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Im Supermarkt bat ich die Kassiererin um eine Rech- nung für die sieben Kilo Zeitschriften und Taschenbücher, dann zeigte ich kurz eine – unter ausgesprochen widrigen Umständen – erworbene Hilfssheriff-Dienstmarke aus Boulder County, Colorado. Ich erklärte ihr, ich ginge das Zeug nach versteckten pornografischen Inhalten durch. Sie zuckte mit keiner geschwärzten Wimper. Und das gehört zu den Dingen, die ich an Kalifornien immer geschätzt habe: Alle sind so verrückt, dass man geradezu unheimlich sein muss, um überhaupt aufzufallen.

Als ich die Ladung in Trahearnes Zimmer schaffte, schlief er wie ein Grizzlybär im Winter und schnarchte, dass die Fensterscheiben klirrten. Ich wunderte mich, wie er bei dem Riesenlärm schlafen konnte, wie seine Frauen, gewesene und jetzige, Schlaf fanden. Ich versteckte seine Nachmittagsration Wodka zwischen Die Türme von Gallisfried und einem dünnen Western, dann schlich ich auf Zehenspitzen hinaus, bemüht, das Ungeheuer nicht zu wecken.

In der nächsten Telefonzelle fand ich die Rufnummer des Highschool-Lehrers für Bühnenkunst. Als ich Mr. Gleeson anrief und ihm erklärte, weshalb ich ihn sprechen wollte, wirkte er eher vage belustigt als überrascht. Er brauchte aber nicht in seiner Erinnerung zu kramen, um den Namen wiederzuerkennen, was ein gutes Zeichen war. Wenn ich gleich käme, wäre er bereit, sich mit mir zu unterhalten, aber nur kurz, weil er am Nachmittag Schüler erwarte. Dann beschrieb er mir den Weg so verwirrend, dass ich eine halbe Stunde brauchte, um die zehn Meilen bis zu seinem Haus am Fuß der Oakville Grade zurückzulegen.

Charles Gleeson wohnte in einem kleinen Haus in einem Wäldchen immergrüner Eichen. Es war ein kleines Gebäude, das einmal ein Sommerhäuschen gewesen zu sein schien, mit Gaubendach und ungestrichenen Wänden, die geschmackvoll zu Silbergrau verwittert waren. Irgendeine üppige Ranke umkleidete seine Veranda und kletterte wie irr über das Dach, als fürchte sie, in den großen, blühenden Büschen zu ertrinken, die im Garten wucherten. Er kam zur Fliegengittertür, bevor ich klopfen konnte. Er war ein kleiner Mann in krampfhaft steifer Haltung, mit einem übergroßen Kopf und einer so theatralisch tiefen und sonoren Stimme, dass er wie eine schlechte Imitation von Richard Burton bei einer angedudelten Shakespeare-Lesung wirkte. Leider war sein edler Kopf so kahl wie ein Babypopo, abgesehen von einer modisch langen Franse dünner, grauer Haare, die seinen Hinterkopf von Ohr zu Ohr umgab. Er musste für einen Dollar Rasierwasser auf sein Gesicht geschüttet haben und trug eine weiße Leinenhose, ein gestricktes Polohemd und ungefähr zwei Kilogramm Silber und Türkise.

»Sie müssen der Herr sein, der wegen Betty Sue Flowers angerufen hat«, sagte er, als er die Tür öffnete.

Eine surrende Fliege, wie ein winziger Habicht kreisend, stürzte sich vor mir hinein und fegte in die Küche. Gleeson hieb mit einer blassen, wirkungslosen Hand danach und murmelte eine kleine Verwünschung.

»Entschuldigen Sie die Verspätung«, sagte ich.

»Waren die Hinweise richtig? Ich muss mich entschuldigen, aber meine Vorstellung von räumlichen Beziehungen ist streng begrenzt. Außer auf der Bühne, versteht sich. Mein Gott, ich kann ein Riesending wie Trauer muss Elektra tragen im Kopf einrichten, offenbar aber keinem erklären, wie mein kleines Häuschen im Wald zu finden ist«, plauderte er, während er das schwere Armband an seinem Handgelenk drehte. Dann gaben wir uns die Hand, er tätschelte freundlich meinen Unterarm und zog mich in sein Wohnzimmer von dänisch-moderner und Neo-Navajo-Einrichtung. »Draußen ist es herrlich«, meinte er und berührte die Kürbisblüten-Halskette, »warum setzen wir uns nicht auf die Sonnenterrasse? Das Haus ist ein Katastrophengebiet, fürchte ich – ich bin Junggeselle, wissen Sie, und Hausarbeit scheint mir nicht zu liegen.« Er wies mit einer Handbewegung ziellos auf irgendein unsichtbares Durcheinander. Wir hätten von den gewachsten Dielenbrettern in Eiche essen oder auf dem Treibholz-Kaffeetisch eine Blinddarmoperation ausführen können, aber mich störte es nicht, nach draußen zu gehen. Seine Sorte Haus zwang mich immer, meine Stiefel nach Kuhdung zu untersuchen. Leider waren sie diesmal arglos sauber.

Die Sonnenterrasse, aus denselben silbrigen Brettern wie das Haus, von derselben Großranke bedroht, war in Schmiedeeisen und heiterer Leinwand in Orangerot ausgeführt. Jedenfalls waren wir im Freien. Mit einem tiefen, bebenden Seufzen sank Gleeson in einen Regiestuhl und bot mir vornehm den Stuhl gegenüber an.

»Für mich ist es ein bisschen früh, aber möchten Sie ein Cerveza?«, sagte er, lässig die Eiswürfel in dem mundgeblasenen mexikanischen Glas wirbelnd, das er von dem adretten kleinen, zu seinem Stuhl passenden Tisch genommen hatte. »Ein Bier?«, fügte er hinzu, nur für den Fall, dass ich nicht verstanden hatte.

»Klar«, knurrte ich, »für mich ist es nie zu früh.« Dann lachte ich in mich hinein wie Aldo Ray. Wenn ich seine l’homme du monde-Rolle ertragen musste, hatte er meinen weltüberdrüssigen, alkoholischen Privatdetektiv zu erdulden.

»Gewiss«, murmelte er, griff in einen kleinen Kühlschrank auf der anderen Stuhlseite und holte eine Dose Tecate heraus, eine ideale Prise Steinsalz und einen Schnitz Limone schon auf dem Dosendeckel. Er hatte sich vorbereitet, der Halunke. »Mögen Sie mexikanisches Bier?«

»Ich mag Bier«, sagte ich.

»Verstehe«, sagte er und versuchte mit hochmütig emporgezogenen Brauen ein überlegendes Lächeln zu tarnen. »Mexikanisches Bier ist ganz hervorragend. Vielleicht das beste auf der Welt. Ich schätze es selbst sehr. Den Sommer verbringe ich nämlich in Mexiko, San Miguel de Allende, jedes Jahr. Führt mich weg aus der prosaischen Welt der Highschool«, sagte er, während er mir das Bier gab.

»Muss Spaß machen«, meinte ich und stellte mir vor, dass er im Sommer ein Toupet für dreihundert Dollar trug, das aussah wie eine tote Beutelratte, und sämtliche Leute auf vierzig Meilen im Umkreis langweilte.

»Ein herrliches Land«, sagte er seufzend, dann hob er den Kopf. »Eine Spur Salz auf die Zunge, dann das Bier trinken und in die Limone beißen.«

»Klar«, sagte ich, dann schluckte ich das Salz, kippte das ganze Bier hinunter, aß den Limonenschnitz samt Schale und warf die leere Büchse ins Gras. Gleeson sah aus, als wolle er ehrlich zu weinen anfangen, und als ich rülpste, zuckte er zusammen. »Ham’ Sie vielleicht noch so’n mexikanisches Bier?«, sagte ich heiter. »War gar nicht schlecht.«

»Versteht sich«, sagte er, der perfekte Gastgeber, dann teilte er mir eine zweite Dose zu, als sei das Bier rationiert. Bevor ich auch die vernichten musste, wurde ich vom Gong gerettet. Oder vom Zirpen. Sein Telefon zirpte wie ein Vögelchen. »Ach verdammt«, sagte er. »Bitte, entschuldigen Sie mich.«

Als er hineingegangen war, stand ich auf, um das schwere Bier zur Ruhe zu bringen. Aus alter Neugier sah ich mir Gleesons Glas an. Moosbeerensaft und ein Hektoliter Wodka. Er war entweder ein heimlicher Säufer, ein krankhafter Lügner oder durch meinen Besuch nervöser geworden, als er mir anvertrauen wollte.

Ich schlich mich ans Küchenfenster, konnte aber nichts hören als das ferne Pulsieren seiner Stimme und das irre Summen einer verzweifelten Fliege. Ich öffnete die Hintertür, um den armen, verhungerten Teufel herauszulassen, dann setzte ich mich, um einem Kolibri zuzusehen, wie er Zuckerwasser aus Gleesons Vogelhaus saugte. Ich konnte nicht glauben, dass der kleine Halunke deshalb von Südamerika bis hier heraufgekommen war. Oder dass ich den weiten Weg zurückgelegt hatte, um über ein Mädchen zu sprechen, das vor zehn Jahren davongelaufen war.

Gleeson kam zurück und murmelte Liebenswürdiges über die kleinen Schwächen seiner ganz einfachen wunderbaren Schüler.

»Also«, sagte er, als er sich zurücklehnte und die Knie mit den Händen umfasste, sodass die Silberringe leise klirrten. »Was kann ich für Sie tun?«

»Betty Sue Flowers.«

»Gewiss.« Ein kurzes Stirnrunzeln legte seine Stirn bis zur duftenden, glänzenden Weite seiner Kopfhaut empor in Falten.

»Betty Sue Flowers«, sagte er seufzend, dann schüttelte er den Kopf und lächelte schief. »Ich habe seit Jahren nicht an sie gedacht.«

»Was fällt Ihnen dabei ein?«

»So ein primitiver Name für ein so wunderschönes, begabtes Kind«, sagte er. »Als sich zeigte, dass sie mehr war als nur eine gute Amateur-Schauspielerin, riet ich ihr sofort, den Namen zu wechseln und wie alles kindliche Zeug abzulegen.«

»Mir gefällt der Name irgendwie«, sagte ich. Ich mochte Frauen, die ihren Namen wechseln, nicht. So wenig wie Männer, die vor Sonnenuntergang Schmuck tragen.

»Gewiss«, sagte er. »Was wollten Sie eigentlich genau wissen? Ich habe seit dem Freitag, bevor sie weglief, nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Wann war das? Vor sechs, sieben Jahren?«

»Vor zehn.«

»Wie die Zeit verfliegt«, flüsterte er mit verträumtem Beiklang, den Gemeinplatz von sich gebend wie einer, der wusste, was er bedeutete.

»Gewiss«, sagte ich.

Er hob den Kopf und verengte die Augen, als sehe er mich zum ersten Mal.

»Es ist nicht höflich, mich zu verspotten«, meinte er höflich. Er schien sich aber halb darüber zu freuen, dass ich mir die Mühe gemacht hatte.

»Bedaure«, sagte ich. »Eine schlechte Angewohnheit von mir. Worüber hat sie damals gesprochen?«

»Ich fürchte, ich habe nicht die geringste Ahnung«, sagte er, dann hob er den einen Finger. »Warten Sie, ich glaube mich erinnern zu können, dass sie in meinem Büro vorbeikam, um mir zu sagen, sie hätte für den nächsten Abend Karten fürs ACT. Ich fürchte, ich weiß nicht mehr, was gegeben wurde. Es ist ziemlich lange her, Sie verstehen?«

»Zu lange«, räumte ich zum zehnten Mal ein.

»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich mich nach Ihren Motiven in dieser Angelegenheit erkundige?«

»Ihre Mutter hat mich gebeten, nach ihr zu suchen.«

»Machen Sie das als Beruf, oder gehören Sie zur Familie?«

»Beides«, sagte ich. »Ich bin ein Vetter ihrer Mutter und zugelassener Privatdetektiv.«

»Wären Sie beleidigt, wenn ich Sie bäte, mir einen Ausweis zu zeigen?«

»Nee«, sagte ich und zog meine Lizenzkopie heraus.

»Ihrer Aussprache nach hätte ich angenommen, dass Sie vom Teil der Familie in Texas oder Oklahoma stammen«, sagte er, als er sie zurückgab.

»Texas«, sagte ich. »Aber heute dürfen wir fast überall wohnen, wo wir wollen.«

»Verstehe«, sagte er. »Hat es irgendwelche neuen Informationen über Betty Sue gegeben, die ihre Mutter veranlassten, Sie zu beauftragen?«

»Nee«, erwiderte ich. »Ich war zufällig zur Hand. In einer anderen Sache hier unten. Und beide Söhne von Mrs. Flowers sind jetzt tot, sodass sie ihr Töchterchen einfach wiedersehen wollte.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie noch ein Töchterchen ist«, sagte er, über seinen eigenen Witz lächelnd. »Aber an Ihrer Stelle würde ich mich mit ihrem Vater in Verbindung setzen. Aus Gründen, die ich nicht ganz begreife – vielleicht, weil er ihr seine Zuneigung vorenthielt –, war Betty Sue auf ungesunde Weise auf ihn fixiert. Ich möchte annehmen, dass sie mit ihm Verbindung aufgenommen hat. Ja, ich würde nach dem Vater forschen«, sagte er, lehnte sich zurück, schlürfte sein Getränk und seufzte schwer wie ein Detektiv, der in einem existenzialistischen Film gerade einen großen, traurig korrupten Fall gelöst hat.

Mein Temperament und mein Mundwerk hatten mich schon immer in Schwierigkeiten gebracht. Und mich gelegentlich daran gehindert, das zu erfahren, was ich wissen wollte. Ich hätte Gleeson am liebsten erklärt, er sollte sich seinen dummen Rat irgendwo hinstecken. Statt zu meckern hielt ich aber den Mund und mein Temperament im Zaum.

»Ich hatte nie Gelegenheit, Betty Sue kennenzulernen, als sie aufwuchs«, sagte ich, die Richtung wechselnd. »Was für ein Mädchen war sie?«

»Einmalig«, antwortete er schnell, aber leise, dann verstummte er plötzlich, als hätte er etwas eingestanden. Jetzt hatte ich ihn.

»Warum?«

»Warum?«, flüsterte er. »Als ich sie das erste Mal sah, spielte sie in einer Volksschulaufführung von Aschenputtel. Einfach schrecklich die Produktion, selbst für eine Grundschule, und Betty Sue war als böse Stiefmutter fehlbesetzt, aber ich will Ihnen sagen, mein Freund, wenn dieses kleine Kind, ein bloßes Kind, auf der Bühne stand, wirkten alle anderen Kinder wie Wesen einer minderen Rasse. Sie hatte die natürlichste Bühnenausstrahlung, die mir je begegnet ist. Im normalen Leben war sie nichts Besonderes, ein normal aussehendes Kind, mehr nicht, aber auf der Bühne beherrschte sie alles. Was für eine Präsenz! Und auch ein natürliches Gefühl für das Typische!« Er lachte leise. »Ihre Stiefmutter war eine Königin, die den Untertanen Geschenke machte. Und schon damals hatte sie eine erschreckende sexuelle Ausstrahlung. Man konnte die Lüstlinge mittleren Alters im Publikum buchstäblich danach winseln hören, von der Leine gelassen zu werden.

Nach der Aufführung ging ich hinter die Bühne, um mit ihr zu reden«, fuhr er fort, »und sah sie mit solch grauenhaft sehnsüchtigen Augen auf die Kleine blicken, die das Aschenputtel gespielt hatte, dass ich ihr an Ort und Stelle einen Vortrag darüber hielt, wie gut sie gewesen sei. Ich fürchte, ich verlor vorübergehend die Beherrschung. Als ich fertig war, sah sie zu mir auf und sagte: ›Es ist nur ein hübscheres Kleid als das meine, das ist alles. Ich möchte nie Aschenputtel sein. Ich würde mir das nicht bieten lassen.‹ Sie war neun, mein Freund, neun Jahre alt.

Danach nahm ich sie natürlich an die Hand, und sooft es ging, richtete ich meine Highschool- und Laien-Aufführungen so ein, dass sie eine Rolle bekam. Ich versuchte auch, ihre grässliche Mutter zu veranlassen, dass ich sie in einem Schauspielseminar in der Stadt einschreiben durfte – bot sogar an, alle Kosten aus eigener Tasche zu bezahlen. Natürlich lehnte sie es ab. ›Is lauter Blödsinn‹, drückte sie sich, glaube ich, aus.« Er machte wieder eine Pause und verflocht die Hände ineinander. »Ihre verflixte Mutter kam mir dauernd in die Quere. Ich nehme an, dass man sie in ihrer Jugend für hübsch gehalten hatte – auch wenn ich mir das jetzt nicht mehr vorstellen kann –, und sie war auf Betty Sue eifersüchtig. Wer auch nicht, wenn er in dem schrecklichen Wohnwagen hinter der tristen Kneipe haust? Als Betty Sue fünfzehn war, ließ ich einmal einen Freund – einen Berufsfotografen – eine Mappe Aufnahmen von ihr machen. Sie waren herrlich. Als ich Betty Sue später fragte, was sie damit gemacht hätte, sagte sie, die Mappe sei verloren gegangen, aber ich bleibe bei der Überzeugung, dass ihre Mutter sie vernichtet hat. Todtraurig«, sagte er, nippte an seinem Glas und sprach hastig weiter. »Mit fünfzehn spielte sie die Antigone, im Stück von Anouilh, mit sechzehn die Mutter Courage. Ich hätte das nicht für möglich gehalten.«

»Für die Highschool ganz schön gewichtig«, meinte ich.

»Laientheater«, sagte er. »Wir hatten damals eine großartige Truppe. Selbst die Zeitungen in San Francisco besprachen unsere Aufführungen. Sie war so großartig.« Er hörte sich an wie ein Mann, der an Heldentaten in einem antiken Krieg zurückdenkt. »Mit ein bisschen Glück hätte sie es am Broadway oder in Hollywood schaffen können. Mit ein bisschen Glück«, wiederholte er, wie einer, der keines gehabt hat. »Das Glück ist fast genauso wichtig wie die Begabung, wissen Sie.« Dann blickte er in sein leeres Glas.

Ich riss ihn aus seiner Versunkenheit.

»Wie alt war sie, als Sie sie verführt haben?«

Gleeson lachte leichthin, ohne Zögern, und seine überkronten Zähne glänzten in der Sonne. Der Kolibri überflog die Sonnenterrasse wie ein sanftblauer Wischer und hielt kurz an, um Gleesons Duft zu prüfen. Aber Gleeson war keine Blume, also schnellte der Vogel davon. Gleeson klirrte mit seinen Eiswürfeln und stand auf.

»Ich glaube, ich trinke jetzt doch etwas«, sagte er freundlich. »Möchten Sie noch ein Tecate?«

»Ich möchte lieber eine Antwort auf meine Frage.«

»Mein guter Mann«, sagte er, während er etwas zusammengoss, »Sie sind das Opfer von schmutzigen Gerüchten und bösartigem Klatsch geworden.«

»Ich habe Ihren Namen von Mrs. Flowers«, sagte ich, »das ist alles. Außer, dass ich jetzt verstehe, warum sie ihn mit zusammengebissenen Zähnen ausgesprochen hat. Sonst weiß ich über Sie nichts, was nicht Sie mir erzählt haben.«

»Oder was Sie vermuten?«

»Erraten.«

»Sie spielen den Bauerntölpel gut, mein Freund«, sagte er, während er mir noch ein Bier gab. »Aber Sie haben sich verraten, als Sie nicht fragten, was ACT heißt, und auf der Polizeischule oder aus einem Brieflehrgang für Privatdetektive lernt man nichts über Brecht und Anouilh.«

»Den Detektiv soll eigentlich ich geben.«

»Ich nehme an, dass Sie auch diese Rolle sehr gut spielen«, sagte er, »und ich hege den Argwohn, dass es nicht in meinem allerbesten Interesse liegt, dieses Gespräch fortzusetzen.«

»Ich lebe nicht hier«, erwiderte ich. »Es könnte mir nichts gleichgültiger sein als die Frage, wie viele Jungfernhäutchen halbwüchsiger Mädchen Sie in Ihrem Trophäenzimmer hängen haben. Lieber Sie hier bei Kerzenlicht und gutem Wein als irgendein pickliger Zuhältertyp mit einem Sechserpack Bier auf dem Rücksitz eines Autos.«

»So leicht kann man mir nicht schmeicheln«, sagte er, aber ich konnte in den Tiefen seiner Augen schlüpfrige kleine Lichter brennen sehen. »Allerdings genehmige ich mir von Zeit zu Zeit etwas«, fügte er mit einem feuchten Lächeln hinzu. »Die meisten schlichten Gemüter im Ort halten mich für einen Schwulen, und das lasse ich zu. Eine hübsche kleine Tarnung, nicht?« Ich nickte. »Aber Betty Sue und ich hatten eine solche Beziehung nie. Nicht, dass ich nicht höchste Lust gehabt hätte, wohlgemerkt – sie besaß eine sehr sexuelle Ausstrahlung –, und nicht, dass sie nicht bereitwillig gewesen wäre. Gewiss, wenn ich geahnt hätte … geahnt hätte, wie alles kommen würde, gewusst hätte, dass sie keine Theaterlaufbahn einschlagen würde, ich hätte sofort zugegriffen. Aber ich fürchtete, eine sexuelle Beziehung würde unserer beruflichen von Nachteil sein.«

»Beruflich?«

»Richtig«, sagte er. »Ich mag jetzt nur ein Highschool-Schauspiellehrer sein, aber ich habe Off-Broadway und im Fernsehen gearbeitet, sogar am College Unterricht gegeben und kenne mich in der Branche aus. Betty Sue hätte es schaffen können. Und ich gestehe ein, dass ich vorhatte, sie in diesem Fall zu nutzen.« Er seufzte wieder. »Sporttrainer steigen oft mit ihren Starspielern die Leiter hinauf, und ich sah keinen Grund, weshalb ich nicht dieselbe Chance haben sollte. Also verzichtete ich. Betty Sue hätte, wie das bei so jungen Mädchen oft vorkommt, des älteren Mannes in ihrem Leben überdrüssig werden und die sexuelle mit der beruflichen Beziehung durcheinanderbringen können. Deshalb ließ ich die Finger von ihr, mein Freund«, sagte er mit genau der richtigen Mischung von Reue und Stolz.

»Tut mir leid«, erklärte ich, bemüht, sein Gesicht hinter der reumütigen Maske zu sehen. »Sie müssen immer noch Freunde beim Theater haben«, fuhr ich fort, »und ich nehme an, Sie haben im Laufe der Jahre nach Betty Sue gefragt.«

»So oft, dass ich ein wenig zum Gespött geworden bin«, gab er wehmütig zurück. »Aber niemand hat je etwas von ihr gesehen oder gehört. Das ist eine Sackgasse, fürchte ich.«

»Könnte sie schwanger gewesen sein?«

»Das könnte sie, ja«, sagte er. »Ich ging davon aus, dass sie Jungfrau nicht weit über ihren vierzehnten Geburtstag hinaus geblieben ist. Aber wissen konnte ich das natürlich nicht.«

»Wissen Sie«, sagte ich, von der früheren Lüge, das Getränk betreffend, immer noch beunruhigt, »manchmal gestehen Leute eine Kleinigkeit – wie ihre selbstsüchtigen Absichten in Bezug auf ihre Laufbahn –, um etwas Größeres zu verbergen.«

»Was könnte ich denn zu verbergen haben?«, entgegnete er sanft.

»Das weiß ich nicht«, sagte ich, dann beugte ich mich vor, bis sich unsere Hände beinahe berührten. »Ich bin ein bisschen gebildet«, meinte ich, »aber nicht sonderlich raffiniert –«

»Im Innersten immer noch ein Junge vom Land?«, unterbrach er mich.

»Richtig. Und Sie sind, wie gesagt, ein Profi. Sie wissen alles über Schauspielerei und Lügen, Masken tragen, und wenn ich dahinterkomme, dass Sie mich angelogen haben, alter Freund, dann erscheine ich ganz bestimmt wieder bei Ihnen, um das mit Ihnen zu bereden.« Ich zerdrückte die Bierdose mit der Faust. Eine altmodische Stahlblechdose.

Gleeson lachte nervös.

»Sie sind ein großer Schwindler«, sagte er so fröhlich, wie er konnte. »Mit dem Trick könnten Sie kein Kind hereinlegen.«

»Im Gegensatz zu dem Ihren, alter Freund, ist meiner kein Trick«, sagte ich. Dann packte ich sein Handgelenk und presste das schwere Silberarmband in sein weiches Fleisch. »Geistiger Diskurs ist fein, Mann, aber in meinem Geschäft geht es um Gewalt und Schmerz.«

»Mein Gott«, quietschte er und wand sich, »Sie brechen mir den Arm.«

»Das ist erst der Anfang, Mann«, sagte ich. »Merken Sie sich, dass ich das gerne mache und dass ich Sie überhaupt nicht leiden kann.«

»Bitte«, wimmerte er, mit Schweißtropfen auf der Stirn.

»Heraus mit dem Rest!«, flüsterte ich.

»Es gibt nichts, ich schwöre … bitte … Sie brechen …«

»Hören Sie, alter Freund«, sagte ich liebenswürdig, »die US-Army hat mich unter großen Kosten in Verhörtechnik ausgebildet, mir den Kopf mit lauter psychologischem Scheiß vollgestopft, aber als ich nach Nam kam, war Schluss mit der Psychologie. Wir klemmten die kleinen Tölpel an eine Telefonkurbel – Krokodilklemmen an Vorhaut und Brustwarzen –, und die kleinen Saukerle waren hundertmal zäher als Sie, aber wenn wir das Telefon klingeln ließen, haben die geantwortet.«

»Also gut«, ächzte er, »also gut.« Ich ließ sein Handgelenk los. »Können Sie das nicht abmachen?«, stieß er hervor, während er sich mit seinem verbogenen Armband abmühte.

»Sicher«, sagte ich und bog das Silber gerade. Sein Gesicht war faltig, seine Lider zuckten. Er rieb sich das Handgelenk, während ich ihm etwas zu trinken machte. »Sie hatten mir etwas zu sagen.«

»Ja, klar. Einmal, vor einiger Zeit«, plapperte er, »dachte ich, sie in einem Pornofilm in der Stadt drüben gesehen zu haben. Das Mädchen war dick und grässlich, eine fette Sau, aber sie könnte es gewesen sein, es sah danach aus, die Kopie war schlecht, ganz körnig, und die Ausleuchtung noch schlechter, aber es sah nach ihr aus, bis auf die Narbe, diese hässliche Narbe mitten auf ihrem Bauch.« Als er mit dem Reden aufhörte, bewegte sich sein kaputter Mund weiter, wie ein kleines Tier im Todeskampf.

»Warum das verschweigen?«, fragte ich ehrlich erstaunt.

»Ich … ich schämte mich für das Interesse an … an dergleichen«, sagte er, dann stürzte er sich auf sein Glas. »Und es war so schmutzig, dieses grauenhafte fette Mädchen und die alten Männer …«

»Wissen Sie den Titel noch?«

»Tierische … und noch etwas. Lust oder Leidenschaft, so ungefähr. Ich weiß es nicht mehr, es war so grauenhaft«, stöhnte er, dann begann er zu weinen.

»Und so erregend«, sagte ich, und er nickte. »Das ist alles, was Sie mir zu sagen hatten?«, fragte ich, und er nickte wieder.

Es klang nicht richtig, aber ich wusste nicht, was falsch klang. Ich wusste nur, dass ich ihn nicht weiter unter Druck setzen konnte. Ich hatte den Mumm nicht dafür. Beim einzigen Verhör in Vietnam, das ich miterlebt hatte, war mir übel geworden, aber ich wusste nicht mehr, ob mein Erbrechen auf die Qual des kleinen Vietcong, das Vergnügen des vietnamesischen Ranger-Hauptmanns oder meine Erschöpfung zurückzuführen war. Ich war dreiundzwanzig Tage im Urwald gewesen und konnte mit offenen Augen im Stehen schlafen, was gut war, weil ich es mit geschlossenen am Boden nicht konnte. Einige Tage später beging ich den Fehler, der mich aus Vietnam und zwei Jahre später aus der Army fortführte. Das schien in der Regel alles lange her zu sein, aber es erschien zu nahe, wenn ich Gleeson im hellen Sonnenlicht weinen hörte.

»He«, sagte ich, »ich wollte Ihnen nicht wehtun.«

»Ach, ich verstehe«, schluchzte er, »der furchtbare Krieg hat so viele von euch Jungs kaputtgemacht.«

»Ich bin vor neun Jahren aus Nam gekommen«, sagte ich, »und Junge bin ich auch keiner, also suchen Sie nicht nach Ausreden für mich.«

»Gewiss«, erwiderte er so aufrichtig, wie er konnte, »gewiss.« Dann nahm er die Hand vom Gesicht und wischte an den Tränen herum.

»Würden Sie mir einen kleinen Gefallen tun?«, fragte er.

»Nämlich?«

»Rufen Sie mich an, wenn Sie sie finden? Bitte: Ich zahle alles, was Sie verlangen. Bitte!«

»Daran hätten Sie vor zehn Jahren denken sollen.«

»Ha«, sagte er und rieb sich die Augen. »Vor zehn Jahren war ich noch in den Dreißigern, statt fast fünfzig, und ich hatte keine Ahnung, dass ich noch zehn Jahre hier sein würde, keine Ahnung, dass der Gipfel meiner Laufbahn eine kleine Schauspielerin aus der Highschool sein würde. Nicht die geringste Ahnung. Ich wusste damals nicht, was sie mir bedeutete. Jetzt weiß ich es. Ich möchte sie einfach wiedersehen, noch einmal mit ihr reden. Bitte.«

»Ich werde sie nicht finden«, sagte ich.

»Aber wenn doch …«

»Sage ich es Ihnen kostenlos«, erwiderte ich. »Das mit Ihrem Handgelenk tut mir leid, und vielen Dank für das Bier.«

»Gern geschehen«, erwiderte er, ein schwaches Lächeln um die Lippen, dann sank sein Kopf wieder auf die Hände herab.

Ich ließ ihn auf der Terrasse sitzen. Als ich zur Haustür hinausging, nahm ein junges Mädchen mit Top und abgeschnittenen Jeans dies als Stichwort, um ihr Zehngang-Fahrrad den Gartenweg hinaufzuschieben. Ich hätte ihr am liebsten gesagt, Gleeson sei nicht zu Hause, aber ihr Gruß und Lächeln waren scheu und höflich vor Staunen, ihre schlanken und gebräunten Oberschenkel trugen einen Schweißflaum.

»Hallo«, sagte sie. »Ist das nicht ein herrlicher Tag?«

»Erquicket mich mit Blumen«, sagte ich, »und labet mich mit Äpfeln; denn ich bin krank vor Liebe.«

»Was ist das?«, fragte sie süß verwirrt.

»Poesie, glaube ich.«

Statt sie in die Arme zu nehmen, um sie zu beschützen, statt sie mit einer Strafpredigt heimzuschicken, ging ich an ihr vorbei zu meinem El Camino. Die Jugend überdauert alles, Könige und Poesie und Liebe. Alles, bis auf die Zeit.

Der letzte echte Kuss

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