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3 Brasilien RIO DE JANEIRO

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Ich wartete auf Cláudio Cruz, den Gründer von Raça Rubro-Negro, der größten torcida organizada Brasiliens. Seit einigen Jahren gehörte Cláudio eigentlich nicht mehr zur Szene. Er besaß eine Bar in Lapa, die bereits seit einer Stunde geöffnet hatte, doch von Cláudio keine Spur. Die übrigen Geschäfte und Bars hatten ihre Metallgitter bereits heruntergelassen und verriegelt. Die einzige Ausnahme bildete Vaca Atolada, die »Feststeckende Kuh«.41 So war es an jedem glühend heißen Samstagnachmittag. Lapa lag zwar im Zentrum von Rios Zona Norte, doch in Brasilien funktionierte die sozioökonomische Geografie anders als an anderen Orten. Das Geld versammelte sich an den weißen Sandstränden von Ipanema und Leblon. Das Zentrum war am Wochenende tagsüber wie ausgestorben, was an der Stadtflucht und der hohen Kriminalitätsrate lag. Doch immerhin nachts erwachte Lapa zum Leben. Der Stadtteil hatte einen Ruf als Rios Ausgehviertel, doch 17 Uhr war noch ein bisschen zu früh für die meisten Cariocas. Außer in der Vaca Atolada. Die Angestellten bereiteten alles für die Sambaband am späteren Abend vor und räumten die zu Tischen und Stühlen zweckentfremdeten Bierkästen auf den Gehsteig. Ein Barmann meinte, ich könne warten, stellte eine eisgekühlte Literflasche Brahma-Bier vor mich auf den Tisch und öffnete sie einhändig in einer fließenden Bewegung. Cláudio komme immer zu spät, erklärte er.

Die Vaca Atolada war ein Überbleibsel von Rios aussterbender Bohème-Szene. Drinnen an den Wänden hingen überall alte Konzertflyer. Die Toiletten waren mit altmodischen, pornografisch angehauchten Graffiti verziert, die irgendjemand einmal abzuschrubben versucht hatte. Die Partytouristen steuerten gewöhnlich die schickeren Cocktailbars einige Blocks die Straße herunter an. Doch wer Lapa kannte, kannte die Vaca Atolada – und Cláudio. Ihm gefiel seine Rolle: ein sperriges Relikt, das beharrlich seinen Platz verteidigte.

Wenn Cláudio eintrifft, gleicht das mehr einem Überfall als einer Begrüßung. Energisch schüttelte er mir die Hand, während es schon aus ihm heraussprudelte: »Als ich noch Polizist war, habe ich von einer Bar geträumt, wo man für wenig Geld trinken gehen kann.«. Er ließ sich nieder und ruckelte seinen Bierkasten zurecht, bis er mir gegenübersaß. Er habe nicht viel Zeit, sagte er. Die Musiker würden gleich zum Soundcheck kommen. Doch schließlich blieb er zweieinhalb Stunden und redete beinahe ununterbrochen. Er platzierte sich genau eine Armlänge vor mir, und während er die Worte im Maschinengewehrtempo ausstieß, kam es mir beinahe so vor, als würde er gleichzeitig mit mir Schattenboxen. Wollte er seinen Worten Nachdruck verleihen, pochte er im Takt mit den Knöcheln auf den Tisch oder stieß mir gegen die Brust. Er bekannte, er sei doente por Flamengo: »verrückt« nach dem Clube de Regatos do Flamengo, einen von Rios größten Vereinen. Mit demselben Begriff – doente – bezeichnete er immer wieder auch andere Fans. Als wäre es ein Ehrenzeichen für eine außergewöhnliche Flamengo-Leidenschaft.

Die Anfänge der brasilianischen torcidas gehen auf die organisierten Fanclubs zurück, die sich um 1940 rund um die Vereine aus Rio und São Paolo bildeten. Sie gewannen rasch an Beliebtheit und begannen ihre Mannschaften auf bis dahin unbekannte Weise zu unterstützen, zumeist angeführt von einer Sambaband, doch auch mit Bannern, Feuerwerkskörpern und Gesängen. Wie bei den argentinischen barras bravas nahm auch bei den brasilianischen torcidas die Gewalt mit der Zeit immer extremere Ausmaße an. Seit den 1980er-Jahren starben Hunderte Fans bei Schlägereien und internen Kämpfen. Allein 2013 wurden 30 torcedores umgebracht.42 Die Mordrate in Brasilien zählt ohnehin zu den höchsten weltweit; so wurden 2018 rund 50.000 Mordopfer gezählt.43 Kaum irgendwo sonst ist es so gefährlich, ins Stadion zu gehen. Cláudios Zeit hatte vor dieser Entwicklung gelegen. Er war inzwischen über sechzig, doch nach wie vor gut in Form, von kleiner Statur, die dunklen Haare kurzgeschoren. Auf seinem weitgeschnittenen Shirt prangte ein großer Button mit der Aufschrift »Lula Livre!« – »Freiheit für Lula!« – eine Solidaritätsbekundung für den linksgerichteten brasilianischen Ex-Präsidenten Lula da Silva, der nach seinem Amtsantritt kurz nach der Jahrtausendwende Brasilien umgekrempelt und Millionen Menschen aus der Armut geholt hatte. Doch inzwischen saß er wegen Korruption im Gefängnis, auch wenn seine – nach wie vor zahlreichen – Unterstützer (Cláudio inbegriffen) seine Inhaftierung für einen Skandal hielten. Mit gefälschten Beweisen habe verhindert werden sollen, dass er bei den Präsidentschaftswahlen gegen Jair Bolsonaro antreten würde, den rechten Ex-Offizier, der die von 1964 bis 1985 herrschende Militärjunta entschieden verteidigte und die Diktatur als »ruhmreiche Ära« bezeichnete.44 Bolsonaro hasst augenscheinlich alle und jeden: Frauen, Homosexuelle, Indios und sogar den Amazonas. Da Lula im Gefängnis saß, entschied Bolsonaro die Präsidentschaftswahl 2018 für sich und regierte seither. Cláudio war nicht entgangen, dass ich seinen Button bemerkt hatte. Als er Raça Rubro-Negro 1977 gegründet habe, so sagte er, hätten sie in einer »Zeit der Diktatur« gelebt. Auf Deutsch bedeutet raça in etwa »unbedingtes Verlangen« oder »starker Wille« kann aber auch mit »Bande« übersetzt werden. Rubro-negro (Rot und Schwarz) wiederum steht für die Farben von Flamengos Trikot. Die torcida war im Stadion an ihren roten Shirts zu erkennen, die allerdings nicht mit den Vereinsfarben zusammenhingen. »Raça trug als erste torcida nicht das Trikot des Klubs. Unser Shirt war rot für die Liebe zu Flamengo und den mühseligen Kampf für die linke Sache«, erklärte Cláudio.

Der Fußball wurde bekanntlich 1894 von dem Schotten Charles Miller in Brasilien eingeführt, war dort allerdings zunächst ausschließlich der Oberschicht vorbehalten, sodass die riesige afrikanischstämmige und indigene Bevölkerung außen vor bleiben musste. Brasilien hatte erst wenige Jahre zuvor, 1888, als letztes Industrieland weltweit die Sklaverei abgeschafft. Es wird geschätzt, dass bis dahin in knapp 400 Jahren rund fünf Millionen Sklaven nach Brasilien verschleppt worden waren. Zum Vergleich: In den Vereinigten Staaten betrug die Zahl lediglich acht Prozent davon.45 Flamengo war ursprünglich als reiner Ruderklub gegründet worden und hatte erst eine Fußballabteilung eröffnet, als verärgerte Mitglieder des großen Rivalen Fluminese ihrem Verein den Rücken kehrten. Flamengo gelang es als erstem Klub, eine landesweite Fanbasis aufzubauen, nicht allein wegen seiner Erfolge in der damaligen Hauptstadt Rio, sondern insbesondere auch dank der Fortschritte in der Radiotechnik, die es ermöglichten, Partien in ganz Brasilien auszustrahlen. Cláudio wird wie jeder andere Flamengo-Fan nicht müde zu erzählen, dass der Verein zwischen 30 und 40 Millionen Anhänger habe. Mehr, als die meisten Länder Einwohner haben, wie er stolz hinzufügte. Auch Cláudio war durch das Radio infiziert worden. Mit fünf Jahren hatte er 1963 vor dem Empfänger verfolgt, wie Flamengo Meister wurde. »Mir kamen die Tränen, dabei wusste ich noch nicht einmal, was Meister eigentlich heißt. Der Reporter brüllte ›MEISTER!‹, und ich bekam Gänsehaut.« Seiner Ansicht nach lag seiner Begeisterung noch etwas anderes, Tiefgehendes zugrunde, möglicherweise ausgelöst durch die Farben Rot und Schwarz. »Das sind die beiden wirkmächtigsten Farben, die es gibt!«, sagte er. »Die Fahne der Sandinista war schwarz und rot. Hitlers Hakenkreuzfahne war schwarz und rot. Wo auch immer Rot und Schwarz sind, ist der Fanatismus nicht weit.«

Er gründete Raça als Teenager gemeinsam mit seinem Bruder, und am Beginn ihrer torcida stand eine Mischung aus besessenem Fantum und Aktivismus. Wenn sie ihre Graffiti kritzelten und Poster klebten, mussten sie immer wieder »vor den Soldaten mit ihren Maschinenpistolen fliehen«. Stand an einem Sonntag ein Spiel an, brachten sie am Freitagabend mit einem Transporter Tausende Rollen Toilettenpapier zum Maracanã. Sie sprangen vom Transporter über den Zaun und versteckten das Toilettenpapier – das sie beim Spiel auf den Rasen werfen würden – sowie ihre Feuerwerkskörper und Banner zwischen den Dachsparren der Tribüne. Das Problem war, dass vier der großen Mannschaften aus Rio sich das Maracanã teilten und sie nicht riskieren durften, dass eine gegnerische torcida ihre Vorräte fand. »Wenn die Wachleute uns entdeckten, feuerten sie auf uns«, berichtete er. Mit dem mitgebrachten Wasser und Brot hielten sie sich die kommenden zwei Tage verborgen. »Wir blieben dort, ohne scheißen gehen zu können«, berichtete er. Bis am Sonntag die Tore geöffnet wurden und sie sich »mit Bauchschmerzen« rauswagten.

Gewalt spielte seinerzeit bei den torcidas noch keine maßgebliche Rolle. »Das war noch ein anderes Rio, verstehst du? Wir mussten vor den Cops abhauen, die die Stadien bewachten. Nicht vor der Gewalt auf den Straßen, so etwas gab es nicht. Und die Prügeleien unter den torcidas, da kämpften wir mit den Fäusten. Allerhöchstens mit den Trommelstöcken unserer Basstrommeln.« Als Raça sich etabliert hatte, sorgte Cláudio für einen Vervielfältigungsapparat im Stadion. »Wir hatten ein … Wie heißt das noch? Ein soziales Netzwerk!« Cláudio bezeichnete es als »ein prähistorisches WhatsApp. Das war unser Instagram.« Noch während das Spiel lief, arbeitete ein Raça-Team bereits an einem Fanzine zu der Partie. In Handarbeit hauten sie die Seiten mit ihren Gedanken zum Spiel und zu anderen Themen wie etwa den hohen Eintrittspreisen heraus und verteilten die Hefte im Stadion.

Für Cláudio bedeutete Fan von Flamengo sein mehr als nur Liebe. Doente ist das passende Wort dafür. Etwas, das einen überkommt und über das man im Grunde keine Kontrolle hat. Doch bei Raça ging es um mehr, nämlich darum, den Autoritäten die Stirn zu bieten und den Menschen zu zeigen, dass man Widerstand leisten konnte, indem man die Dinge selbst in die Hand nahm. Cláudio blieb zehn Jahre dabei, dann beschlich ihn das Gefühl, zu alt zu sein und keinen Draht mehr zu den Jüngeren zu finden, etwas, das auf sämtlichen Tribünen der Welt passiert. Eine neue Generation löst die alte ab.

Die Band war da, und Cláudio musste zum Soundcheck. »Raça war nicht einfach nur eine torcida organizada«, sagte er. »Sie veränderte die Menschen und ihr Verhalten. Sie begannen, die Gemeinschaft in den Vordergrund zu stellen, und entwickelten einen politischen Blick auf ihre Umgebung.«

Die Gründung von La Doce und der anderen barras bravas war ein Ausfluss der argentinischen Leidenschaft für das Spiel, der Ursprung der brasilianischen torcidas dagegen war eher künstlerischer Natur. Der Begriff torcida ist von dem portugiesischen torcer – verdrehen oder wringen – abgeleitet. Immer wieder wurde mir erzählt, dass das auf die vornehmlich weiblichen Fans zurückginge, die in den Anfangstagen des brasilianischen Fußballs bei Spielen ihre Schals oder Blusen nervös in den Händen verdrehten oder verwrangen. Andere behaupteten, der Begriff leite sich von den Fans her, die ihre verdrehten T-Shirts über den Köpfen rotieren ließen. Doch organisierte Gruppen tauchten erst Ende der 1930er-, zu Beginn der 1940er-Jahre auf. Und wie kein anderer war Jayme de Carvalho daran beteiligt. Carvalho war 1927 als 16-Jähriger mit dem Schiff aus dem Bundesstaat Bahia im Nordosten des Landes auf der Suche nach Arbeit nach Rio gekommen. Zunächst verkaufte er in einem Bus Süßigkeiten, anschließend arbeitete er in einem Kleidungsgeschäft, bis er schließlich im Justizministerium eine Stelle als einfacher Beamter fand. Er entdeckte Flamengo für sich und begann so etwas wie ein Doppelleben zu führen. Unter der Woche war er ein unauffälliger staatlicher funcionario, doch am Wochenende war er doente por Flamengo. 1942 gründete er die Karnevalskapelle Charanga, die das gesamte Spiel über für ein Spektakel sorgte, wie er es von den Straßenbands seiner Kindheit im heimischen Bahia kannte. Als die Kapelle das erste Mal aufmarschierte, beschwerte sich der gegnerische Torwart beim Schiedsrichter und der ließ die Spieler den Platz verlassen.46

Ihren Namen verdankte die Gruppe dem berühmten und äußerst produktiven brasilianischen Komponisten und Textautor Ary Barroso, der als Filmkomponist 1945 für einen Oscar nominiert wurde. Seine berühmteste Komposition ist »Aquarela do Brasil«, international einer der bekanntesten Songs aus der Feder eines Brasilianers. Auch Barroso war doente por Flamengo und betätigte sich nebenbei als Fußballkommentator für Radio Tupi, wobei er gelegentlich auch zu Triller- und anderen Pfeifen griff. Als er bei einem Flamengo-Spiel das unbeholfene Spiel der Kapelle vernahm, bemerkte er spöttisch: »Freunde, das ist keine Musikband. Das ist eine charanga47 Der Begriff charanga bezeichnet in Brasilien eine schief spielende Amateurband. Doch Jayme gefiel der Name, die Charanga do Flamengo war geboren, und Ary und Jayme wurden Freunde.

Gemeinsam mit seiner Frau Laura nähte und färbte Jayme riesige Transparente für das Stadion. Außerdem trugen sie dieselben rot-schwarzen Trikots wie die Spieler auf dem Feld, allerdings hatten sie ihre selbst hergestellt. Für das Fla-Flu-Derby gegen Fluminese im Oktober 1942 entwarf Jayme ein Spruchband mit der Aufschrift »AVANTE FLAMENGO«.48 Nach Flamengos Ausgleichstreffer kletterten Jayme und ein Freund über den Zaun und rannten auf das Spielfeld, was unter den 30.000 Fans beinahe einen Aufstand ausgelöst hätte. Polizisten zerrten sie vom Rasen, verhafteten sie jedoch nicht. Der legendäre Sportjournalist Mário Filho aus Rio – nach dem das Maracanã seit 1966 offiziell benannt ist – beschrieb in einem kurzen Artikel die Anfänge der Flamengo-Fankultur. In dem Text »Karneval im Frühling« schildert er, wie ein Polizist sich beim 1944er-Finale der Meisterschaft des Staates Rio wegen einer gewaltigen Explosion zu Boden warf. Jayme de Carvalho hatte eine »Dynamitbombe« aufs Feld geschmissen. »Er zündete eine Bombe. Sie ging hoch und erfüllte das Stadion mit ihrem Rauch. An der Seitenlinie, wo sie gelandet war, hatte sie den Rasen versengt. Nach dem von Flamengo gewonnenen Spiel führte Jayme eine spontane Prozession tanzender und singender Fans durch Rios Straßen.«49

Feuerwerkskörper und Fahnen waren durchaus nichts Ungewöhnliches in brasilianischen Stadien, die Musikband dagegen schon, und binnen kurzer Zeit fand die Charanga landesweit Nachahmer. Die Lieder der Straßen und des Karnevals wanderten in die Stadien, und Jayme wurde Brasiliens erster Super-Fan. Der Verein stellte ihn an und schickte ihn auf Auslandsreisen. Er hatte sogar einen Ausrüstervertrag mit einem Kleidungsunternehmen. Er war annähernd so berühmt wie die Spieler, so berühmt, dass er vor der WM 1950 zum Chefe dos Chefes de Torcida Brasileira ernannt wurde. Das soeben fertiggestellte Maracanã bildete den würdigen Rahmen für eine Mannschaft, von der erwartet wurde, dass sie den Titel holte. Jayme sollte die Charanga auf internationaler Bühne präsentieren und zugleich dazu beitragen, die gewaltbereiten Impulse der Menge in Zaum zu halten. Bernardo Buarque de Hollanda stellte hierzu in einem Aufsatz in Football and the Boundaries of History fest: »Man wollte unbedingt das Bild eines vernünftigen Staates abgeben, daher übertrugen die Offiziellen die Aufgabe, die Fans und ihr Verhalten zu lenken, weitgehend an Jaime [sic!] de Carvalho. Den Organisatoren war bewusst, wie wichtig ein Wortführer unter den Fans sein würde, um die Polizeichefs bei der Durchsetzung eines wohlgefälligen Verhaltens zu unterstützen.« Und das tat Jayme. Mit seiner Torcida Brasileira begleitete er jedes Spiel der brasilianischen Mannschaft. Bei Brasiliens 6:1-Erfolg über Spanien begannen die Zuschauer »Bullfights in Brazil« von João de Barros zu singen. Barros »war ganz gerührt und ihm kamen die Tränen, als er hörte, wie sein Lied von einer Menge von geschätzt 200.000 Menschen gesungen wurde«.50

Doch dann verlor Brasilien das Finale gegen Uruguay durch den berühmt-berüchtigten Maracanazo (»Schock von Maracanã«), der nicht nur bei den Spielern, sondern im gesamten Land tiefe Spuren hinterließ. Das einzig Erfreuliche war, mit welch erstaunlicher Fairness die Fans die Niederlage hinnahmen. Doch die wohl folgenreichste Wirkung hatte Jaymes Engagement bereits zu einem früheren Zeitpunkt des Turniers erzielt, und zwar bei Brasiliens 2:0-Sieg über Jugoslawien. Die Filmaufnahmen des Spiels sind von recht bescheidener Qualität – die FIFA begann erst 1954, die WM-Endrunden vernünftig aufzuzeichnen –, doch in den existierenden Ausschnitten erkennt man explodierende Feuerwerkskörper, Spruchbänder und die Band im Vordergrund. Der Lärm der von der Charanga angeführten 142.000 Zuschauer hinterließ bei den Gästen bleibenden Eindruck. Ohne Jayme de Carvalho und seine Charanga wäre Hajduk Splits Torcida nie gegründet worden.

Jayme de Carvalho war Cláudios großer Held. Gemeinsam mit seiner Frau Laura führte Carvalho die Charanga und die Torcida Brasileira auch zu den WM-Endrunden in der Schweiz, Schweden, Mexiko und der Bundesrepublik Deutschland und machte so bis zu seinem Tod 1976 ein internationales Publikum mit dem Charanga-Sound bekannt. Cláudio stürmte in die Bar und kehrte mit einem Buch zurück. »Jayme war der allererste Fan, der im Vereinstrikot auf der Tribüne auftauchte«, sagte er und reichte mir das Werk, das er Jayme gewidmet hatte, ein Bildband mit Geschichten und Fotos aus Jaymes Leben. »Verstehst du, wie wichtig die Charanga do Flamengo war?«

Mitte der 1960er-Jahre erlebte Brasilien einen Wandel mit einer rasanten Urbanisierung. Der Putsch von 1964 war der Beginn einer jahrzehntelangen Militärdiktatur. Die neue Fangeneration war jung und arm und lechzte nach Veränderungen. Die bestehenden torcidas waren letztlich ein Produkt ihres Vereins. Ihre Anführer, auch wenn sie wie Jayme nur das Beste wollten, galten als Angestellte des Vereins, dagegen wollten die jüngeren Fans sich von jeglichen Autoritäten befreien. Neue Gruppierungen wie die Torcida Jovem do Flamengo entstanden und schreckten nicht davor zurück, das eigene Team auszupfeifen. In Leserbriefen an Rios Zeitungen beklagte der vom Krebs befallene Jayme de Carvalho am Ende seines Lebens die neue Einstellung. »Flamengo lehrt uns, vor allem Brasilien zu lieben.«51

Im Jahr 1968 stattete Königin Elizabeth II. dem Land einen Staatsbesuch ab. Am vorletzten Tag ihres Aufenthalts besuchte sie eine All-Star-Partie zwischen Rio und São Paolo mit Pelé in seinen Reihen. Unter der beeindruckenden Menge der 200.000 Zuschauer im Maracanã befanden sich auch, an ihren angestammten Plätzen, die torcidas von Botafago, Vasco da Gama, Fluminese und Flamengo.52 Auch Cláudio war dort. »Völlig unvermittelt ertönte ein Werbejingle für die Kekse von São Luiz, so in etwa …« Er räusperte sich und begann zu singen: »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns São-Luiz-Kekse.« Die Menge griff den Jingle im Handumdrehen auf, doch mit einer entscheidenden Abwandlung. »Alle begannen zu singen …«, er räusperte sich erneut, »Pausenzeit, schöne Zeit, gebt uns den Arsch der Queen.« Eine linksgerichtete Tageszeitung berichtete später, die Queen habe, bevor sie Pelé den Siegerpokal überreichte, ihren Gastgebern versichert, wie schön die Gesänge gewesen seien. Der beschämte Dolmetscher hatte notgedrungen zu einer Lüge gegriffen und behauptet, die Menschen würden ihr zu Ehren singen.

Raça entwickelte sich über eine reine Fangruppierung hinaus zu einem Treffpunkt der multikulturellen Jugend Rios, einer Oase, wo man frei seine Ansichten äußern konnte, auch wenn diese hin und wieder ausgesprochen anstößig waren. Immer mehr torcidas lösten sich von den Vereinen und wurden unabhängig, indessen die althergebrachten torcidas der vorherigen Generation, wie die Charanga, an Bedeutung verloren. Cláudio war mit der Entwicklung der brasilianischen torcidas und ihrer Verwicklung in das organisierte Verbrechen alles andere als einverstanden. Ihm zufolge scheffelten die Anführer haufenweise Geld durch den Fanartikelhandel und Schmiergelder der Vereine, hauptsächlich in der Form von Tickets, die weiterverkauft wurden. »Die Wertvorstellungen haben sich gewandelt«, erklärte er und machte ein unerwartetes Geständnis: »Ich zum Beispiel mag den Fußball nicht.« Er liebte Flamengo, nicht die jeweilige Mannschaft dieses Namens. Für Cláudio zählte nur Rot und Schwarz.

Cláudio stieg 1987 aus und fing bei der Polizei an, ohne deswegen jedoch zahmer zu werden. Stolz berichtete er: »Bei der Polizei schimpfte man mich einen Kommunisten, weil ich die Streiks organisierte. Drei Mal hat man mich wegen Militanz verhaftet.« Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst zehn Jahre zuvor hatte er die Vaca Atolada erworben, wo sich die progressiven Aktivisten der Stadt trafen. Die antifaschistischen Mitglieder der torcidas aller Vereine Rios fanden sich dort ebenso ein wie Künstler und Politiker. Die 2018 ermordete Regionalpolitikerin Marielle Franco, die sich einen Namen gemacht hatte, als sie die Polizeigewalt aufgedeckt hatte, war eine Freundin Cláudios und Stammgast in der Vaca Atolada gewesen. Zwei Ex-Polizisten waren wegen des Mordes an ihr festgenommen und angeklagt worden, doch zu den Hintermännern der Tat gab es nach wie vor kaum Erkenntnisse.53 Die veränderten politischen Verhältnisse hatten Cláudio zu einer drastischen Maßnahme greifen lassen: Er war aus dem Ruhestand zurückgekehrt. Der vorherige Boss der Raça war verhaftet worden, weil er einen gegnerischen Fan umgebracht haben sollte, und die Gruppierung war wegen der Gewalt für fünf Jahre aus dem Maracanã verbannt worden. Daraufhin hatte der Vereinspräsident Cláudio gebeten, wieder einzusteigen und als eine Art beratender capo das Chaos zu beseitigen.

Er sagte: »Nach 30 Jahren bin ich zurückgekehrt, um Raça neu zu organisieren. Ich habe ihnen gesagt: ›Wir erneuern Raça von Grund auf, misten völlig aus. Wir schmeißen die Idioten raus. Und sollten am Ende nur 20 Prozent übrigbleiben, können wir neu anfangen.‹«

Er wollte der Gruppe eine neue Organisationsstruktur verpassen, mit einer Art Parlament und Wahlen jeweils zu Jahresbeginn, damit die Macht nicht länger in den Händen eines Einzelnen liegen würde. Außerdem strebte er eine Rückkehr der torcida in die Zeiten eines Jayme de Carvalhos an, als in den Stadien noch brasilianische Musik erklang. »Heute singen sogar die brasilianischen Fans argentinische Songs«, erklärte er sarkastisch. »In meinen Ohren ein furchtbarer Scheiß … Wir bringen die Samba zurück. Die Raça hat als erste torcida die Samba ins Stadion gebracht. Weil sie pure Lebensfreude ist.«

Inzwischen war die Band bereit für ihren Auftritt. Während wir uns unterhalten hatten, hatte die Vaca Atolada sich zum Bersten gefüllt. Die Musiker saßen um einen großen Tisch mitten in der Bar, um sie herum drängten sich die Menschen. Cláudio musste arbeiten. Doch bevor er nach drinnen verschwand, sagte er noch: »Wer die Gesänge kontrolliert, hat die Macht.«

Rafael wartete um Punkt neun Uhr morgens mit einem rot-schwarzen Flamengo-Trikot in der Hand vor meinem Hotel. Er reichte es mir und sagte: »Du solltest es anziehen. Es würde seltsam wirken, wenn du dort ohne auftauchst.« Rafael war ein junger Filmemacher, der mich in der Vaca Atolada eingeführt und Cláudio vorgestellt hatte. Auch er war doente por Flamengo. Es war ein Sonntag, und im Maracanã stand das Spiel gegen Chapecoense an, jenen Verein, der ein Jahr zuvor auf tragische Weise nahezu die gesamte Mannschaft bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte. Kein Verein aus Rio, also auch kein Derby, dennoch wurde mit einem ausverkauften Stadion gerechnet. Das war eine Seltenheit im brasilianischen Fußball. Seit einigen Jahren gab es zwar kaum noch Gewalt in den Stadien, doch der Weg zu den Spielen war mittlerweile derart gefährlich, dass der Zuschauerschnitt in der brasilianischen Série A bei lediglich 15.000 lag. Entgegen der herkömmlichen Fußballlogik kamen insbesondere zu den großen Derbys die wenigsten Zuschauer. Tags zuvor bei Fluminese gegen Botafogo war das Maracanã nur halb voll gewesen. Doch die Liga hatte sich eine neue Lösung einfallen lassen und den Anstoß auf 11 Uhr am Sonntagmorgen verlegt. »Ich denke, so ist es besser«, sagte Rafael auf dem Weg durch merkwürdig leere Straßen zum Maracanã. »Die Leute wollen den torcidas den schwarzen Peter zuschieben. Sie sagen, dass sie gewalttätig seien. In Brasilien haben die Leute Angst, ins Stadion zu gehen, daher der niedrige Zuschauerschnitt. Aber das Lustige ist, dass es in einem Stadion schon lange keine schlimmen Krawalle mehr gegeben hat. So etwas kommt kaum noch vor.«

Raça war aus dem Maracanã verbannt worden, doch Rafael hoffte, dass Cláudio für eine Wende und die Aufhebung des Stadionverbots sorgen und den ursprünglichen Geist der torcida wiederbeleben würde. »Jetzt, mit Bolsonaro an der Macht, versucht Cláudio, den Leuten bewusst zu machen, wie wichtig die torcidas sind, und ihnen vor Augen zu führen, was gerade in Brasilien abläuft«, sagte Rafael. Cláudio war aufrichtig überzeugt, dass die torcida erneut zum Bollwerk gegen den Faschismus werden könne, wie einst zu seiner Zeit. Auch die torcidas anderer Vereine begannen sich zu organisieren, und zu Jahresende sollte ein antifaschistisches torcida-Treffen stattfinden.

»Viele Polizisten unterstützen ihn [Bolsonaro]«, erklärte Rafael. »Letzten Monat wollte jemand mit einem antifaschistischen Flamengo-T-Shirt ins Maracanã. Er wurde nicht reingelassen. Im Grunde leben wir bereits wieder in einer Diktatur, vor allem, wenn man an die Polizei denkt.«

Vor den Eingängen des Maracanã geriet der Strom der 60.000 Zuschauer ins Stocken. Eine buntgemischte Menge drängte in das ausverkaufte Stadion. Im Vorfeld der WM 2014 war ich wegen der damaligen Proteste nach Rio gekommen und hatte auf den Straßen das wahre Brasilien in all seiner Vielfalt kennengelernt. Doch die hohen Eintrittspreise bei der WM und dem vorhergehenden Confederations Cup hatten sich nur die Privilegierten leisten können. Bei den Spielen hatte man ausschließlich weiße Gesichter gesehen. Dagegen bot das bevorstehende Spiel ein weitaus getreueres Abbild von Rio. Nach Nationalhymne und Anpfiff stimmten die Zuschauer ihre Gesänge an. Rafael sagte: »Viele unserer Fans sind arm, darum haben die anderen uns immer angepöbelt: ›Ach, die Favelas, die Favelas!‹ Wir haben ihren Sprechchor übernommen und ins Gegenteil verkehrt: ›Favela, Favela, Party in der Favela‹.«

Flamengo ging rasch mit 1:0 in Führung. Der ausgelassene Jubel der Zuschauer brachte das Stadion zum Beben. Noch vor der Pause bekam die Mannschaft einen Elfmeter zugesprochen, verschoss allerdings. Zur Halbzeit wurde das Team ausgepfiffen. Rafael meinte: »Es reicht nie. Wenn sie drei Tore machen, verlangen die Zuschauer vier.« Doch etwas fehlte: die Musikbands, die Charanga-Klänge, die Pyrotechnik und die Fahnen. Nach der Gewalt und dem anschließenden harten Durchgreifen der Polizei ließen sich der Stil und die Atmosphäre der alten torcida nicht einfach wiederbeleben. Laut Rafael hatten die Verantwortlichen es sich »leicht gemacht«. Sie hatten einfach das Vorgehen der englischen Autoritäten gegen die Hooligans kopiert und die Fangemeinde als Ganzes abgestraft, nicht etwa den einzelnen Gewalttäter.

Flamengo siegte 2:1, und die Pfiffe zur Halbzeit waren vergessen. Unmittelbar nach Spielende begann irgendwo unterhalb von uns eine Blaskapelle zu spielen. Wir stürmten hinab und kämpften uns durch die Menge, bis wir sie gefunden hatten – die Charanga do Flamengo: eine Trompete, zwei Hörner, eine Basstrommel und eine Snaredrum. Sie durfte nicht mehr auf die Tribüne, doch sie war noch am Leben und spielte ihre Stücke, allerdings nur, wenn Flamengo gewann. Seu Gigi, der Präsident der Charanga, erklärte: »Wir waren die erste torcida der Welt!« Gigi war weit über 70, hatte einen buschigen weißen Schnurrbart und spielte die Snaredrum. Seit 40 Jahren war er der Präsident, einer von bislang nur dreien: Jayme, dessen Frau Laura, die nach Jaymes Tod 1976 kurzzeitig das Amt übernommen hatte, und Gigi. »Wir führen [Jaymes] Tradition fort und machen immer weiter.«

Genau das war die Charanga heute: eine Kapelle und eine Tradition, die schon lange von der inzwischen im brasilianischen Fußball herrschenden torcida-Kultur überholt worden war. Doch die Charanga hatte nicht nur den Klang in den brasilianischen Stadien verändert. Sie hatte zudem die Optik und die Musik des brasilianischen Karnevals in der Welt verbreitet. Mittlerweile mochte sie ein historisches Relikt sein, doch sobald sie zu spielen begann, wusste jeder instinktiv, was zu tun war. Eine vieltausendköpfige Prozession folgte der Charanga hinaus in die gleißende Mittagssonne. Betrunkene junge torcedores, alte Frauen und Kinder, die auf den Schultern ihrer tanzenden Eltern auf und ab hüpften. Alle sangen Flamengos Hymne:

Einmal Flamengo,

Immer Flamengo,

Ich stehe für immer hinter Flamengo,

Keine Freude so groß, wie wenn ich es glänzen sehe,

Ob zu Land oder zur See,

Einmal Flamengo,

Flamengo bis zum Tod.

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