanden uns auch noch unsere gemeinsamen Lügen vor den Beamten. Lester und Oney hätten umsonst gelogen, nur um widerborstig zu sein, aber ich verteilte an sie eine großzügige Portion Bargeld, um bei den Arztkosten behilflich zu sein. Lester steckte das Geld ein, dann erzählte er mir, dass er und Oney kraft einiger Ausflüge zur Trinkerheilanstalt unter der Fürsorgeaufsicht des Staates Kalifornien stünden. Der ältere Hilfssheriff, der uns vernahm, schien zu wissen, dass wir ihn belogen, aber das schien ihm gleichgültig zu sein. Er hatte mehr Interesse, Oney auf den Arm zu nehmen, weil dieser sich in den Fuß geschossen hatte. Als er ging, sagte er aber, ich solle am nächsten Morgen im Gerichtsgebäude vorbeikommen, um ein Protokoll zu unterschreiben, und er und ich wussten, was das bedeutete.

Als die Sirenen verklungen waren, sagte Rosie: »Meinen Sie, wir sollten uns ein Bier genehmigen?«

»Whiskey«, sagte ich und ging zu meinem Transporter, um die Reiseflasche aus dem Handschuhfach zu holen. Als ich zu den Stufen zurückkam, hatte Rosie zwei noch unangebrochene Flaschen Bier als Nachtrunk gefunden. Nachdem wir eine Weile stumm getrunken hatten, sagte ich: »Tut mir leid wegen des Ärgers.«

»War nicht Ihre Schuld«, erwiderte sie und schwenkte müde die Hand. »Das war dieser verdammte Taugenichts Lester. Als ihn der Privatdetektiv unten in Barstow erwischte, wurde Lester frech, und der Knabe fing an, Lester vor dem Haus seiner Mama windelweich zu prügeln, bis Lester ihn angefleht hat, für die Kinder was zahlen zu dürfen.«

»Dachte mir schon so etwas«, sagte ich.

»Wieso sind Sie hinter dem Großen her gewesen?«, fragte sie. Dann fügte sie schnell hinzu: »Sie brauchen’s mir natürlich nicht zu sagen, wenn’s mich nix angeht.«

»Ich sollte ihn finden, bevor er sich in die Klinik hineintrinkt«, sagte ich. »Oder ins Grab.«

»Das machen Sie als Beruf?«, fragte sie. »Leute finden?«

»Manchmal«, sagte ich. »Sonst suche ich nur.«

»Bringt das was?«

»Halbwegs, aber nichts Regelmäßiges. Die Hälfte der Zeit stehe ich hinter der Bar.«

»Wie das?«

»Immer noch viel besser, als bei Monkey Wards herumzustehen und auf sechzehnjährige Kaufhausdiebe aufzupassen.«

»Kann ich mir denken«, sagte sie, lachte und setzte die Whiskeyflasche an. »Wie lange fahren Sie schon hinter dem Großen her?«

»Fast drei Wochen.«

»Sie werden pro Tag bezahlt, was?«

»In der Regel.«

»Der Auftrag müsste Ihnen aber was einbringen«, meinte sie.

»Hoffentlich«, sagte ich. »Die sind vielleicht schlecht auf mich zu sprechen, weil der alte Mann angeschossen worden ist, und sagen sich, ich wäre überbezahlt.«

»Verklagen.«

»Haben Sie das bei reichen Leuten schon mal probiert?«

»Kleiner, ich kenn gar keine reichen Leute«, sagte sie, dann starrte sie auf den Boden. »Wovor, glauben Sie, ist der Alte davongelaufen?«

»Vielleicht brauchte er seine Ruhe und den Schnaps oder eine Wander-Sauftour«, sagte ich. »Ich weiß es wirklich nicht.« Und das stimmte. Normalerweise habe ich, wenn ich jemanden ein paar Tage lang verfolge, eine Vorstellung davon, was in ihm vorgeht, aber ich hatte das nicht bei Trahearne. Im Verlauf meiner wenigen lichten Momente hatte ich das sonderbare Gefühl, dass der alte Mann vor mir davonlief, damit ich ihn jagte. »Vielleicht wollte er nur sehen, was hinter dem nächsten Berg ist«, fügte ich hinzu.

»Er muss es satt bekomm haben, nachzusehen, weil er sich hier häuslich eingerichtet hat«, sagte Rosie leise.

»Na, wenn er nur halb so müde ist wie ich, muss er verdammt kaputt sein«, meinte ich, »weil ich völlig hin bin. Ich könnte eine Woche lang schlafen.«

»Aber das werden Sie wohl nicht tun, oder?«

»Wohl nicht.«

»Was werden Sie tun?«, fragte sie, für mein Gefühl zu beiläufig.

»Mich bei der Klinik herumtreiben, bis er herauskommt.«

»Wie lange kann das dauern?«

»Ungefähr eine Woche, je nachdem.«

Wir schwiegen wieder ein paar Minuten und sahen zu, wie der sanfte Frühlingssonnenschein auf den flachen Hügeln grünes Feuer entzündete, hörten auf das ferne Summen des Verkehrs.

»He«, sagte sie plötzlich, als sei ihr das gerade eingefallen. »Könnte sein, dass ich Ihnen nen kleinen Auftrag verschaffen kann, während Sie hier rumsitzen. Nichts tun ist auch nichts.«

»Ich bearbeite in der Regel nur eine Sache«, erklärte ich schnell. »Das ist mein Vorteil gegenüber den großen Agenturen.« Als sie nichts sagte, fragte ich: »Was haben Sie? Einen Stapel fauler Schecks?«

»Genug, um eine Wand damit zu tapezieren«, sagte sie, »aber das is nich das Problem.« Als ich sie nicht fragte, was das Problem denn sei, fuhr sie fort: »Es ist meine Kleine. Sie ist mir weggelaufen, und ich dachte, Sie könnten vielleicht ein paar Tage – was Sie halt an Zeit haben – herumschauen.«

»Na, ich weiß nicht …«

»Ich weiß, der Laden gibt äußerlich nicht viel her«, unterbrach sie mich, »aber alles ist bezahlt, und ab und zu kommt auch ’n Dollar rein.«

»Das ist es nicht«, sagte ich. »Ich brauche nur eine Pause.«

»Sie warten jetzt hier«, meinte sie, als hätte sie mich nicht gehört, und stürzte ins Haus zurück.

Während ich wartete, wurde aus dem, was anfangs ganz nach schönem Frühlingsdunst ausgesehen hatte, deutlich Smog über der Bay Area, und das rief mir ins Gedächtnis zurück, dass das nicht irgendeine ländliche Bierkneipe unten in Texas an einem Frühlingsnachmittag in den fünfziger Jahren war. Das Labyrinth von San Francisco lag jenseits der Bucht, eine Zuflucht für weggelaufene Leute, und obwohl auch die sechziger Jahre tot und begraben waren, flüchteten sich immer noch junge Mädchen dahin. Das hatte sich nicht geändert, wenn auch sonst alles. Ich wollte nicht hören, was Rosie mir zu sagen hatte – ich wollte nicht wieder das Foto eines verlorenen Kindes anstarren. Veränderung ist die Regel. Man kann nicht mehr nach Hause, selbst wenn man dort bleibt, und seitdem es überall gleich ist, kann man nirgendwo mehr hinflüchten. Aber das hindert manche nicht daran, es doch zu versuchen. Und Rosie hielt es auch nicht auf.

»Da«, sagte sie, als sie sich hinsetzte und mir ein Foto gab. »Schauen Sie.«

Ich blickte gerade lange genug auf das Bild, um zu sehen, dass es eine brieftaschengroße Schulaufnahme eines ziemlich hübschen Mädchens war. Dann drehte ich sie um und sah die Jahreszahlen: 1964/65.

»Sie war ein hübsches Mädchen«, sagte ich, als ich Rosie das Bild zurückzugeben versuchte.

»Und schlau«, erwiderte sie, die Hände zwischen den Knien.

Ich musste mir das Bild noch einmal ansehen. Es hätte aus meiner Highschool-Zeit in den fünfziger Jahren stammen können. Das Gesicht war nett, nicht mehr, obwohl sie unter einer kleinen Schicht Babyspeck ein gutes Knochengerüst zu besitzen schien. Der breite Mund wirkte beinahe mürrisch, und die wallende Haarmähne kam mir unecht vor. Die Nase war gerade, an der Spitze aber zu knollig, um hübsch zu sein. Nur die Augen waren auffallend, dunkel glitzernd vor Zorn und Groll, ein Hinterwäldler-Zorn, der zu einem mehr hageren Gesicht passte. Sie trug eine altmodische Spitzenbluse mit hohem Kragen, durch den ein schwarzes Band geführt war, das eine Kamee an ihrer Kehle festhielt.

Ich kannte die Geschichte: ein beinahe hübsches Mädchen, aber ohne das Geld für die richtige Kleidung oder Zahnspangen oder Selbstvertrauen, die Sorte, die entweder in den Randzonen der reicheren, beliebteren Mädchen herumschleicht und für ihre Mühe als vorwitzig gilt, oder die allein blieb und die Highschool-Kreise mied und für ihre Bemühungen als eingebildet angesehen wurde. Während ich das Bild anstarrte, freute ich mich zum wiederholten Mal darüber, dass ich diesem Unsinn zum größten Teil entgangen war. Ich hatte auf dem Land gelebt und gearbeitet und war, wenn auch nicht ganz nach Plan, drei Wochen vor dem Examen zum Militär gegangen. Das kam mir auf irgendeine Weise sauberer vor.

»Wann ist sie abgezogen?«, fragte ich Rosie.

»Im kommenden Mai sind es zehn Jahre«, sagte sie ganz ruhig, so, als hätte sie gesagt: Am kommenden Sonntag ist es eine Woche.

»Und seitdem haben Sie nichts mehr von ihr gehört?«

»Kein einziges Wort.«

»Zehn Jahre sind zu lang«, sagte ich. »Schon ein Jahr ist in der Regel zu lang, aber zehn Jahre sind eine Ewigkeit.«

Doch Rosie tat erneut so, als hätte sie mich nicht gehört.

»Sie ist an einem Samstagnachmittag mit ihrem Freund nach San Francisco gefahren, und er sagte später, sie wäre an einer roten Ampel einfach ausgestiegen und weggegangen, ohne ein Wort zu sagen oder sich auch nur umzuschauen. Einfach weggegangen. Das hat er gesagt.«

»Irgendein Grund, das für gelogen zu halten?«

»Keiner«, sagte Rosie. »Den kenn ich sein ganzes Leben, und seine Mama ist eine Freundin von mir. Sie hat mir fast zwanzig Jahre lang einmal in der Woche die Haare gemacht. Und Albert war furchtbar durcheinander. Er hat Betty Sue noch Jahre gesucht, als ich schon aufgegeben hatte. Seine Mama sagt, er fragt noch jedes Mal nach ihr, wenn sie’n sieht.«

»Haben Sie das der Polizei mitgeteilt?«, fragte ich.

»Na, versteht sich«, antwortete Rosie zornig. »Was wär ich denn da sonst für eine Mutter? Meinen Sie, ich lass ein siebzehnjähriges Mädel in der verdammten Großstadt voller Nigger und Rauschvögel und Schwulen rumlaufen? Natürlich hab ich’s der Polizei gesagt. Fünf, sechs Mal.« Dann fügte sie mit leiserer Stimme hinzu: »Nicht dass sie sich den Scheiß drum gekümmert hätten. Ich bin sogar selber rübergefahren. Vielleicht zwanzig, dreißig Mal, bis ich mir die Schuhe abgelaufen hab und die Bilder hin waren, die ich rumgezeigt hab. Aber keiner hatte sie geseh’n. Keine Menschenseele.« Wieder machte sie eine Pause. »Die verdammte Stadt da drüben ist mir verhasst, wissen Sie. Am liebsten wär mir wieder ein Erdbeben, das sie einfach ins Meer kippt. Ich hasse sie. Wenn’s in dieser schlechten, sündigen Welt ein Sodom und Gomorrha gibt, dann is es das«, sagte sie und zeigte mit einem Finger über die Bucht, als spräche sie einen Fluch aus. Als sie mich belustigt grinsen sah, verstummte sie und funkelte mich an ihrer scharf geschnittenen Nase entlang an.

»Da drüben gefällt’s Ihnen wohl, was? Sie finden das wohl alles richtig, den ganzen Scheiß da drüben?«

»Auf mich brauchen Sie nicht wütend zu werden«, erwiderte ich.

»Tut mir leid«, sagte sie schnell und blickte zur Seite.

»Schon gut.«

»Nein, gar nicht gut. Da will ich Sie um einen Gefallen bitten und brüll hier herum. Tut mir leid.«

»Schon okay«, sagte ich. »Ich verstehe das.«

»Haben Sie selber Kinder?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin nie verheiratet gewesen.«

»Dann versteh’n Sie gar nichts. Überhaupt nichts.«

»Auch gut.«

»Und Sie brauchen auch gar nicht so zu tun«, sagte sie und gab mir mit den geröteten Fingerknöcheln eins auf das Knie.

»In Ordnung.«

»Und es tut mir leid, Herrgott noch mal.«

»Okay.«

»Ach Scheiß, gar nix ist okay«, klagte sie, dann stand sie auf und wischte sich die Handflächen an der staubigen Hose ab.

»Soll alles der Teufel holen«, murmelte sie, dann drehte sie sich um und versetzte Fireball einen gewaltigen Tritt in den Hintern, dass der schlafende Hund von den Stufen in die Staubschicht auf dem Beton flog. »Gottverdammter Nichtsnutz von Hund«, sagte sie. »Geh mir aus den Augen.«

Fireball musste Rosies Ausbrüche gewohnt gewesen sein. Er schlich davon, ohne sich umzuschauen, nicht gerade hastig, aber auch ohne Zögern. An der Hausecke stolperte er über den Kater, der im tiefen Gras unter dem Giebel zusammengerollt schlief, und es gab einen kurzdauernden, aber ausschlaggebenden Zusammenstoß, dann ging jeder seiner Wege, der Kater unter das Haus und Fireball zurück zu seinem Platz in der Sonne, welche die Stufen wärmte.

Als er sich hinlegte, warf er Rosie einen trägen Blick zu, dann schloss er die Augen und seufzte wie ein alter Ehemann, der mit einer verrückten Frau geschlagen ist. Aber Rosie sah der Brise zu, die durch das Hügelgras fuhr.

»Noch’n Bier?«, fragte ich.

»Gern sogar«, gab sie zurück, ohne sich umzudrehen. Ihre nasale Stimme klang traurig. »Sehr gern«, sagte sie.

Ich machte mich auf, ihr ein Bier zu holen, und wünschte mir, es wäre etwas Besseres.

»Das war wirklich ganz irre«, sagte sie bei meiner Rückkehr, »als ich Betty Sue da drüben suchte.« Rosie stand immer noch, die Handgelenke an den Hüften nach innen eingeknickt, und starrte nach Südwesten über die sanft gerundeten Hügel auf das kalte, neblige Wasser der Bucht. »Hatte nie eine Ahnung, dass da so viele Leute ihre Kinder suchen. Müssen hundert oder mehr gewesen sein, die da rumliefen und jedem dreckigen Hippie, der hinschauen wollte, die Bilder hinhielten. Furchtbar nette Leute sogar, manche richtig wohlhabend. Aber nicht einer davon hatte die leiseste Ahnung, wieso ihm sein Kind davongelaufen war, wissen Sie. Nicht einer. Und die Jugendlichen, die wir gefragt haben, warum, die haben es offenbar auch nicht gewusst. Zu quatschen hatten sie ja furchtbar viel, aber für mich klang das wie Fernsehen. Sie wussten nicht einmal, was sie dort machten. Der größte Schlamassel, den ich je geseh’n hab, wissen Sie.«

»Ich weiß«, sagte ich. Und ich wusste es auf meine Weise auch, obwohl ich keine Kinder hatte, die davonlaufen konnten. Ende der sechziger Jahre, als ich in Eisen aus Vietnam zurückkam, war ich die letzten zwei Jahre, um nicht ins Zuchthaus Leavenworth zu kommen, als Inlandsspion für die Army unterwegs gewesen und bei den Treffen der Radikalen in Boulder, Colorado, herumgelaufen, und als ich fertig war, fuhr ich nach einer kurzen Zeit als Sportreporter nach San Francisco, um das Hasch und die schönen Zeiten auf eigene Rechnung zu genießen. Aber ich kam zu spät, war zu müde, um wieder zu gehen, zu faul zum Arbeiten, zu alt und bösartig für ein Blumenkind. Ich fand aber eine Art Beruf darin, Fortgelaufene zu finden. Ein paar Jahre lang war Haight-Ashbury in San Francisco eine Goldgrube, bis ich etwas fand, das ich nicht aushielt. Einen vierzehnjährigen Jungen, der in die Dielenbretter einer Wohngemeinschaft in der Castro Street hineinfaulte, siebenundvierzig Stichwunden in Gesicht, Händen und Brust. Das Fernsehteam war vor der Polizei an der Leiche, und Spaß machte das alles gar keinen. Da nicht mehr. Ich wusste Bescheid. Ich konnte Rosie in ihrem besten Strick-Hosenanzug und flachen Schuhen die Steigungen hinauf- und hinunterlaufen sehen, in jedes schmutzige Gesicht starrend, das daherkam, dann wieder auf das Foto in ihrer Hand blickend, nur um ganz sicher zu sein, dass sich nicht ihr kleines Töchterlein hinter strähnigen Haaren, Holzperlen, wunden Lippen und gebrochenen Augen verbarg.

»Es ist so lange her«, sagte ich zu Rosie, »so lange. Warum jetzt wieder mit dem Suchen anfangen?«

»Sie ist alles, was ich noch hab, junger Mann«, erwiderte sie leise. »Das einzige Kind, das ich nicht im Sarg geseh’n hab. Lonnie ist in Vietnam in die Luft geflogen, gleich nachdem sie weglief, und Buddy, den hat vorigen Sommer ein Dünenbuggy unten am Pismo Beach überfahren. Betty Sue ist alles, was ich noch hab, wissen Sie.«

»Wo ist ihr Papa?«, fragte ich und bereute es sofort.

»Ihr Papa? Ihr großartiger, gut aussehender, talentierter Papa?«, sagte sie und warf mir wieder einen scharfen, anklagenden Blick zu. »Das Letzte, was ich gehört hab, war, dass er unten in Bakersfield Alutöpfe auf Raten an Witwenweiber verkauft.« Sie ließ das einen Augenblick verklingen, dann fügte sie hinzu: »Ich hab den Taugenichts weggejagt, als Betty Sue in der Highschool anfing.«

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich frage, warum?«

»Er hielt sich für Johnny Cash«, sagte sie und verstummte, als erkläre das alles. »Drecksnarr.«

»Ich verstehe nicht recht.«

»Jedes zweite Jahr ließ er sich volllaufen, räumte das Bankkonto ab und fuhr nach Nashville, um rauszukriegen, ob er als Gesangsstar groß verdienen könnt. Das Einzige, was der Volltrottel je herausbekam, war, wie lang Geld reicht, dann schleppte er sich heim und grinste wie ein Hund, der Eier auslutscht. Beim letzten Mal, als er das machte, tauchte er auf und war geschieden und kam in den Knast, weil er keinen Unterhalt zahlte. Das ist das Letzte, was ich von ihm geseh’n hab.« Sie grinste. »Gut sah der Kerl wirklich aus, aber wie mein Papa zu mir schon gesagt hat, als ich den Menschen heiratete: Der taugt so viel wie Titten an nem Eber.«

»Er hat von Betty Sue auch nie etwas gehört?«

»Nicht dass ich wüsste«, sagte Rosie. »Betty Sue hing immer an ihrem Papa, aber Jimmy Joe hing an sich selber und hatte für die jungen Männer zu viel übrig, also weiß ich nicht, ob sie ihm das je verziehen hat, aber ich glaube, er hätt es mir gesagt, wenn er was gehört hätt von ihr. Er weiß, dass ich sie such und hat die Hosen voll vor Angst. Ich nehm ihm das Geld für den ganzen Unterhalt nachträglich ab, und da glaub ich, er hätte was gesagt.« Dann verstummte sie und sah auf mich hinunter.

»Also, was meinen Sie?«

»Wollen Sie die Wahrheit hören?«

»Keinen Ton. Ich möcht, dass Sie ein paar Tag nach meiner kleinen Tochter suchen«, sagte sie, dann gab sie mir ein Bündel Geldscheine, das sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte.

»Nur bis der Große aus dem Krankenhaus kommt, länger nicht.«

»Ich vergeude meine Zeit und Sie Ihr Geld«, sagte ich und versuchte, ihr die feuchten Scheine zurückzugeben.

»Es ist mein Geld«, meinte sie schnippisch. »Ist es vielleicht nicht gut genug, dass man Ihre Zeit damit bezahlt?«

»Und wenn sie nicht gefunden werden will?«

»Hat der Große Sie gebeten, dass Sie ihn aufspüren?«, fragte sie.

»Sie könnte tot sein, wissen Sie«, sagte ich, ohne darauf einzugehen. »Haben Sie daran schon gedacht?«

»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht dran denk«, erwiderte sie. »Aber ich bin ihre Mutter, und innerlich weiß ich, dass sie irgendwo am Leben ist.«

Da ich nie eine Methode gefunden hatte, mit mütterlicher Mystik fertigzuwerden, schüttelte ich den Kopf und ging zum El Camino hinüber, um meine Notiz- und Quittungsbücher zu holen, das Bündel Geld vorsichtig in der Hand haltend wie eine Zeitbombe. Dann ging ich zurück, stellte Fragen, machte Notizen und zählte das Geld – siebenundachtzig Dollar.

Rosie nannte mir den Namen des Freundes, der jetzt Anwalt drüben in Petaluma war, von Betty Sues Lieblingslehrer, der in Sonoma immer noch Schauspiel lehrte, und von ihrer besten Freundin, die einen Juden namens Greenburg oder Goldstein, Rosie wusste es nicht genau, aus Los Gatos geheiratet hatte, geschieden war und jetzt angeblich die Graduate School in Stanford besuchte. Details, Details, Details. Dann fragte ich, was für ein Mädchen Betty Sue gewesen sei.

»Das werden Sie sehen, wenn Sie mit den Leuten reden«, gab sie dunkel zurück. »Ich lass Sie das selber herausfinden.«

»Auch gut«, sagte ich. »Weshalb ist sie weggelaufen?«

Nach kurzer Überlegung sagte Rosie: »Ich hab mir lange die Schuld selber gegeben, aber jetzt nicht mehr.«

»Woran?«

»Ich wohn in einem Wohnwagen hier hinten«, sagte sie, »und einmal nach der Scheidung von Jimmy Joe erwischte mich Betty Sue mit einem Mann im Bett. Sie hat das sehr schwergenommen, aber ich glaub jetzt nicht mehr, dass sie deswegen weggelaufen ist. Und manchmal hab ich geglaubt, sie ist fortgegangen, weil sie sich für zu gut hielt, hinter einer Bierkneipe zu wohnen.«

»Gab es zwischen Ihnen Streit, bevor sie fortging?«

»Wir hatten keine Streitereien«, sagte Rosie stolz. »’s gab nix zu streiten. Betty Sue machte, was sie wollte, seit sie ein kleines Mädel war, und ich hab’s zugelassen, weil sie so brav war.«

»Könnte sie schwanger gewesen sein?«

»Könnte sie, aber ich glaub, deshalb wär sie nicht weggelaufen. Aber das weiß ich auch nicht genau.« Dann fügte sie beschämt hinzu: »Wir sind uns nicht nahegekommen. Nicht wie ich mit meiner Mama. Ich musste den Laden führen, weil Jimmy Joe das die meiste Zeit nicht tun wollte, und wenn er’s machte, spendierte er mehr Bier, als er verkauft hat. Irgendeiner musste das Geld verdienen und sich um alles kümmern.« Sie legte wieder eine Pause ein. »Ich geb mir wohl immer noch die Schuld, aber ich weiß nicht mehr wofür. Vielleicht nehm ich es ihr auch immer noch übel. Sie wollte immer mehr haben, als wir hatten. Sie sagte nie was – sie war lieb –, aber ich konnte spüren, dass sie mehr wollte. Ich wusste einfach nie, wovon. Vielleicht können Sie es mir sagen, wenn Sie sie finden.«

»Falls ich sie finde«, sagte ich und gab ihr eine Quittung über siebenundachtzig Dollar.

»Ist es genug?«, fragte Rosie. »Ich hab’s nicht zählen könn’.«

»Mehr als genug.«

»Wenn es mehr macht, geben Sie mir eine Rechnung, verstanden?«, sagte sie.

»Es ist jetzt schon zu viel«, erwiderte ich. »Ich rede mit diesem Albert Griffith drüben in Petaluma und mit diesem Mr. Gleeson hier, und vielleicht kann ich Peggy Bain erreichen, dann bringe ich das Wechselgeld. Aber ich sage Ihnen gleich, das Geld ist zum Fenster hinausgeworfen.«

»Auch gut«, sagte sie und blickte wieder auf die Quittung. »Wie ist der Name? Sughrue?«

»Stimmt.«

»Meine Mama hatte Verwandte in Oklahoma, bei Altus, glaub ich, die auch Sughrue hießen«, meinte sie. »Haben Sie da Angehörige?«

»Ich habe Verwandte überall in Texas, Oklahoma und Arkansas«, gab ich zu.

»Mensch, dann sind wir praktisch verwandt«, sagte sie und hielt mir die Hand hin.

»Durchaus möglich«, sagte ich und drückte ihre feste, freundschaftliche Hand.

»Die Leute versteh’n das mit den Angehörigen nicht mehr«, erklärte sie.

»Die Welt ist zu groß dafür. Ich fahre wohl am besten in die Stadt, um nachzusehen, ob mein anderer Klient noch frisch und munter ist.«

»Wollen Sie ein Bier mit auf die Reise?«

»Gern«, sagte ich und ging aufs Klo, um Platz dafür zu schaffen. Als ich zurückkam, hing sie über der Theke, um mir das Bier zu geben, und sagte: »Sie sind selber einer, der gern trinkt.«

»Nicht so wie früher.«

»Wie das?«

»Bin eines Morgens in Elko, Nevada, aufgewacht und habe Aschenbecher ausgeleert und Böden geschrubbt.«

»Aber aufgehört nicht«, sagte sie.

»Es langsamer angehen lassen, bevor ich aufhören musste«, sagte ich. »Jetzt versuche ich zwei Gläser vor der Wirklichkeit und drei hinter einem Vollrausch zu bleiben.«

Sie lächelte mit überlegenem Wissen, als sei ihr klar, dass der Gedanke, mit dem Trinken aufhören zu müssen, mich so arg erschreckte, dass ich nicht einmal daran denken konnte.

»Würden Sie auf Mr. Trahearnes Cadillac aufpassen?«, fragte ich.

»Holen Sie den Zündverteilerkopf«, sagte sie, »und ich lass Fireball im Wagen schlafen, wenn ich nachts zumache.«

Nachdem ich den Kopf vom Zündverteiler genommen und die Motorhaube zugeklappt hatte, wies Rosie mit dem Kinn auf mein Kennzeichen aus Montana und fragte: »Wird’s da oben nicht kalt?«

»Wenn es das wird, fahre ich einfach nach Süden.«

»Muss schön sein.«

»Was meinen Sie?«

»Fahren, wohin man will«, sagte sie leise. »Ich bin keine zehn Meilen über den Drecksort hier rausgekommen, seitdem ich vor elf Jahren bei der Beerdigung meiner Mama in Fresno war.«

»Frei und ungebunden ist auch nicht immer das, was man sich darunter vorstellt«, gestand ich.

»Daheimbleiben auch nicht«, sagte sie, dann lächelte sie, und die in ihr Gesicht eingegrabenen Falten wurden milder und glatt, sodass einige der Jahre harten Lebens wie glückliche Tränen fielen. »Passen Sie auf, ja?«

»Sie auch«, sagte ich. »Bis Ersten nächste Woche.«

Als ich in meinen El Camino stieg, kam ein Auto voll Bauarbeiter in schmutzigen Overalls und mit grellgelben Schutzhelmen schleudernd neben mir zum Stehen. Die Männer kletterten lachend heraus, schrien auf Rosie ein, stießen sich die Knie in die Hinterteile, waren glücklich in der wilden Freiheit des Biertrinkens nach Arbeitsschluss und stürzten sich wie ein Schwarm kleiner Hühnchen in Rosies offene Arme.

Ich wusste, dass die Männer wahrscheinlich schreckliche Kerle waren, die hübschen Mädchen nachpfiffen, ihre Ehefrauen wie Dienstboten behandelten und bei jeder sich bietenden Gelegenheit Nixon ihre Stimme gaben, aber was mich anging, waren sie einer Volvo-Ladung Liberaler, was harte Arbeit und eine frohe Zeit betraf, weit überlegen.

Der letzte echte Kuss

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