Читать книгу Oooh, Dicker, mein Dicker ... - Jamo Mantam - Страница 8
DAS ERSTE MAL
ОглавлениеIch muss ja jetzt immer radeln, ja ja. Ob mir das gefällt oder nicht, ich habe gefälligst zu radeln. Denn ER radelt ja schließlich auch, nicht wahr? Und da habe ich mich anzupassen. Man muss ja Gemeinsamkeiten aufbauen und miteinander pflegen. Ich kann Zeter und Mordio schreien, wie ich will, ich muss aufs Rad! Jeden Sonntag. Akkurat von 10.30 Uhr bis 14.30 Uhr. Egal, wohin. Einfach raus, sagt er. An die frische Luft. Sagt er. Weil mir das gut täte, meint er. Und – das stechendste Argument: gut für die Figur.
Spätestens dann weiß ich nichts mehr gegen einzuwenden. Denn es verhält sich so: mit der Vollendung meines vierzigsten Lebensjahres begann ich damit, mich körperlich auszubreiten. In alle Richtungen. Das ist ein Prozess, der bis zum heutigen Tage anhält. Der Volksmund nennt diesen Prozess liebevoll „Wechseljahre“. Anfangs wollte ich diese körperliche Ausweitung noch nicht wahr haben; nun ja, ich war vielleicht etwas schwerer geworden mit dem Laufe der Zeit, aber raffiniert geschnittene Kleidung und meine dennoch recht zierlichen Gliedmaßen täuschten über einige Jahre noch darüber hinweg, was indes zwischen Schultern und Schritt langsam und schleichend Einzug gehalten hatte. Erst als ich begann, mir Hosen mit Gummizug zu kaufen, musste ich mir eingestehen, dass hier irgendetwas ganz furchtbar aus dem Leim zu gehen begonnen hatte. Als ich dann im zarten Alter von 44 Jahren einen kritischen Blick in den Spiegel riskierte, gab es nichts mehr zu leugnen. Addierte ich nun noch die Tatsache hinzu, dass ich mich seit einigen Monaten mit mir unerklärlichen täglichen und nächtlichen Hitzeattacken herumschlug und offenkundig mein weiblicher Zyklus ins Schleudern gekommen war, lag auf der Hand, dass ich, bis dahin unbemerkt oder vielmehr erfolgreich verdrängt, meiner unvermeidlichen Menopause entgegentrudelte. Der Blick in diesen vermaledeiten Spiegel bestätigte den Verdacht. Bis vor nicht allzu langer Zeit noch recht schlank und ansehnlich bis auf gewisse Problemzonen, die mich seit der Pubertät piesackten, begann sich nun alles in alle Richtungen zu wölben. Mein einstiges Bäuchlein, altes Relikt aus prähistorischen Babyspeckzeiten, das sich noch sehr gut unter knappen Jeans hatte in seine Schranken verweisen lassen, war zu einem gar stattlichen Bauch geworden, welcher sich nun hartnäckig und erfolgreich gegen jeden noch so stabilen Reißverschluss zur Wehr zu setzen wusste. Meine einstige Taille wurde nun umschmiegt und geschützt von einem kraftvollen, wärmenden Speckgürtel, meine Hüften sind bestens gepolstert, und mein damals noch knackiger Busen wird schwer und immer schwerer und zeigt in verhaltener Traurigkeit nach unten.
Können Sie sich vorstellen, wie das aussieht? Man nehme ein Fass, schraube unten dran zwei ganz lange und ganz dünne Streichholzbeine und stecke oben links und rechts je einen viel zu langen Affenarm dran, dann nehme man eine Kugel, setze die auf einen etwas zu kurz geratenen Hals – das bin dann ich. So sehe ich in nackig aus. Richtig grotesk. Das rührt aber auch von den schlechten Genen, die ich mütterlicherseits verpasst bekommen habe. So jedenfalls lautet meine Standart-Ausrede. Nun könnte ich, wie jede entschlossene Power-Frau, die auf sich hält, dagegen anarbeiten. Ich könnte mich täglich nach Freierabend drei Stunden ins Sportstudio schleppen und mich quälen bis aufs Blut. Aber weder bin ich eine entschlossene Power-Frau, noch mag ich mich quälen. Außerdem würde ja mein tägliches Feierabend-Nickerchen, das zwischen 17 und 18 Uhr absolviert wird, auf der Strecke bleiben. Und das geht ja nun wirklich nicht. Ich müsste mich im Sportstudio aller Welt präsentieren, wie ich unter meiner kaschierenden Bekleidung in Wahrheit aussehe, und das will ich nicht. Außerdem sehe ich mich mit chronischer Faulheit geschlagen. Das ist halt bei mir so.
Also wurstle ich mich durch meine Wechseljahre weiter so durch, mein Körper wechselt seine Form ohne Unterlass, mein Bauch wechselt seinen Standort immer weiter nach außen, meine Hüften immer weiter nach hinten …
Was macht man da bloß?
Diese Frage sollte geklärt werden, als mein Dicker, damals noch der Herr Glaubert, in mein Leben trat.
„Aba da kamma doch wat mach’n!“, erklärte er mir tatendurstig, als wir uns an einem der legendären Dienstage wieder am Wurststand trafen und ich ihm seine Frage, ob ich denn öfters mal ins Freibad ginge, mit der Begründung abschlug, dies ließe meine Figur nicht mehr zu. Kauend ließ er seinen Blick an mir herauf und wieder herunter wandern und stellte fest, das Gesamtbild sehe doch so schlecht gar nicht aus. Im Vertrauen erklärte ich, das Gesamtbild würde dadurch geprägt, dass ich schmal geschnittene Hosen und weit ausgestellte Oberteile trüge und das leidliche Dazwischen also nicht weiter auffiele. Und dieses Dazwischen – ich winkte nur ab. Und dann kam dieser legendäre Satz, der mein weiteres Leben prägen sollte.
„Aba da kamma doch wat mach’n!“
An dieser Stelle muss ich bemerken, dass wir damals noch kein Paar waren. Ich hatte eigentlich auch nie ins Auge gefasst, irgendeine Bindung mit diesem unentwegt quasselnden schrägen Vogel einzugehen, im Gegenteil! Zu dieser Zeit stellte ich ernsthafte Überlegungen an, meinen wöchentlichen Besuch beim Wurststand ganz einzustellen und meine Mittagspausen am Dienstag irgendwo dort zu verbringen, wo man mich nicht finden würde. Ich war noch nicht wieder reif für eine neue Beziehung, ich hatte keine Lust auf eine Beziehung, ich wollte einfach meine Ruhe haben. Und da für mich klar war, dass das Thema Ruhe an der Seite eines manischen Quatschkopfes wie dem da vor mir ein für allemal passé sein würde, gab es da überhaupt keinen Gedanken weiter dran zu verschwenden. Meine nächste große Liebe, so hatte ich mir zum Ziel gesetzt und sie mir noch einmal vergönnt sein sollte, sollte nicht schlechter aussehen als der junge Robert Redford und Geld wie Heu haben. So stellte ich mir mein weiteres Leben vor. Aber doch nicht an der Seite einer frühberenteten, dauerlabernden Vogelscheuche auf einem Fahrrad …
Doch meine Zukunftsvorstellungen würden sich nicht mehr in die Tat umsetzen lassen. Ich wusste das damals nur noch nicht.
Mein semmelkauendes Gegenüber erging sich nun über die Vorzüge des Fahrradfahrens. Würde ich jeden Tag nur eine Stunde Rad fahren, bekäme ich meine Figur ganz schnell wieder in den Griff. Ich konterte, ich müsse jeden Tag acht Stunden meinen Schreibtisch festhalten. Danach hätte ich nicht mehr den Elan, in dieser Hinsicht noch groß was zu machen. Er zeigte sich verständig und rechnete mir dann vor, ich müsse dieses Ansinnen dann eben aufs Wochenende verlegen. Samstag und Sonntag jeweils zwei Stunden aufs Rad, und schon nach ein paar Wochen könne ich eine positive Veränderung feststellen. Und die zwei Stunden müssten doch drin liegen, oder?! ER radle schließlich jeden Tag, und ich solle ihn doch mal ansehen!
Jaaa, – und da hatte er wohl Recht! Ich kannte ihn ja nun schon einige Wochen, und aus unseren ersten Wurststand-Meetings im Sommer, als er in kurzen Hosen und leichtem T-Shirt unterwegs gewesen war, wusste ich, dass er über einen strammen, durchtrainierten Leib verfügte. Das stimmte schon. Diesbezüglich war er recht ansehnlich. Doch schon allein die Aussicht auf körperliche Agitation trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Ich winkte erneut ab und konterte, ich sei vor 25 Jahren letztmals auf einem Rad gesessen, was die altbewährte Antwort zur Folge hatte, Radfahren verlerne man nicht. Um mein letztes Pulver zu verschießen, log ich, ich hätte überhaupt kein Rad. Woraufhin mir der Herr Glaubert strahlend eröffnete, dies mache überhaupt nichts aus, denn er habe zwei Räder. Erst kürzlich habe er sich ein nagelneues erworben, und das könne ich ja dann haben! Diese Information verwirrte mich zunächst. Sollte das heißen, er wolle mir sein nagelneues Rad schenken, damit ich am Wochenende etwas für meine Figur tun könne? Und im nächsten Moment stellte ich tief erschrocken fest, dass er bereits lautstark plante! Ich könne ihn doch am Wochenende mal besuchen! Einfach so! Eine kleine Fahrradtour mit ihm unternehmen! Ich würde feststellen, wie rasch ich in die Radelei wieder hineinfände! Und wie gut mir das täte! Eine kleine Probetour nur, ganz leichte Strecke, und ich solle doch am Sonntag in Brummelbach im Ebereschenweg 13 vorstellig werden, ob ich mir das merken könne?! Und dann würden wir gemeinsam eine ganz leichte, ganz schöne Tour machen, und das würde ganz toll sein und so weiter und so fort, und ehe ich noch irgendwelche Einwände dagegen vorschieben konnte, erbat er mir etwas zum Schreiben, was ich als Bankangestellte stets in meiner Handtasche mit mir führe. Er diktierte mir seine Handy-Nummer, bläute mir nochmals ein, am Sonntag um 12.30 Brummelbach, Ebereschenweg 13, und wenn mir was dazwischen käme, solle ich mich kurz melden, dann würden wir es vertagen, sei ja gar kein Thema, aber das Wetter solle ja noch halten, so einen schönen Novemberanfang hätten wir ja schon lange nicht mehr gehabt, und damit sprang er auf sein Rad, stieg in die Pedale, schickte mir ein begeistertes Tschüss nach und verschwand um die nächste Ecke.
Komplett überfahren blieb ich mit meiner Semmel in der Hand an meinem Wurststand zurück und starrte auf den Zettel mit der Telefonnummer. Was war DAS gewesen? Brummelbach? Wo, in drei Teufels Namen, lag Brummelbach? Und was dazwischenkommen? Selbstverständlich würde mir was dazwischenkommen! Keine zehn Gäule würden mich dazu bringen, mit diesem eigenartigen Knallkopf irgendwelche Touren zu unternehmen! Nein! Niemals! Auf gar keinen Fall …
Am Abend schaute ich zu Hause in meinem Autoatlas nach, wo dieses Brummelbach lag. Wer, um Himmels Willen, wohnte in Brummelbach?!
Am Sonntag fuhr ich nach Brummelbach. Ich hätte es bleiben lassen können, ich weiß. Den Zettel mit der Telefonnummer verlieren, den Wurststand abhaken und meinem weiteren Dasein die gewohnten ruhigen Bahnen gönnen. Ein Leben in Gemütlichkeit, Ruhe und Sicherheit. Doch irgendetwas trieb mich. Ich kann es bis heute nicht erklären, aber ich vermute mal, mich leitete die blanke Neugier, mal zu sehen, wohin es dieses radelnde Etwas aus dem schönen Sachsen verschlagen hatte. Darüber hinaus redete ich mir ein, ich würde es bei dieser einen Radtour bewenden und unsere Wege sich dann wieder sich trennen lassen. So einfach war der Plan. Ich würde ihm klar machen, ich wolle nicht mehr Rad fahren, ich könne nicht mehr Rad fahren, – irgendwie würde ich mich aus dieser Sache schon wieder heraus lavieren. Dass das dann alles ganz anders kam, Mann, das konnte ich doch nicht riechen!
Brummelbach war nicht schwer zu finden. Es lag 15 Kilometer von meiner eigenen Heimat entfernt, und es präsentierte sich mir als erschreckend hinterwäldlerisches Kuhkaff. Allerdings sehr idyllisch gelegen, schmiegte es sich an den Fuß unseres Hausberges und wies stolz ein voll erschlossenes, großes Zuzugsgebiet aus. Brummelbach war ganz offensichtlich im Wachsen begriffen. Auf der Suche nach dem Ebereschenweg musste ich zweimal fragen. Dann stand ich auf dem Parkplatz einer wohlwollenden Wohnsiedlung mit vier Mehrfamilienhäusern, mitten im Grünen gelegen. Und vor der Nummer 13 erwartete mich strahlend der Herr Glaubert im traditionellen Jogging-Outfit, flankiert von zwei Rädern, das eine das ältere Exemplar, mit dem er mich seit Wochen immer Dienstags umzingelte, das andere tatsächlich funkelnagelneu.
„Det is’ deins“, begrüßte er mich, als ich aus dem Auto stieg und mich vorsichtig näherte. Ab sofort also waren wir per Du, was mir nicht so recht passte, was sich aber bis zum heutigen Tage nicht mehr geändert hat. Mit einer Handbewegung lud er mich ein, auf seiner Neuerrungenschaft Platz zu nehmen. Ich weiß noch, es war der 13. November 2005, ein strahlend schöner Spätherbsttag, sehr mild für den November. Es war der letzte schöne Tag, ehe eine längere Regenperiode einsetzte, die dann in den ersten Wintereinbruch hineinführen sollte. Es war der letzte schöne Tag in meinem Leben. Ab dem 14. November dann sollte die Ruhe in meinem Dasein endgültig Auszug gehalten haben.
Voller Respekt näherte ich mich dem wunderschönen neuen Drahtesel und ließ mir stolz erklären, er verfüge über 27 Gänge. Damit fing ich erst einmal nicht viel an. Meine alte Tretmühle in Piepshausen hatte eine Dreigang-Schaltung, und vor allem – es war ein Damenrad. Hier jedoch stand ich vor einem Herrenrad! Einem Herrenrad mit Querstange! Ausgesucht von einem Herren mit einer Körpergröße von 1,84 Meter. Ich bin eins siebzig. Aber – versuchen konnte man es ja mal.
Entschlossen schwang ich ein Bein über Querstange und Sattel, blieb mit dem Fuß am Sattel hängen, zog und zerrte, klammerte mich am Lenker fest, dadurch folgte der andere Fuß, noch am Boden stehend, nach, dann begann der ganze Mist zu kippen, und dann lag ich erst mal, vom Fahrrad begraben, vor dem Haus auf dem Asphalt. Der Herr Glaubert eilte hinzu, entwirrte mich und Rad, stellte uns beide wieder in die Senkrechte und machte sich daran, Sattel und Lenker tiefer zu stellen. Das passte von der Höhe dann schon mal besser, doch war noch immer die Querstange im Weg, über die ich meine alten Gräten nicht so richtig drüber weg bekommen wollte. Ich schäme mich, es zu gestehen, aber ich ließ mir helfen. Erst zog der Herr Glaubert mich in sitzgerechte Position, dann hielt er den Lenker fest, bis ich mich eingesessen hatte. Nur reichten meine Füße nicht mehr bis zum Boden. Lediglich die Fußspitzen tippten noch hinab, was meinem Bedürfnis nach Sicherheit nicht unbedingt entgegen kam. Doch er meinte, das reiche vollkommen aus und wies mich an, eine gar wackelige Runde über den Hof zu drehen. Er rannte neben mir her, mich und Rad am Sattel haltend und Anweisungen brüllend. Ganz wie mein Papa, als ich mit fünf Jahren mein erstes Klapprad bekommen hatte. Nun, an der Situation konnte ich nichts ändern. Ich musste üben, wenn ich dieses mir ganz ungewohnte Gefährt beherrschen wollte. Doch hätte ich es liebend gern im Dunkeln getan, statt am helllichten Tage, zumal wir schon bald, ausgelöst durch des Glauberts Geplärre und mein entsetztes Quieken, eine erkleckliche Menge an Publikum bekamen. Nach zwei Minuten füllten sich allerhand Balkone mit den entsprechenden Bewohnern, die wiehernd und gackernd meinen Fahrversuchen beiwohnten. Das muss schon drollig ausgesehen haben: Eine knapp Mittvierzigerin mit viel zu kurzen Beinen auf einem viel zu großen Herrenrad, sich zitternd im Kreise drehend, mühsam um Balance ringend und mit blutrotem Kopf. An ihrer grünen Seite ein knapp Endvierziger, der lauthals Anweisungen brüllte, die ganze Nachbarschaft närrisch machte und vermutlich ebenso zitterte wie ich auch, bis er meine Sicherheit im Sattel für gewährleistet erachtete. Er wies mich an zu bremsen, doch Bremse fand ich keine, der Rücktritt ging ins Leere. Damit erhielt ich noch eine Lektion über die Tücken eines modernen Herrenrades, die besagte, dass ich hier eine so genannte Rücktrittbremse, wie noch bei meinem alten Drahtesel montiert, vergeblich suchte. Die hier zu betätigenden Bremsen fand ich am Lenker. Also noch einmal zwei Runden um den Hof und Bremsen üben.
Als auch diese Ungewöhnlichkeit Einzug in mein Begreifen gehalten hatte, befand der Herr Glaubert der Lektionen genug und erklärte meine Bereitschaft zur angedachten Fahrradtour für gegeben. Unter dem Applaus der Balkon-Gucker brachen wir auf, der Herr Glaubert auf seinem alten Rad ganz langsam vorneweg im kleinsten Gang, ich auf dem nagelneuen zittrig, ebenfalls ganz langsam und im kleinsten Gang, wie volltrunken schwankend, hinterher. Er mit halbem Auge stets nach hinten auf mich achtend und weiterhin Verhaltensmaßregeln schreiend, ich, schlotternd folgend, krampfhaft an den Lenker geklammert und leise in mich hinein wimmernd. So durchquerten wir im Schleichgang das kleine Dörfchen Brummelbach von einem Ende zum anderen, ich übte Fahren, ich übte Bremsen, und ein jedes Mal, wenn ich mich genötigt sah, anzuhalten, fiel ich um. Denn meine Füße reichten noch immer nicht ganz nach unten …
Irgendwie erreichten wir dann die Steilstraße hinauf zu unserem kreisstädtischen Hausberg, ein erhabenes Krönchen unseres Landkreises, etwas mehr als 600 Meter hoch, einst überdacht von einer stolzen, nun verfallenen Trutzburg des legendären Kaisers Barbarossa, heute wegen der grandiosen Aussicht beliebtes Ausflugsziel wanderfreudiger Rucksackschwaben. Dort hinauf zog es den Herrn Glaubert, dort hinauf zu Fuß, das Rad gemütlich schiebend, um es dann auf der anderen Seite wieder hinab gemütlich rollen zu lassen bis hinein in die Große Kreisstadt. Eine schöne Anfangstour, so befand er, sehr angenehm und keineswegs anstrengend, nahezu ideal für eine Dame, die noch nie auf einem Herrenrad gesessen hatte. So, wie gesagt, war der Plan.
Wir erklommen den Hausberg, gemächlich die Räder schiebend; das Wetter zeigte sich nach wie vor von seiner besten Seite. Nicht lange dauerte es, und wir badeten in Schweiß ob der doch recht anstrengenden Erklimmung. Aber es lockte die Belohnung einer wundervollen Schussfahrt, und während dieses Anstieges quasselte und plapperte meine neue Bekanntschaft vom Hundertsten ins Tausendste, und ich brütete währenddessen eine Strategie aus, wie ich mich dieses schnurrenden Quälgeistes künftig wieder entledigen könnte.
Dann war es geschafft! Wir fanden uns wieder auf der Spitze unseres Hausberges, genossen die spektakuläre Aussicht quer über den gesamten Landkreis hinweg und hinein schon in den nächsten, und der Herr Glaubert laberte und laberte, bis er es an der Zeit fand, uns unsere Belohnung abzuholen: die große Schussfahrt!
Er half mir wieder auf das Monstrum von Rad, schärfte mir ein, immer schön hinter ihm zu bleiben (fragte sich nur, wo ich auch sonst hin sollte), und dann ließen wir es rollen! Das war herrlich, Leute! Zuerst ging es sanft bergab, uns blies die laue Spätherbstluft um die Ohren. Teils führte uns der Weg durch waldgesäumtes Gelände, teils öffneten sich die Wälder und gaben den berauschenden Blick frei hinunter in die Täler, die lieblich und weit auslaufend unter uns lagen wie Perlen absoluten Friedens! Zwar wurden wir ab und zu von einem Auto überholt, aber das hielt sich in Grenzen, zumal das traumhafte Wetter die Schwaben zu Fuß ins Gelände trieb. Mit der Zeit rollten wir etwas rascher dahin, der Herr Glaubert mit der Nase nach wie vor hälftig über die Schulter auf mich gerichtet, wachsam und aufmerksam, und er erzählte und plapperte. Das Tempo nahm zu. Im Nachhinein stelle ich rückblickend fest, dass wir uns auf einem Gefälle von etwa 9 Prozent befanden, schnell und schneller wurden. Der Rausch der Geschwindigkeit packte mich alsbald, ich dachte: Ja! Ich kann es! Ich kann es noch!, und dann streifte mich von vorne zwischen all diesen Wortschwallen noch die laut gerufene Mahnung: „Un’ imma scheen mit dea Bremse spiel’n, höast de?“
Ich sah zu ihm, eben noch den Blick zu Tal gerichtet. Er wiederholte nochmals: „Imma scheen mit dea Bremse spiel’n!“ Dabei deutete er auf seine eigenen Bremsgriffe. Angesichts dieser Mahnung, dass es tatsächlich mal an der Zeit sei, mit der Bremse zu spielen, dachte ich noch: Au ja! Bremsen! Und somit griff ich beherzt und mutig in meine eigenen Bremsgriffe. Zog kräftig an.
Das Rad blieb abrupt stehen. Ein Hochleistungsrad mit seinen nagelneuen Bremsen. Blieb stehen.
Ich nicht …
Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft …
Was konkret geschah, kann ich nicht mehr so genau schildern. Ich spürte unter mir noch einen heftigen Ruck, dann schoss ich irgendwie nach oben, ich dachte: Ich kann fliegen!, und dann nichts mehr. Die passionierten Radfahrer unter Ihnen kennen vermutlich den Begriff des Über-Den-Lenker-Absteigens. Nun, das habe ich wohl gemacht. Noch von der nachwirkenden Schubkraft unserer Schussfahrt beflügelt, verließ ich die relativ sicheren Gefilde meines funkelnagelneuen Herrenrades, stieg empor in die Lüfte, breitete meine Schwingen aus, merkte, dass ich gar keine hatte, und klappte sie kurz vor der Landung resigniert wieder ein. Die Landung selber spürte ich nicht mehr. Es heißt ja, dass das menschliche Gehirn in der Lage sei, kurz vor eintretenden Katastrophen auf Stand-By zu schalten. So war das wohl auch bei mir. Mein Hirn wollte sich vermutlich die direkte Erfahrung ersparen, wie ich buchstäblich auf Bauch und Fresse zu landen kam, und meine Erinnerung setzt erst dort wieder ein, wie ich auf meinen beiden Beinen auf der Straße herumtorkelte und rechts nichts mehr sehen konnte.
Mein neuer Freund hampelte aschgrau um mich herum, brüllte herzerweichend: „Wat machst’n du? Wat machst’n du bloß?!“, und hinter mir quietschten Autoreifen. Als nächstes waren wir von lauter fremden Leuten umringt. Ein Mann klebte bereits am Handy, eine Frau packte mich, zog mich in den Straßengraben, legte mich hin, kniete neben mir nieder und legte mit ihrem eigenen aufgestellten Knie meine Unterschenkel auf, um, wie sie mir erklärte, dem Schock entgegenzuwirken. Sie erklärte, sie sei selbst Ärztin, fühlte meinen Puls, mahnte mich, ruhig liegen zu bleiben. Eine andere Frau drückte mir ein ganzes Päckchen Tempo über das rechte Auge. Der Herr Glaubert kniete neben mir, hielt meine blutverschmierte Hand und gellte in die wunderschöne Landschaft hinein: „Wat mach’ ick denn jetz’ bloß? Wat soll ick denn jetz’ mach’n???“
Fakt ist, dass schlussendlich mehrere Leute ihn umringten und den außer Rand und Band geratenen Jungen zu beruhigen suchten, während ich blutend und jammernd mit der Ärztin im Graben lag.
Dann kam der Krankenwagen.
Und dann ging’s ins Krankenhaus. Noch ehe sich die Türen des Krankenwagens hinter mir und den Sanitätern schlossen, brüllte Herr Glaubert mir nach, er würde nachkommen. Dann sah ich nur noch, wie er sämtliche Fahrräder und meinen Rucksack einsammelte und uns zutiefst unglücklich hinterher schaute.
In der Klinik machte man Bestandsaufnahme. Ich hatte großes Glück gehabt. Eine Platzwunde über der rechten Augenbraue, rechtes Schlüsselbein gebrochen, drei Rippen rechts durch, diverse Hautabschürfungen, Klamotten kaputt. Eingipsen konnte man nichts. Man steckte mich in eine Art Gurt, der das Schlüsselbein ruhig stellen sollte, klebte meine Platzwunde, verpasste mir diverse Spritzen und schickte mich nach zwei Stunden nach Hause, bewaffnet mit einer Überweisung zum nächsten Unfallarzt, bei dem ich mich tags darauf vorzustellen hatte. Man schob mich im Rollstuhl – obwohl ich gut zu Fuß war – wieder nach unten zur Aufnahmeabteilung, die mich auch wieder entlassen würde. Und dort, in der Wartehalle, saß schon meine neue Bekanntschaft, noch immer kreidebleich und mitgenommener als ich. Aber er hatte Wort gehalten! Behutsam geleitete er mich zum Parkplatz, wo schon mein treues Auto – also MEIN Auto – auf mich wartete, welches er geborgt hatte, um mich abzuholen. Denn als man mich ins Krankenhaus abgeholt hatte, hatte ich lediglich meinen Geldbeutel mit meinen ganzen Unterlagen mitgenommen. Alles andere war in meinem Rucksack zurückgeblieben. Unter anderem auch mein Schlüsselbund.
Wir fuhren zurück nach Brummelbach, er wieder unentwegt quasselnd seinem Entsetzen und gleichsamer Erleichterung Ausdruck verleihend. In Brummelbach angelangt, wollte ich eigentlich nur noch meinen Kram einsammeln und dann die Heimfahrt antreten, um mich von diesem Alptraum zu erholen. Doch er bestand darauf, dass ich mit ihm nach oben auf eine Tasse Kaffee käme. Mir war zwar alles andere als nach Kaffee zumute, außerdem musste ich dringend aufs Klo, aber allein aus letzterem Grunde ging ich mit. Schon einmal der Neugier wegen, da mich brennend interessierte, wie ein solcher Hungerleider denn wohl wohnen mochte. Ich muss sagen, ich war angenehm überrascht. Eine typische Junggesellenbude erwartete mich, nichts Hochtrabendes, aber alles sehr sauber und ordentlich. Es war alles da, was man so braucht, die Einrichtung zwar schon älteren Datums, aber gepflegt. Und alles zeugte von Geschmack. Also ganz, ganz anders, als ich es mir bei diesem merkwürdigen Kasper vorgestellt hatte.
Es folgte die Tasse Kaffee, dann wurde mir schwindlig, dann wurde mir schlecht, dann setzten, nachdem die Wirkung der Spritzen nachzulassen begann, die Schmerzen ein. Ich nahm eine der Tabletten, die ich vom Krankenhaus mitbekommen hatte, legte mich ein halbes Stündchen auf die große, schwarze Ledercouch, und als ich einzuschlafen drohte, rappelte ich mich wieder auf, schlurfte noch einmal aufs Klo, ehe ich endlich die Heimreise anzutreten gedachte – …
Und merkte dort, dass plötzlich nichts mehr ging. Nichts mehr wollte funktionieren. Ich bin eingeschworener Rechtshänder! Und die gesamte rechte obere Körperhälfte war kaputt. Auf einmal ging rechts gar nichts mehr! Das fing damit an, mir nach dem Pinkeln die Hosen wieder hochzuziehen! Und das sollte die nächsten vier Wochen so bleiben …
Nach dem Klogang eröffnete ich dem Herrn Glaubert, es sei Zeit für mich, nach Hause zu fahren. Aber er schaute mich an, schüttelte den Kopf und tat sehr leise diesen einen, folgenschweren Satz, der etwas ins Rollen brachte, das bis heute, acht Jahre später noch immer am Rollen ist.
„Nee! Du bleibst hia! Ick lass dia jetz’ nich’ alleene …“
Nach einer halbherzigen Diskussion sah ich mich gezwungen, einzulenken. Denn ich musste mir nun selbst eingestehen, dass es mir von Stunde zu Stunde schlechter und schlechter ging. Wir fuhren kurz zu mir nach Hause nach Piepshausen, wo ich etwas Wäsche zusammensuchte, ein kleines Köfferchen packte und noch einige Telefonate tätigte, ehe ich für die nächste Zeit in einer Versenkung namens Brummelbach verschwinden würde. Dies alles geschah nicht aus beginnender Zuneigung zu dem komischen Vogel, der mir das alles eingebrockt hatte. Dies alles geschah aus purer Notwendigkeit, da ich mir mit meinem lädierten Körperchen einfach nicht mehr allein zu helfen wusste. Ich hätte mich pflegen lassen müssen. Das wollte ich niemandem zumuten. Höchstens dem, der mir die Suppe eingebrockt hatte. Ich würde gespannt sein dürfen, wie es ihm gefiele, mir den Hintern abwischen zu müssen. Aber er bestand ja darauf …
Ich war krank! Ich war verletzt! Mal sehen, wie er damit umgehen würde. Und wenn ich tatsächlich die Nase voll hatte, würde ich mir einfach ein Taxi rufen und das Weite suchen. So einfach stellte ich mir das vor …
Was dann folgte, war tatsächliche Hilflosigkeit meinerseits. Ich konnte mich nicht mehr allein anziehen, ich konnte mich nicht mehr allein ausziehen. Als ich an unserem ersten gemeinsamen Abend mit ansehen musste, wie er in seinem Schlafzimmer eine zweite Bettgarnitur für sein Doppelbett bezog, protestierte ich. Ich würde keinesfalls die Nacht mit einem wildfremden Kerl im Ehebett verbringen! Er, so entschied ich, würde, sollte er auf meiner werten Anwesenheit in Brummelbach weiter bestehen, mit der Couch im Wohnzimmer vorlieb nehmen müssen. Ich hingegen, verletzt, angeschlagen und uneingeschränkter Ruhe bedürfend, würde das Schlafzimmer mein eigen nennen. Allein! Doch – das funktionierte ebenfalls nicht. Denn lag ich erst einmal, gab es kein Zurück mehr. Meine Misere bestand darin, dass ich, rechtsseitig nur noch aus Bruch bestehend, mich zur Nachtruhe auf links darnieder zu legen hatte. Links kann ich aber nicht schlafen. Somit zwang mich mein Handycap in Rückenlage. Aus welcher ich aber allein nicht mehr herauskam. Um das Bett zu verlassen, brauchte ich einen Kran! Der mich am linken Arm aus der Heia zog! Und dieser Kran stand nun neben mir, predigte mir meine eben selbst erlangte Erkenntnis und gab zu bedenken, dass, sollte ich auch weiterhin auf die mir vorgezogene Einsamkeit beharren, ich die nächsten Wochen die Dienste eines Pflegeheimes in Anspruch nehmen müsse. Denn eines war Fakt, es war mir klar, es war uns beiden klar: allein konnte ich mir nicht behelfen. Ich konnte nicht einmal mehr Auto fahren. Und ins Pflegeheim wollte ich nicht …
Und so kam es also, dass ich, zähneknirschend und bis über beide Ohren verschämt, einen mehrwöchigen Aufenthalt im Hause Glaubert antrat. Es wurde ein Zusammensein mit einer nicht still stehen wollenden Quasselstrippe, die mir schon bald auf die Nerven ging, mich aber nach bestem Wissen und Gewissen umsorgte. Eine einseitige Symbiose, die selbst Intimitäten, da notwendig, nicht ausließen. Und mich in ein mir fremdes Ehebett zwangen …
Jetzt werden viele wohl hinter vorgehaltener Hand grinsen und wissend murmeln: Aha! SO nennt man das jetzt! Aber sehen Sie sich bitte enttäuscht. Denn ich kann Ihnen nicht ohne Stolz erzählen, dass während meiner ersten drei Wochen Brummelbacher Quarantäne gar nichts passierte. Es geschah nichts weiter, als dass er mich ankleidete, mich auskleidete, mir die Haare wusch, mir in die Dusche half, mir aus der Dusche wieder heraus half, mich trocknete und salbte, meine Wunden leckte, mich von einem Plätzchen zum nächsten verlagerte, mit mir zum Arzt fuhr, zur Krankenkasse, mich praktisch nährte und kleidete und behütete. Mehr geschah nicht. Dieses MEHR passierte erst später. Um einiges später, um es genauer einzugrenzen. Doch bis es so weit war, geschah nichts. Außer dass ich mich in der Obhut eines hektischen, polternden und lautstarken Ungeheuers wähnte, welches mich wirklich nach bestem Wissen und nicht ohne hingebungsvolle Liebenswürdigkeit umhegte und umsorgte. Auch wenn ich inmitten seines Gewusels und Geschluders ab und an in unmittelbare Lebensgefahr geriet. Nein, es geschah nichts. Selbst dann nicht, wenn ich unbekleidet vor ihm stand und seine Finger sich mit meiner Entblößtheit beschäftigten, um dieser zur Bedeckung zu verhelfen, so fasste er mich doch niemals an. Selbst, wenn er gewollt hätte, wenn ich gewollt hätte, wenn wir beide gewollt hätten – es wäre nicht gegangen. Es dauerte drei lange Wochen, in welchen meine Blessuren mich in Atem hielten oder vielmehr in atemloser Qual. Es dauerte drei lange Wochen, ehe die Schmerzen nachließen und mein Schlüsselbein endlich wieder Halt genug bot, um die Gangschaltung an meinem Auto wieder betätigen zu können. Und was noch wichtiger war: ich kam erst nach diesen drei langen Wochen ohne fremde Hilfe wieder ins Bett und auch wieder heraus. Und erst nach diesen drei Wochen gebrochener Knochen und nur langsam verheilender Prellungen, Quetschungen, Abschürfungen und Platzwunden, drei Wochen, in denen ich tagtäglich und nachhaltig bis zur Narkose gequasselt und niedergequatscht worden war, fand ich endlich Kraft und Willen genug, um Abschied zu nehmen und die Heimreise anzutreten.
Zuvor noch fuhr ich am Bahnhof in der Großen Kreisstadt vorbei, um dort den Herrn Glaubert abzugeben, der eine längst gebuchte Urlaubsreise anzutreten gedachte.
Es war noch immer nichts geschehen. Wir umarmten uns zum Abschied, wir wünschten uns alles mögliche, wir trennten uns. Er fuhr nach Mexiko. Ich fuhr nach Piepshausen.
Dort setzte ich mich, nach wie vor im Krankenstand und noch immer leicht betäubt von den gewalttätigen Quasselattacken der letzten drei Wochen, in mein Wohnzimmer, atmete tief durch, genoss meine wieder erlangte Freiheit und stellte nach bereits zwei Tagen fest, dass etwas fehlte …
Um dieses Verlustgefühl noch zusätzlich zu schüren, begab sich der Her Glaubert seinerseits im fernen Mexiko in ein dort installiertes Telefonhäuschen und stürzte sich in vermeidbare Unkosten, um sich täglich um das Wohlergehen der Dame des Hauses zu erkundigen. Dies tat er, wenn möglich, zweimal am Tage, nämlich morgens und abends, um auf diesem Wege persönlich am weiteren Heilungsprozess meines lädierten Selbst teilzuhaben. Er gab also auch aus dem Ausland keine Ruhe mehr.
Unerklärlicherweise störten mich diese Telefonate, da zeitlich nur beschränkt, weil teuer, nicht weiter. Vielmehr freute ich mich, täglich zwei Mal aus dem fernen Mexiko zu hören, zumal diese Distanz mich ja vor weiteren Unbillen, ausgelöst von einer reinrassigen Kravallschachtel, bewahrte. Doch diese Distanz währte nicht ewig, und als der Tag näher rückte und ich Anweisung erteilt bekam, mich alsbald wieder zum Bahnhof in der Großen Kreisstadt zu begeben, um dort Abgegebenes wieder abzuholen, da beschlich mich eine leise Vorahnung, die ich noch nicht zu deuten wusste. Sicher, in meinem Piepshausen, in dieser anheimelnden, sicher gestellten Enklave der Ruhe und Beschaulichkeit, wähnte ich mich geborgen, gut aufgehoben. Doch allein schon der Gedanke an dieses breite, verquere Grinsen, diese Quirligkeit und Unerschütterlichkeit, die mir drei Wochen lang in Brummelbach zuteil geworden waren, ließ, einer unreifen Sechzehnjährigen gleich, meinen Magen flattern.
Wollte sich da etwas einstellen, fragte ich mich nervös? Oder war all das nur auf die einsetzende Langeweile zurückzuführen, die mich nach den turbulenten Brummelbacher Zeiten nun, noch immer zu Krankenstand und Untätigkeit verdonnert, beschlich?
Ich wusste es nicht. Ich wusste nur eines: sollte hinter diesem pubertären Bauchgefühl mehr stecken, als zunächst befürchtet, so würden Ruhe und Beschaulichkeit meine bisherige Daseinsform für alle Zeiten verlassen! Das war mir in meiner zunehmenden Verwirrung rasch klar geworden. Ich musste nun eine Strategie ersinnen, wie ich diese bedrohlich sich anbahnende Situation so rasch als möglich wieder entschärfen konnte. Ich durfte sie ganz einfach gar nicht erst aufkommen lassen, so einfach war das! Ich würde zum Bahnhof fahren, den Heimkehrer einladen, ihn nach Brummelbach fahren, dort abladen, ihm Dank sagen für all seine Hilfsbereitschaft, ihm alles Gute und alles Glück für die Zukunft wünschen, nein, ich komme nicht mehr mit herauf, und nein, mache dir bitte keine falschen Hoffnungen, und nein, es geht einfach nicht, ich bin nicht bereit dazu, ja, Freunde können wir bleiben, vielleicht ab und zu mal – …
Ob er wohl braun geworden war in Mexiko? Was er wohl alles so erlebt hatte? Und – oh – vielleicht hatte er ja ein nettes Mädchen kennen gelernt! Ein Mädchen ganz aus der Nähe vielleicht. Aus Greifswald oder Rostock. Zu dem es ihn unweigerlich hinzog, und das sich schon jetzt ganz schmerzlich nach ihm verzehrte! Ein süßes Mäuschen, ein Ebenbild der noch ganz jungen Andrea Berg. Mit einer Figur wie ein Stundenglas und einem ausgeprägten Faible für durchgeknallte, frühberentete und Flaschen sammelnde Sachsen!
Doch das Ergebnis dieser zum Großteil durch ein schlechtes Gewissen angeleierten Gedankengänge meinerseits war, dass er kein nettes Mädchen mehr kennen zu lernen BRAUCHTE! Denn – er hatte ja schon eines! Ich wusste es nur noch nicht …
Ich wusste es in dem Moment, in welchem ich wieder zum Bahnhof fuhr, um ihn nach Brummelbach zu transportieren. Um nach Brummelbach zu schaffen, was nach Brummelbach gehörte. Denn – mein Magen flatterte nicht mehr nur. Er rotierte …
Und als der Zug einfuhr mit kreischenden Bremsen und dann der Herr Glaubert aus selbigem hinaus stolperte mit schwerem Gepäck und kreischendem Gelächter und kreischenden Grüßen, mich kreischend an seine Brust drückte und der ganzen großen Welt die kreischende Beteuerung leistete, ich hätte ihm gefehlt, – SO GEFEEEHLT!!! – …
Da ging mir das Herz auf …
Ab sofort war mir klar, dass mein weiteres Leben ganz anders aussehen würde. GANZ anders. Denn hier würde ich so ohne weiteres und ganz ohne Blessuren an Leib und Seele nicht mehr herauskommen! Ab sofort hatte ich ein großes, großes Problem. Und dieses Problem habe ich noch heute, acht Jahre später. Dieses Problem stellte sich ein in dem Moment, als ich mich am Bahnhof drücken und herzen ließ. Und in dieser Umklammerung stecke ich, jetzt und acht Jahre gereifter, noch immer. Ein Druck und ein Würgegriff, den nur Liebende aushalten können.
Ja, richtig. Denn nach all diesem Schlamassel, Knochen brechend und wirr an Sinn und Geist, ist dann doch etwas geschehen. Es hat noch einmal ein paar Wochen gedauert, dann geschah doch etwas mehr als Drücken und Herzen. Es geschah trotz aller Bedenken, Ängste und Sorgen, und wie dieses ETWAS ausgesehen hat, – ich denke, da muss ich keine Zeichnung machen, wie? Alle Bedenken und Ängste und Sorgen sind nach diesem ETWAS geblieben, sie werden nicht weniger, im Gegenteil. Sie wachsen und gedeihen und treiben mich bis hin zur Panik, sie werden größer und facettenreicher, mein Leben ist aus den Fugen geraten, lässt sich nicht mehr sortieren. Ich stehe ständig auf Alarmstufe Rot, kämpfe tagtäglich gegen drohenden Herztod, stehe ohne Unterlass dicht an der Schwelle zum blanken Wahnsinn, und wenn ich gefragt werde, weshalb ich mir das antue, so kann ich nur antworten: Ich weiß es nicht.
Ich weiß nur eines: MIT ihm geht es nicht. OHNE ihn geht es auch nicht mehr. Und so zappeln wir eben wie zwei außer Rand und Band geratene atomare Teilchen umeinander herum, krachen zusammen, stoßen uns ab, taumeln gemeinsam durchs Leben, klammern uns dabei aneinander fest und drohen uns gegenseitig in den Abgrund zu reißen. Eine gut meinende Seele erklärte mir auf mein Wehklagen hin mal, dies sei eben echte Liebe. Nun, wenn echte Liebe sich dergestalt ausdrückt, dass man sich täglich versucht fühlt, bei der nahe gelegenen Irrenanstalt zu klingeln und zu fragen, ob man künftig dort wohnen dürfe, muss man sich ernsthaft fragen, was man da eigentlich TUT! Und warum! Und mit wem …
Das Warum wurde mir ja bereits erklärt. Wegen der Liebe eben. Das Mit-Wem kann ich allein beantworten. Mit dem Herrn Glaubert, genannt Der Dicke. Der Dicke, der keinesfalls dick ist und in etwa über so viel Hirnschmalz verfügt, wie in einen Fingerhut passt, dieses mickerige Kontingent jedoch in Schwindel erregendem Eifer und unverbrüchlichem Selbstvertrauen einsetzt und damit die Leute vor den Kopf stößt, die Welt ins Wanken bringt und sich und mich unmöglich macht, ohne es zu merken oder gar zu kapieren! Das ist mein Dicker. Der gehört jetzt mir. Und das alles, weil ich mal vom Fahrrad geflogen bin …
Und diesen verqueren Hampelmann werden wir im Anschluss des öfteren mal näher beleuchten. Damit alle mal so eine ungefähre Vorstellung davon bekommen, mit was ich es jeden Tag auf ein Neues zu tun habe …
So. Habe ich das nicht schön gemacht? Schön behutsam angefangen mit unseren kleinen Geschichten, die sich alle noch quer Beet durch des Dicken Hier und Jetzt hindurchziehen werden. Ja, ich denke, der Einstieg ist geschafft.
Ach, ja! Wenn Sie meinen, diese meine Unfallfahrt habe mich für immer von der Radfahrerei kuriert, dann täuschen Sie sich. Ich fahre wieder. Ja. Ich fahre wieder …