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Kroatien SPLIT

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Zuerst kam das Feuer, dann brach die Hölle los. Dichte, ätzende Rauchschwaden verschlangen uns, bissen in den Augen und brannten mit ihrem unverkennbaren metallischen Aroma auf der Zunge. Einige Momente lang sah man kaum die eigene Hand vor Augen, zugleich hallten ohrenbetäubende Schlachtrufe durch den Dunst. Tausende Fans brannten rote Bengalos ab, warfen Rauchbomben und hüpften im Gleichtakt auf und ab. Die Nordtribüne des Poljud-Stadions, Heimat der Torcida-Ultras bei Hajduk Split, bebte. Zu unseren Füßen trennte ein schmaler Spalt zwei mächtige Tribünenteile, und die Betonstufen schwangen wie bei einem Erdbeben.

Langsam zog die Dunstwolke von der Nordtribüne hinab auf das Spielfeld. Junge, mit Sturmhauben maskierte Männer enterten den Metallzaun und warfen ihre Bengalos Richtung Rasen. Die Fackeln zeichneten einen verblassenden Bogen an den dämmrigen Abendhimmel, um sodann am Rand des Spielfelds zu landen, auf dem das heißblütigste Derby des kroatischen Fußballs, das Ewige Duell zwischen Hajduk Split und Dinamo Zagreb, bereits in vollem Gange war. Mehrere Bengalos loderten auf den Sitzen der Nordtribüne weiter und entzündeten ein Feuer, ohne dass Panik ausgebrochen wäre. Die Menge wich lediglich ein paar Meter zurück, ohne die um sich greifenden Flammen und die schmelzenden Sitze weiter zu beachten. Ein Löschwagen jagte um den Platz, und zwei Feuerwehrleute kletterten mit einem Schlauch auf die Tribüne, um die Gefahr zu beseitigen.

Dem Schiedsrichter blieb nichts anderes übrig, als die Partie zu unterbrechen. Das Spiel war ohnehin nur Nebensache, und das nicht nur, weil Dinamo den Titel in der Saison 2018/19 bereits so gut wie in der Tasche hatte. Das Team hatte zehn der vorangegangenen elf Meisterschaften gewonnen, dagegen lag Hajduks letzter Titelgewinn bereits knapp 15 Jahre zurück. Nein, im Mittelpunkt standen allein die Show und die Botschaft. Die 1950 gegründete Torcida ist die älteste Fanorganisation Europas. Ihr Einfluss ist immens. Indessen die Spieler noch darauf warteten, dass der künstliche Nebel sich verzog, reckten die Mitglieder der Torcida auf der Nordtribüne und die Fans auf der Osttribüne einander den rechten Arm zum wechselweisen Gruß entgegen, begleitet von Gesängen zur Melodie des Triumphmarsches aus Verdis Oper Aida. Ganz vorn standen die Capos mit dem Gesicht zur Nordtribüne und dem Rücken zum Spielfeld, das Megafon in Händen, und dirigierten die Tausende Stimmen, die überwiegend wüste Schmähparolen auf die Rivalen aus der Hauptstadt schmetterten.

»Tötet, tötet, tötet die Purgera«, beleidigten die Torcidas die Gäste mit dem dalmatinischen Slang-Begriff für die Zagreber.

Dinamo, und Zagreb allgemein, wurde für die Torcida aus einer ganzen Reihe komplizierter historischer Gründe zum Erzrivalen. Zur Zeit des ehemaligen Jugoslawiens hatte die Rivalität einen weit verbreiteten, doch mehr oder weniger harmlosen Grund, nämlich den Neid und das Gefühl der Benachteiligung der Menschen fern der Hauptstadt ihrer Teilrepublik. Doch nach dem 1995 zu Ende gegangenen kroatischen Unabhängigkeitskrieg und der Auflösung Jugoslawiens avancierten Dinamo und Hajduk zu den beiden größten Mannschaften der neugegründeten unabhängigen Liga. Partien gegen die alten Belgrader Feinde – Roter Stern und Partizan – standen nicht länger auf dem Spielplan. Also gingen die beiden Lager aufeinander los.

Der kleine, nur wenige Hundert Mann starke schwarze Block der Dinamo-Ultras von den Bad Blue Boys war in einen abgelegenen Teil des Poljud-Stadions weit oben auf der Westtribüne verbannt worden, durch leere Sitzreihen weiträumig vom Rest der Arena isoliert. Die Show gehörte der Torcida. Fahnen wurden von den oberen Sitzreihen nach unten durchgereicht, und auf den Sitzen lagen kleine Plastikbögen in Rot oder Blau bereit für eine weit im Voraus geplante Zettel-Choreo. Niemand wusste, was sie zeigen würde, doch allein durch seine Anwesenheit erklärte man sich stillschweigend mit jeder Botschaft einverstanden. Ein riesiges Banner aus Kunststoff wurde von unten nach oben entrollt, und binnen weniger Augenblicke wurde es darunter heiß und stickig. Jedem Einzelnen war in diesem kollektiven Theaterstück eine Rolle zugedacht. Doch erst nach dem Spiel sah ich auf einer Fotografie, was die Choreografie eigentlich zeigte: das überlebensgroße Bild eines Fans mit nach vorn gereckten Armen, in den Händen einen Schal in Rot und Blauviolett, den Farben der Torcida. Darunter zog sich über die gesamte Breite der Nordtribüne ein einziges Wort in riesigen weißen Buchstaben: »ULTRAS«.

Was sehen Sie, wenn Sie ein Fußballspiel sehen? Sehen Sie ein Mannschaftsschauspiel vor sich ablaufen? Sehen Sie einzelne Spieler, die ihr einzigartiges Können vorführen? Sehen Sie ein Schachspiel, beherrscht von Zahlen, Taktiken und Mustern? Es gibt keine richtige oder falsche Antwort, und Millionen Menschen rund um den Globus werden das Spiel auf eine ganz andere Weise als Sie sehen. Unmittelbar hinter den Begrenzungen des Spielfelds jedoch, auf den Rängen hinter den Toren, herrscht noch einmal ein vollkommen anderes Verständnis vom Fußball für das eine Subkultur steht, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts das Antlitz und die Atmosphäre des Fußballs wesentlich prägt: die Ultras.

Dennoch wissen wir so gut wie nichts über diese Fangruppierungen, deren Rauchschwaden die Stadien einhüllen. Als eigenständige Kultur haben sie ihre eigenen Regeln und Normen entwickelt. Sie führen ein Leben außerhalb des Gesetzes oder geraten zumindest ständig in Konflikt damit. Sie kommunizieren mittels spektakulärer Inszenierungen: riesiger Banner, farbenfroher Choreografien, politischer Parolen, Rauchschwaden, Ehrenbezeugungen, Schmähungen, Gewaltausbrüchen und Gedenkbotschaften. Sie sind gegen die Autoritäten und hegen ein unversöhnliches Misstrauen gegen Polizei und Medien. Sie kämpfen gegen die Kommerzialisierung des Sports und die Kriminalisierung ihrer Brüder. Und sie verfügen über ein internationales Netz der Freundschaften und Feindschaften, einen eigenen Ehrencode und eine ausgeprägte Solidarität.

Der Fußball und das Fußballbusiness sind allgegenwärtig. Ein Milliardenpublikum verfolgt das Geschehen auf und neben dem Rasen und saugt noch die winzigsten Meldungen auf, die auch nur entfernt den Sport betreffen. Noch über das kleinste Detail auf dem Platz wird genauestens berichtet, genauso wie über das Leben der Spieler, die zu Stars eines globalen Entertainmentprodukts aufgebaut werden. Jede Regung von Klubbesitzern, Trainern, Managern und Verantwortlichen wird wie unter dem Mikroskop analysiert. Doch die Fans? Die Ultras? In einem Sport, in dem wir über jeden alles wissen, sind sie weitgehend ein Geheimnis geblieben. Gegeißelt als bedrohliche Fremde, verteidigen sie ihre hart errungene Anonymität und ihren Außenseiterstatus. Es gibt sie auf allen Kontinenten, auch wenn ihre Ansichten und Weltanschauungen unterschiedlich sind. Gibt es überhaupt die Definition, was oder wer »die Ultras« sind? So sichtbar sie sein mögen, sind die Ultras stets ein Rätsel geblieben.

Split ist eine alte Stadt an Kroatiens karstiger Küste, 400 Kilometer und rund fünf Stunden Fahrt von Zagreb entfernt. Im Lauf der Jahrhunderte sind viele Mächte durch die Stadt oder an ihr vorbei gezogen: Römer, Griechen, Byzantiner, Osmanen, Venezianer, Italiener, Faschisten und Kommunisten. Split pflegt seine dalmatinische und kroatische Identität und hat einen entschiedenen Widerstand gegen alle Auswärtigen entwickelt. Es gibt in der Stadt sogar einen eigenen Begriff dafür, dišpet, eine Haltung des Trotzes ungeachtet aller Konsequenzen. »Dišpet heißt, gegen alles und jeden zu sein«, erklärte mir ein Mitglied der Torcida. Split besitzt dišpet. Dalmatien besitzt dišpet. Und auch die Torcida und die Ultras besitzen dišpet. Als Hajduk 1911 gegründet wurde, bezogen sich die Gründer des Vereins mit dem Namen auf die Heiducken, christliche Aufständische in der Art Robin Hoods, die sich ab dem 16. Jahrhundert gegen die osmanische Herrschaft in Europa auflehnten.1 Im Zweiten Weltkrieg wurde das Königreich Jugoslawien 1941 besetzt, und Split geriet unter italienisches Kommando. Hajduk jedoch widersetzte sich lukrativen Angeboten zur Teilnahme an der Serie A, die 1926 vom faschistischen Regime des Diktators Benito Mussolini als nationale Liga etabliert worden war. Nachdem die Italiener Split an die Partisanen verloren hatten, besetzte kurz darauf die deutsche Wehrmacht die Stadt. Unter der Herrschaft der mit den Nationalsozialisten verbündeten Ustascha-Bewegung wurde der Unabhängige Staat Kroatien als deutscher Vasallenstaat gegründet und eine kroatische Fußballliga ins Leben gerufen. Doch Hajduk verweigerte abermals die Teilnahme. Stattdessen gingen die Mitglieder des Vereins geschlossen zu den kommunistischen Partisanen, die unter Josip Broz Titos Führung gegen die Faschisten kämpften. Die Mannschaft wurde zu einer Art Balkan-Propagandaversion der Harlem Globetrotters und trat in Kroatien, Italien und dem Mittleren Osten zu Freundschaftsspielen gegen Gegner aus Reihen der Alliierten an, um auf die Misere des Landes aufmerksam zu machen. Tito war beeindruckt und bot dem Verein an, als offizielle jugoslawische Armeemannschaft nach Belgrad umzuziehen. Doch auch Tito kassierte eine Abfuhr.2

Nach dem Krieg gründete Tito in Belgrad mit Partizan kurzerhand seine eigene Armeemannschaft. Hajduk wurde wieder in Split sesshaft und entwickelte sich zu einem bedeutenden Symbol der kroatischen Identität. Allerdings war der Begriff der nationalen Identität höchst umstritten. Als Tito Jugoslawien als sozialistischen Bundesstaat von sechs Teilrepubliken wiederauferstehen ließ, wollte er die regionalen Unterschiede in einem sozialistischen Ganzen aufgehen lassen. Dass ausgerechnet Fußballfans den schlafenden und gefährlichen Nationalismus wecken könnten, ahnten wohl nur wenige der Machthaber, als die Hajduk-Anhänger sich nach der WM 1950 in Brasilien, an der Jugoslawien teilgenommen hatte, anschickten, mit einer neuartigen Fanorganisation den Gesängen und der Leidenschaft der brasilianischen torcida-Fangruppierungen nachzueifern. Laut einer Gründungslegende erzählten Seeleute von der Insel Korčula nach ihrer Rückkehr von der WM nach Split unvorstellbar klingende Geschichten von den brasilianischen Fans, die mit Musikinstrumenten, Leuchtfeuern und Cleverness ihrer Mannschaft einen Vorteil verschafft hätten. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass die jugoslawischen Spieler selbst von ihren Eindrücken berichtet haben.

Der jugoslawischen Mannschaft, die zuvor, 1948, bei den Olympischen Spielen die Silbermedaille gewonnen hatte, gehörten fünf Hajduk-Spieler an, darunter der junge Torhüter Vladimir Beara. Als Lew Jaschin 1963 den Ballon d’Or erhielt, erklärte er in seiner Dankrede, er sei überhaupt nicht der beste Spieler der Welt. Er sei noch nicht einmal der beste Torwart der Welt. Diese Ehre gebühre Beara.3 Auch wenn die enttäuschten Jugoslawen bei der WM 1950 von Brasilien aus dem Turnier geworfen wurden, waren sie von den Zuschauern tief beeindruckt. 142.000 Menschen waren zu dem Spiel ins Maracanã von Rio geströmt. In Europa war es bis dahin üblich, dass die kaum organisierten Fans ihre Mannschaft auf eher beschauliche Art unterstützten. Doch nun lieferten Beara und sein Hajduk-Teamkamerad Bernard Vukas einer Gruppe von in Zagreb studierenden Hajduk-Fans unfassbare Berichte von dem, was sie im Maracanã gesehen und gehört hatten. Beara beschrieb bildlich den fremdartigen Sound, für den die torcida in den Stadien sorgte: »Sie waren wie eine Maschine, die für ihr Heimatland und ihre Nationalmannschaft stampfte.«4

Die Hajduk-Fans beschlossen, genau dasselbe zu versuchen. »Den Ausschlag gegeben hat ganz sicher das, was wir ihnen erzählt haben. Das kann gar nicht anders sein, denn sie wussten nicht, dass es so etwas wie die torcida überhaupt geben konnte.«5

Hajduks Splits Torcida wurde just in dem Moment gegründet, da für ein ganz besonderes Spiel eine ganz besondere Atmosphäre vonnöten war, vier Monate nach Jugoslawiens Niederlage gegen Brasilien am anderen Ende der Welt. Am vorletzten Spieltag der ersten jugoslawischen Liga musste Hajduk gegen Roter Stern Belgrad antreten. Mit einem Sieg hätte der Verein seinen allerersten Titel so gut wie sicher gehabt. Die Torcida-Anführer rüsteten ihre Mitglieder mit »Schulglocken, Trompeten, Rasseln und Pfeifen [aus] und bestiegen mit ihnen den Zug nach Split«6. Am 28. Oktober 1950 wurde die Torcida offiziell gegründet. Unterstützt von lokalen Funktionären der Kommunistischen Partei suchten Hunderte Torcida-Mitglieder das Mannschaftshotel von Roter Stern auf und brachten den Spielern ein Ständchen, »ein mitreißendes Konzert, bei dem sie ihren Instrumenten schrille Töne entlockten und damit die Vorbereitung des Gegners störten«7. Rund 20.000 Fans quetschten sich am 29. Oktober in das Stadion Stari plac im Zentrum von Split, um das Spiel auf dem Ascheplatz zu verfolgen. Zunächst wurde der Torcida und ihren Instrumenten der Eintritt verweigert, doch dann schaltete sich Hajduks Präsident (ein hochrangiger Funktionär der Kommunistischen Partei) ein. In einer örtlichen Parteizeitung hieß es, das Stadion »glich einem Hexenkessel. Die Schlacht auf dem Spielfeld nahm begleitet von der frenetischen Unterstützung der Zuschauer ihren Lauf … Alle – die Spieler auf dem Feld und die Zuschauer auf den Tribünen – kämpften Seite an Seite.«8

Der Torcida gelang es tatsächlich, die fiebrige Atmosphäre Brasiliens zu kopieren. Doch die Sache lief aus dem Ruder. Mitten im Spiel schlug ein Hajduk-Spieler dem Kapitän von Roter Stern ins Gesicht, und als Hajduk kurz vor Schluss den 2:1-Siegtreffer erzielte – und damit den Titel so gut wie in der Tasche hatte –, stürmten die Zuschauer das Feld. (Letztlich sollte Hajduk als einzige Mannschaft der jugoslawischen Geschichte ungeschlagen Meister werden.) Am Abend feierte die Torcida in der Altstadt, und ein Mitglied verlas vor der Menge einen Nachruf auf Roter Stern Belgrad. In Belgrad wurde das Spektakel verurteilt, und eine Zeitung beklagte den »Höllenlärm« der Torcida und dass die Gruppe an »unzivilisierten und obszönen Vorfällen«9 beteiligt gewesen sei. Die Kommunistische Partei war erschrocken über das unverhüllt kroatische Gebaren der Torcida und fürchtete, dadurch könnten nationalistische Tendenzen geschürt werden, zumal die faschistische Ustascha erst fünf Jahre zuvor besiegt worden war. Sie griff zu rabiaten Maßnahmen. Drei der Torcida-Gründer wurden aus der Partei ausgeschlossen. Der Schiffsjunge Vjenceslav Žuvela von der Insel Korčula, der maßgeblich an der Gründung beteiligt gewesen war, wurde zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, allerdings wurde die Strafe im Nachhinein auf drei Monate reduziert. Hajduk durfte 50 Jahre lang das rot-weiße Schachbrettmuster der kroatischen Flagge nicht in seinem Vereinswappen verwenden. Die Torcida erlebte nur dieses eine Spiel, dann wurde sie verboten. Doch so kurzlebig die Torcida auch war, als Europas erste organisierte Fanvereinigung entfaltete sie eine enorme Wirkung. Hajduk Split war seinem dišpet-Ruf wieder einmal gerecht geworden. Ein rebellischer Klub für eine rebellische Stadt.

Nach Titos Tod 1980 zerfiel Jugoslawien und steuerte in einer zehnjährigen Abwärtsspirale auf einen grausamen ethnisch-nationalistischen Krieg zu, derweil die Torcida als Stimme des Nationalismus in Split ein Comeback feierte. Auch in den anderen jugoslawischen Republiken entstanden neue Fanclubs, wesentlich beeinflusst von den italienischen Ultra-Gruppen, die jenseits der Adria ihre Hochzeit erlebten. Jede einzelne der neuen Gruppen kündigte bereits den zerstörerischen Nationalismus an, der am Horizont aufzog. Begegnungen von Dinamo oder Hajduk gegen Roter Stern Belgrad endeten oftmals mit Krawallen, bei denen die jeweiligen Ultras in vorderster Front standen.

Nach dem Unabhängigkeitskrieg trat Dinamo Zagreb an die Stelle von Roter Stern als Hajduks Erzrivale. Der neue, nationalistische Präsident des Landes, Franjo Tuđman, wollte Dinamo Zagreb zum nationalen Aushängeschild machen. Allerdings war ihm der Name »Dinamo« als zu kommunistisch verhasst, und so wurde der Klub kurzzeitig in Croatia Zagreb umbenannt.10 Im Februar 2000, zwei Monate nach Tuđmans Tod, kehrte der Verein zu seinem alten Namen Dinamo zurück. In den Nullerjahren leitete Zdravko Mamić die Geschicke des Vereins, ein korrupter Funktionär, der lange den kroatischen Fußball kontrollierte und sich bis heute in Bosnien-Herzegowina dem Zugriff der kroatischen Justiz entzieht, nachdem er in Abwesenheit wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung verurteilt wurde.11 Hajduks Ultras hatten die Proteste gegen ihn und seine Helfershelfer im kroatischen Fußball angeführt. Bei der EM 2016 hatten Torcida-Mitglieder aus Protest gegen den kroatischen Fußballverband HNS in St. Etienne Bengalos auf das Spielfeld geworfen, dabei hatte Kroatien in Führung gelegen. Nach der Partie war es unter den kroatischen Fans zu Schlägereien gekommen.12 Vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen Italien 2015 war ein riesiges Hakenkreuz auf den Rasen des Poljud-Stadions gemalt worden, obwohl das Spiel aufgrund rassistischer Sprechchöre bei einem vorangegangenen Spiel ohnehin schon vor leeren Rängen stattfinden musste.13 Vermutlich hatte der Verband in Zagreb mit der Aktion noch stärker in Verlegenheit gebracht werden sollen. Mamić war sogar in die Adria gestoßen worden, als er auf der vor Split gelegenen Insel Brač aus einem schicken Restaurant gekommen war. Dass der Angreifer der Torcida angehört hatte, war nicht bewiesen worden, dennoch kritisierte Mamić die Gruppe kurz darauf in einem in den sozialen Medien veröffentlichten Brief. »Ihr könnt euch nur hinter dem Wort ›Torcida‹ verstecken und so tun, als ob ihr Helden wäret. Doch als Hajduk ausgenommen wurde, habt ihr kein Wort gesagt.«14

Mamić spielte in seinem Post auf das Jahr 2011 an, als Hajduk nach Jahren des Missmanagements und der Korruption beinahe in die Insolvenz geschlittert wäre. Allerdings erwähnte er nicht, dass die Torcida mit einem Mamićs Profitmaximierung entgegengesetzten Modell zur Rettung des Klubs beigetragen hatte. Eine Gesellschaft namens Naš Hajduk (»Unser Hajduk«) war gegründet worden, um den Klub nach strengen, demokratisch überwachten Grundsätzen zu führen. Die Torcida erwarb Anteile des Vereins, bis sie über annähernd 25 Prozent verfügte und damit eine Kontrollfunktion ausüben konnte.

Der Leiter von Naš Hajduk und Hajduk-Fan Ivan Rilov sagte: »Das einzige Ziel, die einzige Absicht war, ein Modell durchzusetzen, das eine demokratische und transparente Führung gewährleistet. Der Aufsichtsrat wird demokratisch gewählt. Dann wählt der Aufsichtsrat den Vorstandsvorsitzenden, und der Vorstandsvorsitzende leitet den Verein.« Die Torcida hatte kein Interesse daran, selbst den Verein zu führen. Die Fanbasis sollte lediglich das letzte Wort haben, wer das tat. Rilov strich die Ehrenhaftigkeit der Fans heraus: »Letzten Sommer gab es hier in der Nähe von Split einen großen Brand. Und wer war ganz vorn dabei, um den Menschen zu helfen? Torcida. Als es vor ein paar Jahren in Nordkroatien große Überschwemmungen gab, waren die Torcida-Mitglieder sofort vor Ort. Wenn in Split ein Krankenhaus Blutspenden braucht, stehen die Torcida-Mitglieder als erste auf der Matte.«

Das neue Modell funktioniert. Inzwischen zählt die Gesellschaft 40.000 zahlende Mitglieder. Rilov erhält E-Mails und Briefe aus aller Welt, nicht nur von Fußballfans, sondern auch von Menschenrechtsaktivisten und -anwälten, die Naš Hajduk als ein rares – noch dazu erfolgreiches – kroatisches Modell ansehen, das für andere zum Beispiel werden sollte. Auch wenn es bisher dennoch nicht zu einem Meistertitel gelangt hat. Gleichzeitig zeigt die Geschichte die Janusköpfigkeit der Ultra-Bewegung. Rilov sagte: »In Split sind wir immer gegen etwas. Das ist nicht unbedingt gesund, aber manchmal kann das auch ganz nützlich sein.«

Vor dem Derby versammelten sich die Torcida-Mitglieder auf einem Platz unweit der Altstadt und erfreuten sich am Bier und ihren Gesängen. Eine wichtige Aufgabe lag bereits hinter ihnen. Sie hatten an ZOB und Bahnhof die Ausweise aller Ankommenden überprüft, damit nicht etwa einer der Bad Boys Blue auf diesem Weg in die Stadt gelangte. Von dem Platz führte der Weg nach Norden, vorbei am alten Stadion Stari plac, vorbei am Hauptquartier der Torcida, vorbei an den Grillständen mit ćevapčići, bis man zu einem kleinen Park kam, von wo man den Ausblick auf das prachtvolle Poljud-Stadion am Adriaufer genießen konnte. Das Stadion mit seinem muschelartig zweigeteilten Dach wurde von Boris Magaš entworfen und gilt als eine der letzten Perlen der jugoslawischen Architektur. Als Zeugnis des vor Titos Tod herrschenden jugoslawischen Utopismus wurde es kürzlich in einer Ausstellung im New York Museum of Modern Art präsentiert.15

Sämtliche Gebäude, Hochhäuser, Läden und Einkaufszentren auf dem Weg zum Stadion waren nicht nur mit Hajduk-Graffiti, sondern auch mit rechtsextremen Symbolen übersät, mit Hakenkreuzen, dem keltischen Kreuz, faschistischen Zahlencodes. Auf eine Wand war Nazi Ragazzi (italienisch für »Nazi-Jungen«) aufgesprüht. Hajduk mochte eine antifaschistische Tradition haben,doch im 21. Jahrhundert ist alles ein wenig komplizierter geworden. Wie viele Kroaten steht auch ein beträchtlicher Anteil der Torcida-Mitglieder der Ustascha aus nationalsozialistischer Zeit wieder wohlwollend gegenüber. Immer wieder kann man die Ustascha-Parole »Za dom spremni« (»Für die Heimat – Bereit!«) vernehmen, das kroatische Pendant zu »Sieg Heil« – insbesondere rund um das Gedenken an die Operation Sturm, die entscheidende Offensive des »Vaterländischen Krieges« für Kroatiens Unabhängigkeit, bei der Hunderte Zivilisten starben und mindestens 200.000 Serben in Todesangst flohen.16 In Kroatien wird die Operation von vielen gefeiert, in Serbien dagegen als im Grunde ungesühnt gebliebenes Kriegsverbrechen verurteilt. Ante Gotovina, einer der verantwortlichen Kommandanten, wurde zunächst vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (UN-Kriegsverbrechertribunal) zu 24 Jahren Gefängnis verurteilt, doch in der Berufungsverhandlung freigesprochen. Laut einem Ex-Torcida-Mitglied bieten die Gesänge zu Verdis »Triumphmarsch« mit dem wechselseitigen Gruß von Nord- und Westtribüne immer wieder einen willkommenen Vorwand für den Hitlergruß, da man anschließend jegliche Absicht glaubhaft abstreiten kann.

Polizisten tasteten an den Stadiontoren die Besucher grob ab. Auf der zur Haupthalle hinaufführenden Treppe sammelten mit Eimern ausgestattete Torcida-Mitglieder Spenden. Normalerweise wurde damit die Choreo finanziert, doch an diesem Tag war das Geld für eine ehemalige Klublegende gedacht. Der Mann war krank und mittellos. Die Torcida wollte 1.000 Euro zusammenbekommen, damit er dennoch Anteile am Verein erwerben konnte. Trotz der Durchsuchungen durch die Polizei waren Hunderte Bengalos ins Stadion gelangt. Nach der Choreo, nach dem Rauch und dem Feuer, stand schließlich noch ein Fußballspiel an. Es endete mit einem tristen 1:0-Sieg für Dinamo Zagreb. Der aufregendste Moment auf dem Spielfeld war noch, als Hajduks Mijo Caktaš mit einem Ellbogenschlag eine Rudelbildung sämtlicher 22 Spieler auslöste. Auch nach dem Schlusspfiff gingen die Gesänge weiter: gegen Mamić, gegen Zagreb, gegen den HNS, gegen die Serben. Gesänge gegen alles. Mit der Nordtribüne hatte die Torcida sich einen Freiraum geschaffen, dessen Regeln allein sie bestimmte. Zugleich war das, was man hier erlebte, eine flüchtige Erfahrung. Von der Choreografie über die Gesänge und Banner bis zu den Klagen über das Kapital und den Forderungen nach Gerechtigkeit war alles real. Doch kaum war die Show vorbei, trat Saison für Saison, Spieltag für Spieltag eine andere, neue Show an ihre Stelle. Jede Aktion war bereits Vergangenheit, kaum dass sie begonnen hatte. Doch jede würde eine Spur zurücklassen, den Hauch einer Erinnerung im kollektiven Gedächtnis. Wie die versteinerten Überreste eines urzeitlichen Tieres, das vergangen und vergessen sein mochte, doch dessen Umrisse sich für immer dem Gestein eingeprägt haben.

Unter Ultras

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