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2 Argentinien BUENOS AIRES

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In den frühen Morgenstunden rissen Mikael und ich uns von Nacionals Banda del Parque los und brachen nach Argentinien auf. An einem schönen Tag bei günstigem Wind und ruhigem Wellengang schafft die Fähre es in gut zwei Stunden von Montevideo über den Río de la Plata nach Buenos Aires. Im Skatepark war die Feier immer weitergegangen, doch als irgendwann die Leuchtfeuer, das Kokain und das Geld ausgingen, wurde die Stimmung düsterer, auch wenn Mikael das nicht bemerkte. Ich zerrte ihn fort, bevor es zur unvermeidlichen Razzia kam, und wenige Stunden darauf nahmen wir die erste Fähre. Mikael erzählte mir aus seinem Leben, in dem sich alles um Fußball drehte. Zu Beginn der 1990er-Jahre hatte er Schwedens allererste Ultra-Gruppierung gegründet und in Stockholm einen Laden mit Fahnen, Schals und Shirts eröffnet, die er zehn Jahre lang auf seinen Reisen zusammengetragen hatte. »Ein Freund von mir hatte einen Eishockeyladen«, erzählte er. »Dort habe ich einen Fiorentina/ Inter-Schal ins Schaufenster gelegt, weil ich die Roma mag, und er war noch am selben Tag weg.« Irgendwann hatte er auch Videos und DVDs von Fanschlägereien in England, Deutschland, den Niederlanden, Griechenland, Brasilien und Argentinien ins Programm genommen und schließlich den Laden ganz übernommen. Eine Zeitlang war das Geschäft gut gelaufen, doch nach einigen Jahren war die Miete erhöht worden, und das war das Aus gewesen. Er hatte die unerwartete freie Zeit genutzt und war nach Argentinien geflogen, für ihn das Herz und die Seele der globalen Fankultur und der beste Ort der Welt, um live ein Fußballspiel zu erleben. Doch im Grunde hatte er nur eine Mannschaft unbedingt sehen wollen.

Die Boca Juniors, Argentiniens erfolgreichster Klub, wurden 1905 in dem Stadtteil La Boca von italienischen Einwanderern gegründet. Die meisten von ihnen kamen aus der nordwestitalienischen Hafenstadt Genua. Von den heutigen Argentiniern haben mehr als 60 Prozent in irgendeiner Form italienische Vorfahren. Wegen der starken italienischen Wurzeln des Vereins lautet Boca Juniors’ Spitzname Los Xeneizes, was im genuesischen Dialekt so viel wie »Bewohner Genuas« bedeutet. Beiderseits des Atlantiks entwickelten sich unabhängig voneinander zwei erstaunlich ähnliche Fankulturen: in Italien die Ultras und, zeitlich schon vorher, in Argentinien die barras bravas, was übersetzt so viel wie »wilde Horden« bedeutet. Als rauflustige, locker organisierte Fangruppen gab es sie bereits seit den 1920er-Jahren. Der Name von Bocas barra – La Doce (Die Zwölf) – geht auf das Jahr 1925 zurück, als Victoriano Caffarena, ein wohlhabender Bewohner des Viertels, Bocas erste Europatournee finanzierte. Auf der 22-tägigen Schiffsreise über den Atlantik machte er sich unentbehrlich. Er leitete das Training, massierte die Spieler und kümmerte sich um alles. Die Tournee wurde zum überwältigenden Erfolg, und am Ende der langen Reise war Caffarena im Grunde zu einem der Spieler geworden. Daher wurde ihm der Spitzname »der zwölfte Mann« verliehen, den er bis an sein Lebensende 1972 beibehielt23 – auch wenn zu jener Zeit der Name La Doce schon eine ganz andere Bedeutung angenommen hatte. Seit dem Ende der 1960er-Jahre und vollends im folgenden Jahrzehnt wurde die Organisation der barras zunehmend straffer und hierarchischer. Den Vereinen ging auf, dass sie auf dem Rasen von ihren leidenschaftlichen Unterstützern profitierten, also unterstützten sie die Fans mit Tickets, bei den Reisen und bei den Materialien der trapos (wörtlich übersetzt »Lumpen«, in Argentinien werden damit jedoch die Banner in den Fußballstadien bezeichnet). Laut dem Journalisten Gustavo Grabia, der sich in unzähligen Texten mit Argentiniens barras beschäftigt hat, stattete in den 1960er-Jahren der damalige Boca-Präsident Alberto J. Armando als Erster die barra La Doce mit ausreichenden Mitteln aus, damit sie vor dem Stadion und auf den Tribünen für eine den Gegner einschüchternde Atmosphäre sorgte. Mit Erfolg, glaubt man der Boca-Legende Antonio Rattín, berühmt geworden durch die Rote Karte, die er als argentinischer Kapitän bei der WM 1966 gegen England sah: »Ich weiß noch, wie unsere Gegner in der Bombonera ganz bleich wurden, wenn das ganze Stadion zu singen begann.«24

Der auf die Tribünen niedergehende Geldregen hatte jedoch unvorhergesehene Folgen. Zwar gewann die barra schlagartig an Popularität, doch auch die Gewalt breitete sich aus und wurde mit jedem Jahrzehnt schlimmer. Mikael hatte seine Erfahrungen mit der modernen barra gemacht. Sein erstes Boca-Spiel war 2008 eine Auswärtspartie gegen den Club Atlético Huracán im Estadio Diego Armando Maradona, eigentlich die Heimat der Argentinos Juniors. Dorthin war die Partie wegen einer Stadionsperre nach Zuschauerausschreitungen verlegt worden. Allerdings schaffte die Maßnahme das zugrundeliegende Problem keineswegs aus der Welt. Kurz zuvor war der Streit der beiden La-Doce-Anführer eskaliert, ein Ereignis, das als »der Krieg« bekannt wurde. Bei dem Spiel kam es zu Randalen, und Mikael landete im Gefängnis. Irgendein unbedeutendes Vergehen hatte einen Polizeieinsatz mit Gummigeschossen und Tränengas ausgelöst. Mikael war an dem Abend einer von 184 Verhafteten und wurde zu einer Polizeiwache transportiert. Niemand dort konnte Englisch, und Mikael sprach zu der Zeit auch noch kein Spanisch. Doch alle waren freundlich, insbesondere die Polizisten. Trotz Verhaftung wurde Cola und Pizza für alle bestellt. Um ein Uhr nachts wurde Mikael schließlich nach sechs Stunden in der Zelle freigelassen. Doch am darauffolgenden Morgen tauchte sein markantes Gesicht in allen Zeitungen auf. Die Ausschnitte hat er aufbewahrt. Das Boulevardblatt Crónica brachte das ganzseitige Foto eines demolierten Polizeibusses, an dem ein noch jüngerer Mikael – ohne Bart und mit ein paar Pfund weniger – schüchtern vorbeischleicht. Das Tattoo an seinem Hals ist deutlich zu erkennen. Die Überschrift lautete: »Ein neues Kapitel des ›internen‹ Krieges.«

Der Vorfall hatte für Mikael eine gute und eine schlechte Seite. Einerseits war er dadurch für die breite Öffentlichkeit zum Gesicht des zivilen Ungehorsams der argentinischen barras bravas geworden, insbesondere der barra bei den Boca Juniors, zum fleischgewordenen Symbol einer gewalttätigen, außer Kontrolle geratenen Fußballkultur. Andererseits kannte ihn nun jeder aus dem Umkreis von La Doce. »Die Leute sprachen mich auf der Straße an: ›Du bist doch dieser Schwede? Wir kennen dich!‹«, erzählte Mikael. Seit jener Zeit schmückt ein Boca-Juniors-Tattoo seine Brust.

Mikaels unverhofftem schlechtem Ruf haftete etwas Ironisches an, denn er hasst Gewalt, allerdings hielt er sich anscheinend ständig zu nah am Geschehen auf. Auch sein nächstes Spiel in Buenos Aires, eine Drittligapartie in einem nördlichen Außenbezirk, endete mit Auseinandersetzungen und Gummigeschossen der Polizei. Dabei war er nur dorthin gefahren, um ein Foto der Pyroshow zu schießen. Um seine Haut zu retten, verbarg Mikael sich hinter einem alten Mann, der von der Tribüne humpelte.

»Wie hinter einem menschlichen Schutzschild?«, fragte ich ihn.

»Nein!«, erwiderte er, offenkundig peinlich berührt, wie das klang. Doch seine Logik war bestechend gewesen. Auf einen alten Mann, so hatte er überlegt, würde kaum geschossen werden. »Aber direkt vor mir hat es eine junge Frau erwischt. Sie ist einfach zusammengesackt, und jemand hat sie rausgetragen. Da ist mir schon ein bisschen mulmig zumute geworden.« Mikael klaute höchstens einmal eine gegnerische Fahne, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab. »Und wer hat daran nicht seinen Spaß?«, meinte er, als wäre es das normalste der Welt. »Ich bin oldschool. Ich will mich nicht mit jemandem prügeln. Alles, was ich will, ist hinterher in der Kneipe ein kühles Bier trinken und mit meinen Freunden quatschen.« Für ihn hatten die Jüngeren einen Irrweg eingeschlagen. An erster Stelle hatte immer und unter allen Umständen der Verein zu stehen. Er blieb ein Jahr in Argentinien, knüpfte Kontakte und tauchte tief in die örtliche Fankultur ein. Die Choreografien in den argentinischen Stadien suchten weltweit ihresgleichen. Die barras schufen riesige Banner, die ganze Ränge verhüllten. Die ausgesprochen kunstvollen telon (Vorhänge) waren beispiellos, und die großartigsten machten nicht selten weltweit Schlagzeilen, etwa als die barra des Zweitligisten Godoy Cruz einen riesigen, einhundert Meter breiten telon mit den Porträts von Maradona, Papst Franziskus (der übrigens ein großer San-Lorenzo-Fan ist) und Messi schuf, versehen mit der Aufschrift »Dios, el Papa y el Mesias« – »Gott, der Heilige Vater und der Messias«. Die argentinischen Gesänge wurden in ganz Südamerika kopiert und gelangten schließlich auch nach Europa, wo sie in die Landessprachen übertragen wurden, um die Lokalhelden zu feiern. Und irgendwann erinnerte sich niemand mehr an ihren Ursprung. Ultras aus ganz Europa pilgerten wie Mikael nach Argentinien, um von den barras zu lernen und das ein oder andere mit zurück in die Heimat zu nehmen.

Doch die Leidenschaft hat auch eine dunklere Seite. Seit den 1980er-Jahren kontrollieren die barras bravas die argentinischen Stadien – und noch einiges andere daneben. Die Gewalt im argentinischen Fußball hat weltweit nahezu beispiellose Ausmaße angenommen. Jedes Jahr sterben Dutzende Fans durch Gewalttaten, und seit 2013 sind keine Gästefans mehr in den Stadien zugelassen. Die nationale Initiative Salvemos al Fútbol führt eine Liste mit allen bei argentinischen Fußballspielen getöteten Menschen.25 Der erste derartige Todesfall datiert auf 1922. Der argentinische Soziologe Amílcar Romero, der bahnbrechende Studien zur Gewaltkultur im argentinischen Fußball durchführte, sieht als einen entscheidenden Wendepunkt den Tod eines Fans von River Plate 1958 vor dem Estadio Amalfitani von Vélez Sarsfield, nachdem ein Polizist eine Tränengasgranate abgefeuert hatte. In der Folge seien die Fußballfans zunehmend radikaler gegen die Autoritäten, insbesondere die Polizei, aber auch gegen die gegnerischen Fans vorgegangen.26 Laut Romero hat sich die Gewalt in den Jahren von 1958 bis 1983 verändert. Verantwortlich dafür macht er zum einen die gestiegenen finanziellen Mittel, die in die barras gepumpt wurden, zum anderen das aufgewühlte gesamtgesellschaftliche Klima mit Arbeiter- und Studentenprotesten, Staatsstreichen, Massakern und einer Diktatur, in deren sogenanntem »Schmutzigen Krieg« Tausende Linksaktivisten, Journalisten und Künstler »verschwanden«. Romero sah in den barras das Es einer unglücklichen und gespaltenen Gesellschaft. In den Jahren von 1922 bis 1958 wurden insgesamt 16 im Zusammenhang mit dem Fußball stehende Todesfälle verzeichnet. Für die Jahre von 1958 und 1983 kommt Romero auf durchschnittlich fünf Tote pro Jahr (allerdings einschließlich der 71 Opfer der Tor-12-Tragödie im Estádio Monumental im Anschluss an das Spiel Boca gegen River Plate 1968).

Bis heute sind seit 1922 in Argentinien insgesamt 332 Menschen durch fußballbezogene Gewalt gestorben, Zehntausende weitere wurden verletzt. Romero erklärte: »Bei uns hat die organisierte Gewalt aus dem Fußball auf die übrige Gesellschaft übergegriffen. In Europa war es genau andersherum.«27

Der bis dato letzte Todesfall ereignete sich am 9. Dezember 2018, als im Anschluss an das Finale der Copa Libertadores (dem südamerikanischen Gegenstück zur Champions League) der 21-jährige River-Plate-Fan Exequiel Neris von zwei Boca-Fans erstochen wurde. Der sogenannte superclásico zwischen River Plate und Boca ist Schauplatz einer der weltweit erbittertsten Rivalitäten, und in jenem Jahr standen sich die beiden Vereine erstmals im Finale der Copa Libertadores gegenüber. Als im Verlauf der Copa 2018 der super-superclásico immer wahrscheinlicher wurde, breitete sich Panik unter den Verantwortlichen aus. Im Halbfinale trafen beide Teams auf brasilianische Gegner, was den amtierenden argentinischen Präsidenten Mauricio Macri zu der Aussage verleitete: »Ehrlich gesagt, wäre es mir lieber, dass sich ein brasilianischer Klub durchsetzt, als dass es zu diesem Finale kommt, das uns drei schlaflose Wochen bescheren würde. Ist Ihnen der Druck klar, der da entsteht? Der Verlierer würde sich erst in 20 Jahren davon erholt haben.«28 Macri wusste, wovon er sprach. Sein erstes größeres Amt war das des Boca-Juniors-Präsidenten gewesen. Im Jahr 1995 war er mit knapper Mehrheit von Bocas Mitgliedern – den socios – gewählt worden und hatte seine erfolgreiche zwölfjährige Amtszeit (unter anderem mit vier Copa-Libertadores-Titeln) als Sprungbrett zu einer politischen Karriere genutzt, die ihn zunächst zum Bürgermeister von Buenos Aires und 2015 zum argentinischen Präsidenten werden ließ. Eine vertrauliche, von Wikileaks veröffentlichte US-Geheimdienstdepesche von 2010 schildert, wie Macri als Bürgermeister bei einem Mittagessen gegenüber der damaligen US-Botschafterin Vilma Socorro Martínez ganz offen seine Präsidentschaftsambitionen und Bocas Bedeutung für seine politische Karriere darlegte:

Er [Macri] sprach von seiner Zeit als Präsident des Fußballklubs Boca Juniors als einer hervorragenden politischen Lehrzeit (hinsichtlich Themen wie der Regelung des Zugangs zu Presseräumen und der Umkleidekabine, der Besetzung von Posten und die Durchsetzung geschäftlicher Entscheidungen gegenüber 15.000 Mitgliedern). Er sagte, dass die landesweite Fanbasis des Vereins sein bedeutendster politischer Aktivposten sei: »Jegliche politische Unterstützung außerhalb von Buenos Aires verdanke ich zu 90 Prozent meiner Tätigkeit bei Boca und zu zehn Prozent meinem Posten als Bürgermeister von Buenos Aires.«29

Wie ihn die Erfahrungen aus seiner »politischen Lehrzeit« zurecht hatten vermuten lassen, wurde der super-superclásico 2018 in der Tat zu einem Desaster für Argentiniens Image. Das Rückspiel musste abgesagt werden, da der Boca-Mannschaftsbus auf dem Weg ins Estádio Monumental von River-Plate-Fans attackiert wurde und die Polizei Tränengas einsetzte, das mehrere Boca-Spieler einatmeten. Twitter-Videos des Klubs zeigten, wie sie sich in der Kabine übergaben. Wegen der angespannten Sicherheitslage wurde beschlossen, das Spiel an einem neutralen Ort auszutragen.30 Die Wahl fiel auf Madrid – eine gewaltige Demütigung für Südamerika, denn eigentlich ehrt der Name des Wettbewerbs die Kämpfer für die Unabhängigkeit von Spanien und Portugal. River Plate gewann den Titel, und der südamerikanische Fußballverband CONMEBOL beschloss anschließend, dass der Wettbewerb künftig stets durch ein einziges Finalspiel an einem neutralen Ort entschieden würde.

Seit einigen Jahren sinkt immerhin die Zahl der von gegnerischen Gruppen getöteten Fans. Inzwischen gehen die meisten Todesfälle auf Abrechnungen innerhalb einzelner barras zurück, vornehmlich, weil sie ihre geschäftlichen Tätigkeiten stark ausgeweitet haben – auf Ticketschwarzhandel, Parkgebühren, Schutzgeld und Drogen – und mittlerweile eher mafiösen Organisationen als Fanclubs gleichen. Bocas bedeutendste barra La Doce erlebte in den vergangenen zehn Jahren unzählige solcher Abrechnungen. Der Präsident Rafael di Zeo ist einerseits ein Showman, andererseits ein gefürchteter Boss. Seit Mitte der 1990er-Jahre hat er La Doce zu einer beeindruckenden und mächtigen Gelddruckmaschine mit weitreichenden Beziehungen zum politischen Establishment des Landes umgebaut. Doch Geld und Macht riefen Rivalen auf den Plan. Als Rafa, wie er gemeinhin genannt wird, wegen seiner mutmaßlichen Rolle bei den Krawallen von 1999 zwischen den Fans von Boca und Chacarita Juniors 2007 zu vier Jahren Haft verurteilt wurde, nahm mit Mauro Martin einer seiner Unterbosse seinen Platz ein. Und dieser weigerte sich, den Posten zu räumen, als Rafa 2009 freikam.

Es folgte ein blutiger Kampf um die Macht – »Der Krieg« –, der Dutzende Opfer forderte. Mauro selbst wurde angeschossen, überlebte jedoch. Schließlich wurde ein Waffenstillstand geschlossen. Rafa kehrte an die Spitze zurück, und Mauro wurde als sein Stellvertreter eng eingebunden. In Mikaels Augen handelte es sich um einen wackeligen Waffenstillstand, der jeden Moment gebrochen werden konnte. Mikael hatte einen alten Kumpel bei La Doce angerufen, der sich noch an seinen kurzen Ruhm als bekanntester Hooligan von Buenos Aires erinnern konnte. Er hatte gesagt, dass Mauro sich bereiterklärt habe, uns am darauffolgenden Tag vor dem Boca-Spiel in Bajo Flores zu treffen. Im abschließenden Gruppenspiel der Copa Libertadores erwartete Boca zu Hause Athletico Paranaense. Boca hatte sich bereits für die K.-o.-Phase qualifiziert, doch für Mikael war es die Chance, in sein geliebtes Estadio Alberto L. Armando zurückzukehren, von allen zärtlich »La Bombonera« genannt. Und immerhin stand noch etwas nicht ganz Unwichtiges auf dem Spiel. Durch einen Sieg würde Boca Juniors in dieselbe Hälfte des Turnierfeldes wie River Plate gelangen, sodass die beiden im Halbfinale aufeinandertreffen konnten. Mauricio Macri lag falsch. Es musste nicht unbedingt 20 Jahre dauern, bis der Unterlegene sich von der Niederlage im superclásico-Finale der Copa Libertadores würde erholen können. Das Schicksal winkte Boca nach nicht einmal zwölf Monaten mit der Möglichkeit zur Vergeltung.

In einem westlichen Außenbezirk von Buenos Aires waren in beeindruckenden renovierten Räumlichkeiten drei Künstler an ihren Leinwänden beschäftigt. Aus dem Radio schallten System of a Down, und die Sprühdosen zischten. Der Geruch von Lösungsmitteln hing schwer in der Luft. An einer Wand widmete sich einer der Männer einem telon für San Lorenzo, einem riesigen weißen Banner, auf dem er gerade die Vorzeichnung von zwei Trommeln farbig ausarbeitete. Ein zweiter saß an dem Porträt von Eva Peron mit der argentinischen Flagge als Hintergrund, das für die hinchas der Nationalmannschaft bei der bevorstehenden Copa América in Brasilien bestimmt war. Der dritte verlieh für das anstehende Boca-Spiel einer kleineren Fahne in Blau und Gold mit dem Twitter-Hashtag der Boca-Juniors-Nachwuchsfans, @JuvenilXeneizes, den letzten Schliff. Pepe Perretta, der eine rote Truckermütze mit dem Aufdruck »Buenos Aires Aerografia« trug, erklärte: »Die ist nicht für La Doce, sondern für die normalen hinchas.« Er musterte die Arbeit seiner Leute mit einer unangezündeten Selbstgedrehten im Mund.

Die Frage nach dem Ursprung der riesigen Blockfahnen – der telon –, die bei Fußballspielen ganze Ränge verhüllen, ist bis heute ungeklärt. Doch über den momentan besten telon-Künstler der Welt besteht kein Zweifel. Pepe Perretta hat mehr als 100 dieser Monumentalwerke geschaffen, und jedes davon erzählt eine eigene Geschichte von den jeweiligen Auftraggebern. Die Wände in Pepes Büro im Obergeschoss waren übersät von signierten Trikots und Fotografien, die ihn mit argentinischen Legenden zeigten. Eine Ecke des Raums wurde durch ein Originalstück des mit Stacheldrahtkrone versehenen Zaungitters aus dem Stadion von Pepes Lieblingsklub Nueva Chicago abgetrennt. Hinter dem Zaunstück befanden sich neben Hunderten von Trikots und Schals auch Dutzende Bücher über seinen Helden Diego Maradona und etliche signierte Fotografien des Spielers. Auch Messi hatte Pepe ein Trikot geschickt. Jedes einzelne Stück hier war ein Geschenk von hinchas, Spielern oder auch Päpsten als Dankeschön für die beeindruckenden öffentlichen Kunstwerke, mit denen Pepe sie geehrt hatte. Auch der gigantische telon mit dem Papst, Messi und Maradona für die barra von Godoy Cruz war Pepes Werk gewesen.

Pepes Arbeiten waren weltweit bereits in den Kurven und auf den Rängen der größten Stadien zu sehen gewesen: in Kolumbien und Chile, in Italien bei Napoli, Inter, Lazio, Torino und der Fiorentina, in Spanien bei Barcelona und Atlético Madrid. In Argentinien hatte er für unzählige unvergessliche Momente gesorgt, etwa durch seinen berühmten telon zu Ehren von Sergio Agüero kurz vor dessen Wechsel von Independiente zu Atlético Madrid oder einen telon von 350 Meter Länge, der annähernd das gesamte Racing-Club-Stadion verhüllt hatte. Gerade hatte er mit Saudi-Arabien telefoniert, für das er eine 500-Meter-Flagge schaffen sollte, ein neuer Weltrekord. Begonnen hatte alles 2006, nicht zuletzt dank La Doce. Als Biker hatte Pepe zunächst vor allem Helme und Tanks mit seinen Kunstwerken verziert. Gelegentlich hatte er auch Ladenfassaden bemalt, wenngleich sein Vater seinen künstlerischen Ambitionen kritisch gegenübergestanden hatte. Doch eines Tages war La Doce auf Pepe zugekommen und hatte bei ihm ein Banner mit dem Boca-Trikot und einer Zwölf in einem Kreis in Auftrag gegeben.

Das Werk wurde unter großem Brimborium enthüllt, und Pepe konnte sich vor Anfragen anderer barras nicht mehr retten. Sie alle wollten ebenfalls ihre eigenen unverwechselbaren Fahnen und Banner. Oftmals brachten sie bereits Entwürfe mit, die Pepe anschließend überarbeitete. Er wusste, was funktionierte und was nicht. Laut eigener Auskunft malte er, was seine Auftraggeber wollten. Politische oder religiöse Tabus kannte er nicht. Das berühmte telon für Godoy Cruz beispielsweise enthielt eine Karte der Malvinas (Falklandinseln). Die Arbeit an einem Stück dauerte zwischen fünf und 15 Tagen, nicht selten unter gewissen Sicherheitsvorkehrungen, falls gegnerische barras die Flagge als Machtdemonstration zu stehlen versuchen sollten. Gelegentlich beschützten ihn bei der Arbeit Dutzende Personen des jeweiligen Vereins. »Ich lege all mein Herzblut in die Arbeit. Denn genau das stelle ich dar: das Herzblut der barras.« Bis zu jenem Tag war Pepe noch nie ein Banner gestohlen worden, nicht zuletzt, weil ihm gelingt, was niemand anderem gelingt: zwischen den barras hin und her zu wechseln, ohne dass Rivalitäten oder Stammesdenken ihm in die Quere kommen – allein wegen seiner Arbeit.

Dass Pepe von allen rivalisierenden barras gleichermaßen geschätzt wird, verdankt er in erster Linie dem einzigen Prinzip seiner Arbeit: Er hat noch nie ein Werk geschaffen, das sich gegen irgendjemanden gerichtet hätte. Boca-Fans hatten von ihm Schmähbanner gegen River gewollt, doch »ich male ausschließlich für eine barra, nicht gegen einen anderen Klub«. Ein einziges Mal führte seine Bereitschaft, telones für jeden zu gestalten, dazu, dass sich eine barra von ihm abwandte. Pepe hatte von River Plate den Auftrag für ein riesiges Banner erhalten. Sein Vater, der seiner Kunst stets skeptisch gegenübergestanden hatte, war ein Fan des Vereins gewesen, dennoch hatte Pepe ihm nichts von dem Auftrag erzählt. Sie waren gemeinsam ins Monumental gegangen, wo der Vater miterlebt hatte, wie die Kunst seines Sohnes vor einem frenetischen Publikum entrollt worden war. Kurz darauf war er gestorben, doch nicht ohne verstanden zu haben, wofür sein Sohn lebte. Allerdings hatte das Banner Folgen gehabt. La Doce hatte sich nie wieder bei Pepe gemeldet.

Auf den ersten Blick ergeben die trapos, die telones und die Zettel-Choreos nur wenig Sinn. Es sind hochdekorative, technisch anspruchsvolle und kostspielige Kunstwerke, deren an die eigene Mannschaft oder die Welt gerichtete Botschaft – sei es ein Gedenken, eine Warnung oder auch eine politische Aussage – nur wenige Sekunden zu sehen ist und dann auf immer verschwindet. Häufig werden die Banner im Anschluss verbrannt, damit sie nicht den gegnerischen Fans in die Hände fallen können. Für Pepe jedoch ergibt das alles vollkommen Sinn. Dank der modernen Technik und den sozialen Netzwerken werden seine Schöpfungen auf ewig bewahrt. Vor allem jedoch drücken sich in ihnen Stolz und Support aus, sodass sie ohnehin stets nur für einen bestimmten Moment und einen engen Kreis gedacht sind. Pepe erklärte: »Ursprünglich sollte die Fahne bei einem Fußballspiel nur die Verbundenheit mit dem eigenen Viertel zeigen. Für mich war das immer so eine heraldische oder mittelalterliche Sache. So etwas wie das eigene Abzeichen auf dem Schlachtfeld.«

»Gibt es noch einen Klub, für den du gern arbeiten würdest?«, fragte ich ihn.

»Nein, da gibt es keinen Klub für mich!«, erwiderte er, und genau so war es. Ihm ging es nicht um Klubs oder Mannschaften. Sondern um Stadien. Er sprach nicht von Real Madrid, sondern vom Bernabeu. Er sprach nicht von der barra des Club América oder den hinchas der mexikanischen Nationalmannschaft. Er sprach von dem Estadio Azteca. »Meine Museen sind die Zäune und Tribünen der Stadien«, stellte er fest. »Der beste Rahmen für meine Kunst sind die besten Stadien. Will man Gemälde und Skulpturen sehen, geht man in ein Museum. Und mein Museum sind die Stadien.«

Mikael gab eine kleine Fahne für Hammarby in Auftrag, bevor Pepe auf den Computer schaute und sah, dass er schon spät dran war. Im Stadion von Vélez Sarsfield wartete ein wichtiger Job auf ihn. Er sprang mit einer Zigarette im Mundwinkel auf seine Harley Davidson und bretterte Richtung Schnellstraße. Fünfzehn Minuten darauf kam er – mit uns im Schlepptau – am Estadio José Amalfitani an. Pedro Paz erwartete uns bereits. Pedro war ein Hüne von einem Mann, mehr als zwei Meter groß und mit schulterlangen dunklen Haaren.

»Jefe Ultra«, begrüßte Pepe ihn. Pedro war der »jefe« oder Boss der barra von Velez Sarsfield, La Pandilla. Der Sicherheitsmann am Stadiontor sprang auf und zückte seine Schlüsselkarte, als er ihn kommen sah. Pedro sagte: »Wir wollen etwas ganz Besonderes für unser Klubheim.« Es ging um ein Wandbild für das Hauptquartier der barra. Freundlich und charismatisch geleitete Pedro uns durch die Klubgeschichte und zeigte uns etwa die Statue des jungen Carlos Bianchi, der als erfolgreicher Torjäger bei dem Klub gespielt und ihn 1994 als Trainer zu den Triumphen in der Copa Libertadores und dem Weltpokal geführt hatte, oder den Pokalraum mit den Trophäen aus Bianchis erfolgreicher Trainerzeit. Alle paar Schritte wurde er wie ein heimgekehrter Held begrüßt. Ältere und jüngere Frauen verließen ihre Schreibtische und Tresen, um ihn zu umarmen. Pedro kannte jede beim Namen. Als wir am Schwimmbad vorbeikamen, das nach dem 2011 verstorbenen ehemaligen barracapo Marcos »Marquitos« Lencina benannt war, scharten sich die Kinder um ihn und hüpften hoch, um ihn abzuklatschen. Er erinnerte an Arnold Schwarzenegger an seinem zweiten Undercover-Tag in Kindergarten Cop.

Bei dieser Gelegenheit sah ich erstmals mit eigenen Augen den Einfluss der barras in den argentinischen Vereinen. Der Ex-Präsident von Vélez, Raul Gamez, hatte zuvor sogar als Anführer der barra wegen polizeifeindlicher Ausschreitungen sechs Monate im Gefängnis gesessen. Anschließend hatte er sich bei den Gremien des Vereins eingeschmeichelt und war letztlich gewählt worden. Doch wie ein Rockabilly-Opa, der über die K-Pop hörende Jugend von heute lamentiert, hatte er zuletzt die nachwachsende Generation der barra kritisch beäugt und erklärt: »Wir sind vor 50 Jahren ›gute Jungs‹ gewesen, als die Gesellschaft noch eine andere war. Damals herrschten noch andere Sitten, und Drogen waren für uns kein Thema.«31 Besonders kritisch sah er die zunehmende Politisierung der barra. Mit der Formulierung »gute Jungs« griff er eine Äußerung der ehemaligen argentinischen Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner auf, die kurz vor dem aus Steuergeldern finanzierten Trip der Anführer der bedeutendsten Gruppierungen zur WM 2010 in Südafrika die barras so genannt hatte. Doch die politischen Beziehungen reichten noch tiefer. Gewerkschaften, Unternehmen und sogar Parteien engagierten die barras häufig für Aktionen gegen ihre jeweiligen Gegner. Gamez sagte: »Die Politiker brauchen [die barras] und setzen sie als gewaltbereite Handlanger ein. Die Vereinsspitzen wollen kein Problem mit den barras, also schließen wir Pakte mit ihnen. Wir haben keine andere Wahl, denn es gibt keine Garantien [für unsere Sicherheit].«32

Pedro erklärte im Dämmerlicht ihrer Turnhalle, was er sich vorstellte: ein wandfüllendes Gemälde zu Ehren seines Vorgängers Marquitos. Auf der gegenüberliegenden Wand trocknete das frische Bild einer Cartoon-Bulldogge. Pedro zückte zur Erklärung sein Handy und spielte ein YouTube-Video ab, auf dem sein Held zu sehen war, der frühere, für seine Freistöße berühmte Vélez-Torwart José Luis Chilavert (Spitzname »El Bulldog«). Chilavert hatte 1996 gegen River Plate einen Freistoß von der Mittellinie verwandelt und 1994 im Finale der Copa Libertadores nicht nur einen Elfmeter gehalten, sondern auch selbst einen versenkt.

Es war Zeit zum Aufbruch. Wir mussten nach Bajo Flores, um Mauro zu treffen, einen der mächtigsten Männer von La Doce. Doch gerade, als wir aufbrechen wollten, klingelte Mikaels Handy. Einer seiner Kontaktmänner, ein Vertrauter von Rafa. Juan, eines der ältesten Mitglieder von La Doce, hatte von dem Treffen erfahren und war misstrauisch geworden. »Er meint, wir sollten nicht hingehen. Es könnte eine Falle sein«, berichtete Mikael ein wenig geknickt. Gegen das Treffen selbst war nichts einzuwenden, doch bei dem Ort, an den Mauro uns bestellt hatte, hatten bei Juan die Alarmglocken geklingelt.

Mikael schrieb seinem Kontakt, dass er Magenprobleme habe.

Juans Büro war ein den Boca Juniors geweihter Tempel. Hinter seinem Schreibtisch befand sich eine chaotische Collage seines Lebens. Ein gerahmtes signiertes Trikot. Fotografien von alten Spielen, Stadien und lange verstorbenen Freunden aus der barra. »Als ich Rafa gestern von eurem Treffen mit Mauro in Baja Flores erzählt habe, hat er gemeint: ›Vorsicht, die werden sie überfallen‹«, berichtete der muskulöse mittelalte Mann mit dem vollen grauen Haar, der womöglich Mikael und mir das Leben gerettet hatte. Sein Handschlag fühlte sich an, als könne er mühelos meine Finger zerquetschen. In der Ecke lehnte eine geladene Schrotflinte, auf dem Regal daneben stand ein von einem Gummiband zusammengehaltenes Patronenbündel. Juan erklärte, dass das ein Geschenk von Aldo Rico sei, einem ehemaligen Offizier, der in den 1980er-Jahren zwei fehlgeschlagene Putschversuche unternommen hatte.

»Was genau soll ›überfallen‹ heißen?«, fragte ich.

»Sie können euch zusammenschlagen, sie können alles machen, was sie wollen, denn sie sind wie eine Mafia«, sagte er. »Vielleicht geht ihr ganz nett und höflich dorthin und nichts passiert. Vielleicht aber doch.«

Als einer der La-Doce-Granden kannte Juan Rafa und Mauro seit Jahren. Mit acht Jahren hatte er seinen Vater erstmals in die Bombonera begleitet. Schon beim Betreten des Stadions hatte ihn das Geschehen in der Nordkurve hinter dem Tor – der sogenannten popular – in den Bann gezogen. Das Revier der barra. Sein Vater hatte ihm verboten, dorthin zu gehen. Es sei zu gefährlich. Doch Juan hatte nicht auf ihn gehört. Er hatte sich daheim fortgeschlichen, war heimlich zu den Spielen gegangen und hatte sich der barra angeschlossen. Zu jener Zeit war ein Mann namens Enrique »Quique« Ocampo der Boss von La Doce. Seinen Spitznamen »El Carnicero« (»der Schlachter«) hatte er nicht etwa der Tatsache zu verdanken gehabt, dass er besonders gut Menschen hatte aufschlitzen können. Vielmehr war er tatsächlich Schlachter gewesen. Sein Laden hatte um die Ecke von La Bombonera gelegen. Der Verein hatte ihm Eintrittskarten überlassen, die er weiterverkauft hatte, um die trapos der Truppe zu finanzieren und sich selbst einen kleinen Nebenverdienst zu verschaffen. In dieser Zeit hatte Juan Rafael di Zeo – Rafa – kennengelernt, der schließlich selbst zum Boss von La Doce aufsteigen sollte.

Ocampo blieb mehr oder weniger die gesamten 1970er-Jahre hindurch an der Spitze von La Doce. Zu jener Zeit ging es vor allem darum, das eigene Team zu unterstützen und, natürlich, die gegnerischen Fahnen zu stehlen. Juan sagte: »Ohne La Doce wäre ich nicht zum Boca-Fan geworden. Die Gemeinschaft von Freunden war das Entscheidende. Es war so etwas wie Brauchtum, den Gegnern die Fahnen oder T-Shirts abzunehmen. Damit begann es. Und dann kam immer mehr Gewalt ins Spiel, Ketten, Steine. Die Sache artete aus.« Wieso, das vermochte Juan nicht zu sagen. Möglicherweise wegen der Drogen. Oder weil immer mehr Geld im Spiel war und die Einsätze stiegen. Vielleicht war die Gewalt auch ein Kollateralschaden des Lebens unter einer in den letzten Zügen liegenden Diktatur. Die Regentschaft des Schlachters endete nach der Partie der Boca Juniors gegen Rosario Central 1981. Rosario gewann mit 1:0. Juan konnte sich noch erinnern, dass Maradona einen Elfmeter verschoss. Vor dem Spiel hatte der Schlachter dem krawallbereiten Teil von La Doce erzählt, dass er keine Karten mehr für das Spiel habe. Sie fuhren dennoch nach Rosario und wurden geschlossen verhaftet. Zu jener Zeit tobte der Machtkampf bereits zwei Jahre, doch diese Kränkung durch den Schlachter brachte das Fass zum Überlaufen.

»Wir haben sein Haus in La Boca angezündet«, berichtete Juan. »Daraufhin sagte er: ›Mit so etwas will ich nichts zu tun haben.‹« Der Schlachter zog sich zurück, und eine neue Generation übernahm das Ruder.

Juan holte ein Foto von der Wand. Die Farbaufnahme zeigte eine sehr viel jüngere Version von ihm, den Arm um die Schultern von José Barrita gelegt. Wegen seiner grauen Haare war Barrita gemeinhin nur »El Abuelo« genannt worden, der Großvater. Er war dem Schlachter auf dem Posten des barracapo gefolgt und so etwas wie ein Bohémien gewesen. »In gewisser Hinsicht war José ein Hippie. Er machte sich nichts aus Geld«, sagte Juan. Dem Großvater ging aller Protz ab, und er schien nie Geld in der Tasche zu haben. Er fuhr einen alten verbeulten Ford Falcon Ranchero und lebte für die barra. Ihn reizten das Leben als Außenseiter und das Adrenalin bei Auseinandersetzungen. In seiner Zeit wurden die Weichen für die weitere Entwicklung von La Doce gestellt. Die barra forderte mehr Geld vom Verein. Die Spieler mussten einen Teil ihres Gehalts abführen, damit die barra weiterhin ihre Namen rief. Eine Stiftung wurde gegründet, durch die La Doce ihre Einnahmen laufen lassen konnte. Der Klub wiederum begann, La Doce als seine Augen und Ohren zu nutzen, insbesondere, um seine Stars vor heiklen Situationen zu schützen. Ein berühmtes Beispiel war laut Juan die Ankunft von Maradona und Claudio Caniggia 1995. Beide wollten nach längeren Dopingsperren ihre Karriere wiederbeleben. Maradonas Kokainkonsum hatte ihm bereits bei Napoli eine 15-monatige Sperre eingetragen, bevor er bei der WM 1994 erneut durch einen Dopingtest fiel, diesmal wegen Ephedrin.33 Caniggia genoss einen Ruf als Partylöwe und hatte bei der Roma eine 13-monatige Sperre wegen Kokainmissbrauchs abgesessen.34 Die beiden waren die ersten Neuverpflichtungen unter Macri, der mit seinem Image als zaghafter Playboy kämpfte. Mit den beiden wollte er die Boca-Anhänger für sich gewinnen und für rasche Erfolge sorgen. Doch laut Juan schlugen die beiden Spieler sich die Nächte um die Ohren und fielen anschließend bei vereinsinternen Drogentests durch. Also bat Boca die barra, die beiden zu zähmen. Juan sagte: »Wenn einer von uns Caniggia oder Maradona auf ihrer nächtlichen Tour traf, sollte er sie aufhalten und warnen. Man würde sie schlagen!«

Die 1980er- und 1990er-Jahre waren eine Ära der Gewalt. Juan wurde zweimal angeschossen und viermal niedergestochen. Er holte ein Röntgenbild von der Wand. Es war gemacht worden, nachdem die Kugel eines River-Plate-Fans seine Hüfte zertrümmert hatte und ihm eine künstliche hatte eingesetzt werden müssen. Rafa und sein Bruder Fernando drängten den Großvater hinter den Kulissen angesichts der erwirtschafteten Profite zu einer Professionalisierung. Die beiden wurden immer mächtiger, und das Ende der Amtszeit des Großvaters rückte näher. Als 1994 beim superclásico zwei Anhänger von River Plate erschossen wurden, kam es zu unzähligen Gerichtsverfahren. Dem Großvater konnte nicht nachgewiesen werden, dass er vor Ort gewesen war, doch wegen einer Reihe anderer Anklagepunkte wie etwa Erpressung wurde er schließlich zu neun Jahren Haft verurteilt. Als Rafa den Großvater im Gefängnis besuchte, explodierte der Streit.

»Der Großvater hielt Rafa vor, dass er nur an die Spitze wolle, also dorthin, wo er nun ist«, erklärte Juan. José Barrita starb 2001 an einer Lungenentzündung, 20 Tage nach seiner Entlassung. Rafas La Doce unterschied sich grundlegend von Barritas La Doce. Juan sagte: »Rafa ging es ums Geschäft. Er sah, dass sich mit den barras und der Politik und all dem Geld machen ließ. Macri, unser heutiger Präsident, war zu der Zeit noch Chef von Boca, also haben Rafa und ich ihn aufgesucht und ihn beraten, wie er seine Macht festigen könne und den Klub führen sollte.«

Er erwähnte das so beiläufig, als schildere er ein Treffen in einem Golfklub. Zugleich offenbarte er damit das Geflecht aus Macht, Geld und Einfluss, das zwischen den barras, den Vereinen und der politischen Elite Argentiniens bestand. Mauricio Macri wurde 1995 zum Präsidenten der Boca Juniors gewählt, doch wie Juan unmissverständlich klarmachte, hatte er sich dafür zunächst La Doces Wohlwollen sichern müssen. Ihm zufolge waren die Zahlungen der Politiker die größte Einnahmequelle von La Doce. Im Gegenzug erwarteten die Politiker eine Menge von ihrem, in Juans Worten, »angeheuerten Personal«: Es sollte an Kundgebungen teilnehmen, Protestveranstaltungen auflösen, für bestellte Krawalle sorgen und sie schützen. Wenn der Preis stimmte, ließ sich alles arrangieren. Juan schilderte, wie im Jahr 2003 mehrere Mitglieder der Gruppierung eine Solidaritätsdemonstration für die Arbeiterinnen der Brukman-Fabrik zerschlagen hatten. Fünfzig Frauen hatten die Textilfabrik besetzt und dafür international viel Beifall erhalten.35 Die Aktion hatte nicht mehr als 20.000 Dollar und 20 Pizzen gekostet – und einen Bus, der groß genug war, um alle hin und wieder zurück zu bringen. Juan hielt es sogar für möglich, dass der Zeitpunkt der Aktion den Ausgang der Präsidentschaftswahl 2003 beeinflusst haben könnte. Das nächste Mal würde La Doce sehr viel mehr verlangen.

Und es gab immer ein nächstes Mal. In Juans Augen war Macri nicht anders als jeder andere argentinische Politiker. Selbstverständlich stritt er ab, La Doce jemals unterstützt zu haben. Die Folge »Foreign Fields« der BBC-Reihe Hooligans von 2002 über die Krawallmacher des Fußballs in Großbritannien und anderswo widmete sich ausgiebig La Doce und den argentinischen barras im Vorfeld eines superclásico. Neben Rafa kam auch der noch jüngere, dennoch bereits ergrauende Macri – noch mit Menjou-Bärtchen – zu Wort und erklärte: »Über die Beziehung zwischen Vereinspräsidenten und Hooligans wurde immer schon viel spekuliert. Und es gab Klubpräsidenten, aber auch Politiker, die Hooligans für ihre Zwecke eingespannt haben. Doch es ist ein Teil unserer neuen Politik, jeglichen Kontakt zu diesen Menschen, deren Macht auf Gewalt gründet, abzubrechen.« Er bestritt, La Doce jemals direkt finanziell unterstützt zu haben oder ihnen wissentlich Eintrittskarten überlassen zu haben, die dann mit beträchtlichem Gewinn weiterverkauft wurden. »Vielleicht sollte ich noch einmal auf Englisch wiederholen, was ich schon unzählige Male gesagt habe: Wir geben den Hooligans keine Tickets.«

In Argentinien nahm ihm das niemand ab. Macri ist der Sohn eines der reichsten Geschäftsleute des Landes. Er lebt in einer geschlossenen Wohnanlage und war laut Juan jämmerlich ungeeignet, Kontakt zu Boca Juniors Fanbasis aus der Arbeiterschaft aufzubauen. Juan sagte: »Als ich ihn das erste Mal traf, lebte er in einer Blase, in einem privaten Wohnviertel, in einer anderen Welt. Wir brachten ihm das kleine Einmaleins bei, etwa, dass er seine Bodyguards zuhause lassen sollte. Wir sagten ihm, er solle sich in der popular sehen lassen, nicht in den platea [Logen]. Wir halfen ihm bei seinem Wahlkampf. Er gewann … und wurde zum Hardliner.«

Rafa stand im Zentrum von allem. »Rafa war schon immer verrückt danach, Geld zu verdienen. Er hatte ein gutes Auge für die zukünftigen Entwicklungen und sah, wo überall Geld zu machen war.« Wie viel Geld La Doce tatsächlich umsetzt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Laut einem Bericht der Zeitung La Nación von 2013 betrugen allein die Einnahmen der trapitos, die die Parkplätze rund um La Bombonera kontrollieren, 300.000 Pesos pro Spieltag.36 (2013 entsprachen 300.000 Pesos noch knapp 60.000 Dollar, doch inzwischen, nach dem Kollaps der argentinischen Währung, nur noch gut 5.000 Dollar.) Der Journalist Gustavo Grabia schätzte, dass die Organisation jeden Monat rund 400.000 Dollar umsetzte.

Juan geht allerdings von einer sehr viel höheren Summe aus. Die Einnahmen aus Tickets, Parkplätzen, Imbissständen und Merchandisingartikeln würden nur den geringsten Teil ausmachen. »Der [Rest] kommt von Politikern und Gewerkschaften, die ›Personal‹ für Demonstrationen oder den Kampf gegen die Polizei anheuern. Und nicht zuletzt von den Narcos.« Ihm zufolge streicht La Doce monatlich im Durchschnitt mindestens drei Millionen Dollar ein, bei gut laufenden Geschäften aber auch oft mehr. »Und das ist noch nichts. Normalerweise sind es immer mehr als drei Millionen im Monat. Nur bei dieser barra. Nur bei Boca. Manchmal sind es sechs, manchmal zehn. Sie können verlangen, was sie wollen. Und kriegen es.«

Um die Jahrtausendwende florierte La Doce und hatte laut Rafa 2.000 Mitglieder. Er zählte die besten argentinischen Spieler zu seinen Freunden, auch Maradona, mit dem er immer wieder fotografiert wurde. Alles geschah in aller Öffentlichkeit. La Doce veranstaltete »Adrenalintouren« für ausländische Touristen – in Gruppen von 40 Teilnehmern –, die es sich einiges kosten ließen, auf der popular von La Bombonera inmitten der Gruppe ein Spiel zu verfolgen.37 La Doces Geschäftsmodell war derart erfolgreich, dass die Gruppe sogar eine Art »Ultra-Universität« für Fans aus aller Welt gründete. Für 5.000 Dollar lernten andere Gruppierungen, ein Business wie La Doces aufzuziehen: vom Ticket-Schwarzhandel über das Verfassen von Tribünengesängen bis zum Herstellen eigener Banner. Am Ende erhielt jeder Teilnehmer eine CD mit Gesängen aus La Bombonera, die anschließend vervielfältigt wurden und in ganz Europa kursierten. In einer Dokumentation des argentinischen Fernsehsenders Canal 9 erklärte Rafa 2006: »La Doce ist wie Harvard, eine Universität, auf der man lernt, wie man eine barra wird.«38 Doch schließlich kamen die Gesetzeshüter auch Rafa bei. 2007 wanderte er wegen der mutmaßlichen Beteiligung an Krawallen ins Gefängnis. Mauro übernahm Teile des Geschäfts, und bei einem Besuch bei Rafa im Gefängnis brach zwischen den beiden offener Streit aus.

Als Rafa 2009 entlassen wurde, hatte der Konflikt die Anhängerschaft gespalten. Bei Spielen verteilten sich die beiden Lager häufig auf gegenüberliegende Seiten der Tribüne und überzogen sich gegenseitig mit Schmährufen. Ein Stellvertreterkrieg brach aus, in dem die Unterstützer der beiden für ihren jeweiligen Anführer kämpften und starben. Juan zufolge wurde sogar Mauros Mutter zum Ziel eines Angriffs. Neun Monate darauf wurde Mauros Truppe auf dem Weg nach Rosario in einen Hinterhalt gelockt und ihm selbst in den Magen geschossen. Er überlebte, und so war es letztlich einem Pekinesen vorbehalten, Rafa wieder zum unumstrittenen Boss von La Doce zu machen. Das Hündchen gehörte Ernesto Cirino, und der ließ es vor die Tür seines Nachbarn pinkeln. Leider war dieser der Schwager von Mauros Stellvertreter Maximiliano Mazzaro, den er sogleich anrief. Cirino wurde totgeprügelt, und Mazzaro und Mauro wurden festgenommen.39 Obwohl sie später freigesprochen wurden, kehrte Rafa an die Spitze zurück und die beiden Männer begruben das Kriegsbeil.

Der brüchige Waffenstillstand hatte in der Folge trotz des harten staatlichen Vorgehens gegen die barras gehalten. Im Jahr 2015 war Mauricio Macri zum argentinischen Präsidenten gewählt worden. Er hatte es sich auf die Fahnen geschrieben, die Macht der barras durch eine nach dem Vorbild des FBI neugeschaffene Eliteeinheit gegen Fußballgewalt zu durchbrechen. Rafa war mehr oder weniger aus La Bombonera verbannt worden. Juan holte aus seinem Aktenschrank einen dicken Ordner mit Zeitungsausschnitten und Titelblättern von Zeitschriften der vergangenen Jahrzehnte: Berichte über La Doce, den Großvater und »den Krieg« (zwischen Mauro und Rafa). Das Interessanteste an seiner Sammlung war die Berichterstattung über Rafa. Viele Hochglanzmagazine hievten ihn aufs Cover. Die erste Ausgabe des argentinischen Playboys brachte ein Interview mit ihm: »Unter Männern mit dem Kopf von Bocas Barra«. Auf einem anderen Cover trug Rafa Boxhandschuhe und machte Schattenboxen mit der Kamera. Die Titelzeile lautete: »Botschafter der Angst.« Er wurde wie ein Rockstar behandelt. Juan sagte dazu: »Rafa ist einerseits ausgesprochen beliebt, eine Berühmtheit. Andererseits sehen manche Leute in ihm so etwas wie einen Terroristen. Ihm öffnen sich also viele Türen, aber genauso viele schließen sich auch.« Ich hatte gehofft, ihn nach Bocas anstehendem Spiel zu treffen, doch nach der Episode mit Mauro erschien das kaum wahrscheinlich.

Der Einfluss der barras ist augenscheinlich ein unlösbares Problem. Sie verdienen zu viel Geld und kennen zu viele schmutzige Geheimnisse der Machtelite, wenn nicht sogar der obersten politischen Führungsschicht des Landes. Darüber hinaus werden sie als Volkshelden verehrt, und La Doce ist als ständige und verführerische Macht in La Bombonera allgegenwärtig. Spieler kommen und gehen. Vereinspräsidenten machen Versprechen, brechen sie und verschwinden wieder. Und La Doce? Die Gruppe und ihre Gesänge bleiben. Anscheinend könnten höchstens die barras selbst die barras zu Fall bringen. Juan sagte: »Wir fragen uns selbst die ganze Zeit, was in Zukunft sein wird. Denn auch wenn im Moment alles okay ist, kann schon morgen oder übermorgen alles in Chaos und Schießereien enden.« Er war überzeugt, dass »der Krieg« erneut ausbrechen würde. »Die Lage droht hochzugehen wie eine Granate.«

Das Gruppenspiel gegen Athletico Paranaense aus Brasilien in der Copa Libertadores stand kurz vor dem Anpfiff, und La Bombonera schimmerte blau und goldfarben im Flutlicht. Das Stadion war ausverkauft, wie bei jedem Spiel. 50.000 Zuschauer wurden erwartet. Die Polizei hatte sämtliche Zufahrtswege zum Stadion engmaschig kontrolliert, Straßen abgeriegelt und den Verkehr umgeleitet. Doch im Moment sah es so aus, als würde ich das Spiel verpassen. Ein Ticket für ein Boca-Spiel zu ergattern war kompliziert. La Doce kontrollierte das Geschäft, insbesondere dessen lukrativsten Teil: die ausländischen Touristen. Für ein Ticket oder die »Leihgebühr« für eine offizielle Dauerkarte wurden schon mal mehr als 400 Dollar fällig. Eigentlich hatte Mikael über seine La-Doce-Kontakte Karten für uns beide besorgen sollen, doch nach der Geschichte mit Mauro hatten wir bislang nur eine. Und so sehr Mikael mir auch behilflich sein wollte: Genau für diesen Moment war er hierhergekommen. Unter keinen Umständen wollte er ihn verpassen, und ich würde ihm gewiss nicht im Weg stehen. Er stapfte zur Eingangsschleuse und versprach, mich nach dem Spiel zu treffen.

Einen Pfeil hatte ich noch im Köcher: meinen Presseausweis. Ich zeigte ihn am Ticketschalter vor. Der Mann lachte, ließ den Rollladen herunter, verriegelte ihn und schlenderte kichernd davon. Ich machte mich zu einem anderen Tor auf und flehte die Sicherheitsleute inbrünstig an. Schließlich öffnete ein zermürbter Wachmann das Tor, um mich loszuwerden.

Das Estadio Alberto J. Armando verdankt seinen Spitznamen seiner ungewöhnlichen Form. Der in Slowenien geborene Architekt Viktor Sulčič ließ sich bei seinem Entwurf Mitte der 1930er-Jahre von einer Bombonera, einer Pralinenschachtel, inspirieren. Daraus resultierte eine kompakte, steil ansteigende Form, die auf jedem Platz das Gefühl vermittelt, in den oberen Rängen eines Opernhauses zu sitzen. Angesichts der Top-Lage mitten im dicht besiedelten Stadtteil La Boca stand es nicht zur Debatte, dass das Stadion jemals seinen angestammten Platz verlassen würde, im Gegensatz zu River Plate, das 1926 mit seinem Stadion in das vornehme barrio Núñez gezogen war. Stattdessen machte man das Beste aus den Gegebenheiten, errichtete das Stadion, baute es um und passte es den Erfordernissen an. Angesichts des beschränkten Platzes baute man eben in die Höhe. Es entstand eine beeindruckende Hufeisenform mit jeweils drei Rängen, die an drei Seiten förmlich in das Spielfeld hinabzustechen scheinen; an der vierten Seite schließt ein schmaler Block mit Logen das Stadion ab. Von oben gleicht es allerdings weniger einer Pralinenschachtel als einer in der Mitte durchgeschnittenen Torte.

La Bombonera nach dem Anpfiff zu betreten war eine schwindelerregende Erfahrung. Die ununterbrochenen Gesänge und treibenden argentinischen Trommeln zusammen mit den zum Rasen steil abfallenden Tribünen führten dazu, dass mir schwummrig zumute wurde. Man begriff sofort, weshalb die argentinischen Fangesänge – schnell, kompliziert und tatsächlich eher Gesänge, kein Gebrüll – und die telones einen weltweit unvergleichbaren Einfluss gewinnen konnten und in Stadien von Madrid bis Jakarta zunächst nur vom Hörensagen, später auch mithilfe des Internets kopiert und weiterentwickelt worden waren. Doch dann ereignete sich etwas Außergewöhnliches. Athletico ging in Führung, und die Gesänge schwollen nur noch weiter an. Wie Mikael mir hinterher berichtete, war das immer so. Unmittelbar nach dem Gegentreffer sangen Bocas hinchas derart lautstark, als hätte gerade ihr Team getroffen. Sie stimmten das berühmte Lied »Si, Señor« an, ihre Version des argentinischen Rocksongs »Y Dale Alegría a mi Corazon« von Fito Páez aus dem Jahr 1990, auch wenn River Plate und San Lorenzo jeweils für sich beanspruchen, den Song als Erste aufgegriffen zu haben. Eine Frage, die für immer offenbleiben wird.

Und schenk meinem Herzen Freude,

Ich bitte dich nur um eines: siege heute!

Die Copa Libertadores ist meine

Leidenschaft Gib dein Herz und deine Seele,

Du wirst sehen,

Wir sind nicht wie die Feiglinge von River Plate.

Die Spieler hatten mit dem aufgeweichten, ramponierten Rasen zu kämpfen. Nur Carlo Tevez nicht. Auch wenn der Nationalmannschaftsstürmer bei Anpfiff auf der Ersatzbank gesessen hatte, war er Bocas unbestrittener Star und der Held der Bombonera. Tevez war in bitterarmen Verhältnissen aufgewachsen und hatte sich aus dem barrio bis in Bocas erste Mannschaft hochgekämpft. Nach dem Gewinn der Copa Libertadores und der argentinischen Liga hatte sein Weg ihn zunächst nach Brasilien zu Corinthians und dann über den Atlantik nach Europa geführt, wo er sich bei West Ham, Manchester United, Manchester City und Juventus einen Namen gemacht hatte. Unterbrochen von einem kurzen und lukrativen, wenn auch peinlichen, Abstecher nach China, stand er nun zum dritten Mal bei Boca unter Vertrag. Als Kind des barrio galt er zugleich als Spieler der barra. Wenige Wochen nach seiner Rückkehr zum Verein war ein Foto geschossen worden, das Tevez beim Abendessen mit Rafa und Mauro zeigte. Niemand konnte bei Boca reüssieren, ohne zunächst La Doce die Reverenz zu erweisen.

Nach Tevez’ Einwechslung kippte das Spiel. Er schien sich schneller durch den Acker zu wühlen, als seine Mitspieler auf dem Geläuf rennen konnten. Kurz nach dem Rückstand glich Boca aus, und tief in der Nachspielzeit gelang Tevez in der 96. Minute der Siegtreffer. Ein infernalischer Lärm brach aus, als würden gleichzeitig tausend Instrumente tausend Treppen hinuntergeworfen. Der ekstatische Jubelausbruch mündete erneut in Gesänge, und endlich ertönte der Schlusspfiff. Die Zuschauer sangen immer weiter, indessen sie sich wie eine Welle in alle Himmelsrichtungen in die Straßen von La Boca ergossen und sie verstopften. In dem Gedränge konnte ich kaum mein vibrierendes Handy hervorkramen. Mikael erwartete mich draußen. Wir mussten uns beeilen. Rafa di Zeo hatte sich zu einem Treffen bereiterklärt. Wir mussten sofort los.

Wir stürmten durch das Gewirr dunkler, feuchter Gassen, die La Bombonera umgaben, vorbei an Reihen von Polizisten und jubelnden Fan-Pulks. Vorbei an Wandgemälden von Bocas unbestrittenem Helden Diego Maradona. Vorbei an einem Bild des Union Jacks mit Totenkopf und gekreuzten Knochen in der Mitte und der Aufschrift: »Wir werden mit der Hand Lateinamerikas auf die Malvinas zurückkehren.« Mehrmals bogen wir falsch ab, bis wir schließlich zum angegebenen Treffpunkt gelangten. Eine Tankstelle. Kurz dachte ich, wir hätten uns in der Adresse geirrt, doch dann sah ich einen bewaffneten Polizisten, der vor dem Laden Wache schob. Er verschwand, kaum dass wir dort ankamen. Mehrere Bodyguard-Typen, einer mit La-Doce-Basecap auf dem Kopf, nahmen uns in Empfang und geleiteten uns in eine finstere, unbeleuchtete Seitengasse.

Von hier aus also wurden die La-Doce-Geschäfte geführt, einem Parkplatz hinter einer Tankstelle. Etwa 30 bis 40 Männer hatten sich versammelt, alle im Alter zwischen 30 und 50 Jahren: Rafa di Zeos Leibgarde, die Getreuesten der Getreuen. Beäugt von den Männern, warteten wir im Zentrum des Parkplatzes. Schließlich trat Juan vor und legte uns die Regeln dar. Fotos waren nicht gestattet. Keine Filmaufnahmen. Kein Tonmitschnitt. Unter keinen Umständen durfte ich Rafa gegenüber erwähnen, dass ich Brite war. Der Falklandkrieg war unvergessen. Eines der älteren Mitglieder von La Doce, Mono (»Affe«), hatte noch dort gekämpft. Ich sollte mich unbedingt als Schwede wie Mikael ausgeben und sagen, dass ich über die Verbindung von Verein und schwedischer Flagge schreiben wolle. Angeblich soll das Blau und Gold von Boca auf ein schwedisches Schiff zurückzuführen sein, das gerade im Hafen lag, als man die Vereinsfarben auswählte. Auf gar keinen Fall sollte ich Fragen zum Krieg zwischen Rafa und Mauro stellen. Auch Mikael hatte mich bereits davor gewarnt, das Zerwürfnis der beiden anzusprechen. Falls doch, würde er gar nicht erst auf eine Antwort warten, sondern sofort abhauen und mich meinem Schicksal überlassen. Er war überzeugt, dass das nur ein böses Ende würde nehmen können.

Wir harrten eine halbe Stunde auf dem Parkplatz aus, bis Rafa sich schließlich aus dem Heck eines Wagens schälte, wo er noch etwas Geschäftliches erledigt hatte. Er trat zu uns und reichte mir die Hand. Rafa sah nicht wie einer der gefährlichsten Männer Buenos Aires’ aus. Er war Ende Fünfzig, großgewachsen, graue Mittelscheitelfrisur. Er trug einen schwarzen Trainingsanzug der Boca Juniors und glich eher dem Sänger einer Nu-Metal-Band aus der Mitte der 1990er-Jahre, die für ein letztes Comeback-Konzert zurückgekommen war. Seine engsten Vertrauten schlossen sich zu einem Ring um uns, doch Rafa war vom ersten Augenblick an äußerst charmant und willigte ein, dass ich unser Gespräch mitschnitt.

»Was ist La Doce?«, fragte ich ihn.

»Das lässt sich kaum in wenigen Worten sagen«, erklärte er und gab uns in der Folge einen porentief reingewaschenen Abriss der letzten vier Jahrzehnte. »Ich bin seit meinem 16. Lebensjahr bei La Doce dabei, seit knapp 40 Jahren also. Eine lange Zeit. Damals gab es noch einen anderen Boss [den Schlachter]. Nachdem ich Mitglied geworden war, blieb der Boss noch zwei Jahre, dann kam ein anderer und blieb eine ganze Weile. Er [der Großvater] war mein Lehrmeister. Als es dann Probleme in der Gruppe gab, habe ich den Posten übernommen. Seit Ende 1994 bin ich für die barra verantwortlich.«

»Was ist Ihre Aufgabe bei La Doce?«

»Als Anführer hat man den größten Einfluss, in jederlei Hinsicht«, sagte er. »Durch den technischen Fortschritt ist heute alles ein bisschen anders. Früher musste man als Boss mit den anderen hinchadas kämpfen. Es gab viel mehr Gewalt. Heute ist es ruhiger. Der Staat geht viel härter gegen uns vor. Als ich anfing, musste man sich prügeln, um sich seinen Platz zu verdienen. Immer dabei sein, in vorderster Front … Das ist heute nicht mehr so.«

Das harte Vorgehen des Staates hatte dazu geführt, dass Rafa nicht bei dem Spiel hatte sein können. Gegen ihn war zunächst ein zweijähriges Stadionverbot verhängt worden, das eigentlich wenige Wochen vor dem heutigen Spiel ausgelaufen wäre. Doch kurz bevor es so weit war, wurde ein neues, nunmehr vierjähriges Stadionverbot gegen Rafa, Mauro und 126 weitere La-Doce-Mitglieder verhängt.40 Also hatte er die Partie im Fernsehen verfolgen müssen. Die barra, sagte er, »ist gegen die Autoritäten, vor allem gegen die Polizei. Sie ist gegen jegliche Autoritäten. Daher darf niemand, der Verbindungen irgendwelcher Art zu den Autoritäten unterhält, bei uns Mitglied sein. Wenn doch, schmeißen wir ihn raus und schlagen ihn zusammen.« Ich fragte ihn nach der Bedeutung der Gewalt für die barra und wieso La Doce von den Autoritäten gefürchtet wurde. Ich spürte Mikael in meinem Rücken zusammenzucken, doch Rafa hatte kein Problem, darüber zu reden.

»Sie haben Angst vor unserer Macht und unserer Gewalttätigkeit«, sagte er. »Wenn sie [die Polizisten] einmal bei einem Kampf gewonnen haben, dann nur, weil sie auf uns geschossen haben. Ohne Munition hätten sie keine Chance. Wenn sie hier wie in Europa nur Schlagstöcke [keine Pistolen] einsetzen würden, wären sie alle längst tot. Einen Cop zu töten ist hier im Land etwas ›wert‹. Damit will ich sagen, dass man im Knast etwas ›zählt‹, wenn man wegen Polizistenmords einsitzt.«

Selbst vor dem entscheidenden Punkt scheute er nicht zurück. Dass Gewalt Spaß bringt. »Ich weiß noch eine Partie gegen Lanus und wie wir auf der Tribüne mit der Polizei gekämpft haben«, erinnerte er sich an sein Lieblingsspiel. »Wir haben sie nach draußen geprügelt, die ganze Treppe hinunter bis auf die Straße. Und wir haben zwei Polizeipistolen erbeutet. Ich sehe das alles noch genau vor mir. Oder wie wir in einem Stadion in Mar del Plata in den River-Block eingedrungen sind und ihre Fahne geklaut haben. Ihre wichtigste und kostbarste Fahne, das Symbol ihrer Identität.«

»Lieben Sie den Fußball nach wie vor?«, wollte ich wissen.

»Ja, natürlich«, gab er prompt zurück. »Ich würde allerdings sagen, dass ich Boca noch mehr liebe als den Fußball an sich. Ich bin verrückt nach Boca. Ich weiß nicht, was ohne Boca aus mir geworden wäre.« Er lachte. »Ich wäre zum Tennis gegangen!« Trotz Stadionverbots war er nicht weit weg vom Geschehen. Die Spieler waren weiterhin seine Kumpel, insbesondere Carlos Tevez. »Wir verstehen uns wirklich hervorragend und sind befreundet. Ich habe ihn schon gekannt, als er noch kein Profi war.«

Bei dem nach Madrid verlegten super-superclásico zwischen Boca und River war Rafa in Buenos Aires geblieben. Es war ohnehin zweifelhaft gewesen, ob man ihn ins Stadion gelassen hätte. Doch bei der Abfahrt des Mannschaftsbusses zum Flughafen hatten Zehntausende hinchas die Spieler mit Raketen und Trommeln verabschiedet. Der Trainer hatte sich mühsam durch die Menge kämpfen müssen. Rafa und Mauro hatten ihm den Weg gebahnt.

Rafa erwartete nicht, dass sein Stadionverbot noch lange Bestand haben würde. Er war inzwischen eine bekannte öffentliche Persönlichkeit, und das komplizierte alles. »Die Sache hat Vor- und Nachteile«, sagte er. »Nehmen wir die Politiker, Richter, Polizeichefs. Einerseits verdammen sie mich [öffentlich]. Andererseits wollen sie sich mit dir unterhalten, dich kennenlernen, etwas mit dir ausmachen.«

Die Politiker hatten ihn immer gebraucht. Macri hatte ihn gebraucht. Nach Ansicht von La Doce wäre Macri ohne ihre Hilfe nicht Präsident geworden. Später im Jahr standen erneut Präsidentschaftswahlen an, und es zeichnete sich bereits ab, dass Macri verlieren könnte. Rafa war überzeugt, dass es einen neuen Präsidenten und einen neuen Sicherheitsminister geben würde. »Mein Fall ist kein juristisches Problem, er ist ein politisches Problem«, erklärte er. »Am Ende des Jahres, nach dem politischen Umschwung, werde ich wieder im Stadion sein.« Politiker kamen und gingen. Doch Rafa di Zeo und La Doce blieben.

Meine Zeit war um. Das Gespräch hatte eine halbe Stunde gedauert, doch es hatte sich wie eine halbe Minute angefühlt. Auch von Mikael würde ich mich verabschieden. Er wollte noch in Argentinien bleiben und sich ein paar Spiele anschauen, während ich nach Brasilien weiterreisen wollte. »Ich dachte echt, du würdest auf den Krieg zu sprechen kommen«, verriet er mir nach dem Treffen erleichtert. Wir würden uns in Schweden wiedersehen, sagte er, dort würde ich mit eigenen Augen sehen können, dass in Schweden eine der besten Ultra-Szenen der Welt entstanden sei. Und natürlich würde Mikael mein Fremdenführer sein. Als das Interview hinter der Tankstelle offiziell vorbei war, rief Rafa di Zeo einen seiner Männer zu sich und befahl ihm, uns zu unserer Wohnung zurückzufahren. »Um diese Zeit ist es hier in der Gegend gefährlich«, erklärte er beinahe schon väterlich. Unser designierter Chauffeur witzelte, dass er hinten im Wagen genügend Waffen habe, um Las Malvinas im Alleingang zurückzuerobern.

Vor unserem Aufbruch kam es zu einer angespannten Pause, als würde Rafa noch etwas erwarten. Einen Moment lang fürchtete ich, ihn irgendwie beleidigt zu haben. Ich schaute zu Mikael und ließ dann den Blick über den uns umgebenden Ring muskelbepackter hinchas schweifen. Mikael schien unbesorgt. »Wenn ihr noch Fotos machen wollt, nur zu!«, sagte Rafa schließlich vergnügt. Ich kramte nach meinem Handy. Das Angebot kam völlig überraschend. »Als Erinnerung an diesen Moment«, sagte er, als wir unbeholfen nebeneinander posierten und ich ein Selfie knipste. Jeder ließ sich zusammen mit Rafa di Zeo fotografieren: Spieler, Trainer, Weltmeister, korrupte Politiker, Rockstars und Soap-Sternchen. Wieso also nicht auch ich?

Unter Ultras

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