Читать книгу Oooh, Dicker, mein Dicker ... - Jamo Mantam - Страница 9

FAHRRADTOUREN

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So kam es also, dass ich zum Radler wurde. Nicht unbedingt passioniert, doch es geht so. Zwar nicht ganz freiwillig, bleibt aber im Rahmen des Erträglichen. Mein Stichtag ist der Sonntag. Sonntag früh um 10.30 Uhr heißt es radeln! Radeln, was das Zeug hält! Das tut gut, sagt der Dicke. Das hält jung und gesund! Auch wenn ich persönlich das etwas anders sehe.

Seit meinem Unfall mag ich nämlich nicht mehr radeln. Ich habe Angst. Habe Respekt. Ich MAG nicht radeln, aber ich MUSS. Hat jemand anders über meinen Kopf hinweg beschlossen. Das geht dann immer ein paar Wochen am Stück, bis ich wieder gänzlich sowohl Lust, Freude als auch Risikobereitschaft verliere und kurzfristig in den Streik trete. Ich WILL nicht radeln! Ich habe Angst davor. Diese Dispute arten dann immer wieder in einem kurzweiligen, verbissenen Kräftemessen untereinander aus, in welchem ich meist die Oberhand gewinne. Denn eines ist sicher: Ich bin sowohl rhetorisch als auch, was die blanke Sturheit anbelangt, meinem Herrn und Meister haushoch überlegen. Doch er wiederum verfügt über einen unglaublichen Trickreichtum, mit welchem er mich immer wieder zum Einlenken animiert. Was meine permanente Weigerung, mit dem Rad zu fahren, angeht, so weicht er diese immer wieder von innen heraus auf, indem er mir im Vorbeigehen auf meinen prachtvollen Bauch haut und im flotten Jargon anmerkt: „Na, Speckschwaa’tä? Alled im jrün’ Bereich?!“

Spätestens dann hat er mich wieder im Griff. Er legt da eine ganz bezaubernde und einfühlsame Art an den Tag, andere in ihrem Entscheidungsvermögen zu unterminieren. Zumindest bei mir funktioniert das ganz hervorragend. Vor allem dann, wenn er mich in seiner herrlichen Diskretion daran erinnert, dass ich figürlich mehr in Richtung Komplett-aus-dem-Leim tendiere, statt feengleich einher zu schweben wie die von ihm so heiß geliebte Andrea Berg.

Und da ist es dann wieder, das schlechte Gewissen! Ich schaue an mir herunter, tief traurig und resigniert, denn ich versuche dieser Ringe und Wölbungen nun bereits seit acht Jahren mit einem wöchentlichen Fahrrad-Martyrium entgegen zu wirken. Das funktioniert nicht! Allein schon, wenn ich mir ansehe, was da in so reichlichem Überschuss an mir dran hängt, frage ich mich, wie das um Himmels Willen in den Griff zu bringen sein soll bei einem regelmäßigen Training einmal die Woche drei Stunden lang. Da kann man es doch eigentlich auch gleich ganz bleiben lassen, oder? Was soll das? Warum tue ich mir das an? Und dann, während dieser kummervollen Eigenbetrachtungen, kreuzt wieder ER meine Bahnen, kneift im Vorbeirennen meine beachtlichen Schwimmringe, die sich im Lauf der Jahre schützend um meine einstige Taille herumgeschmiegt haben, und kräht vergnügt: „Na, Knackwurscht! Bisse wieda am Jirübl’n?!“

Das nennt man psychologische Kriegsführung, wissen Sie das? Das ist nicht schön, das tut weh! Und was noch viel schlimmer ist: es wirkt! Nach einigen dieser fröhlich-giftigen Verbalattacken denkt man sich: Na ja, man KANN’S ja noch mal probieren. VIELLEICHT bringt’s ja doch irgendwann mal was …

Und weil man schon selber bei jedem Blick in den Spiegel vor Selbstzweifel und Scham fast zerfließt, lässt man sich halt doch wieder weich klopfen und schwingt mit müden, viel zu schweren Knochen seine Pfunde und Kilos auf den Sattel, in der Hoffnung, mal wieder halbwegs heil aus dieser dreistündigen, sonntäglichen Misere herauszukommen.

Denn man darf eines nicht vergessen: Nach meiner Erste-Mal-Radtour mit dem Herrn Glaubert trage ich meine Narben noch immer. Man kann sie sehen, ich kann sie sehen, und die angebrochenen Gräten von einst spüre ich ab und an noch immer. Vor allem, wenn ich nachts zu lange auf der rechten Seite geschlafen habe. Rechts rutscht mir seit acht Jahren ständig der BH-Träger. Weil mein Schlüsselbein nicht mehr wieder ganz gerade zusammengewachsen ist.

Ich habe einfach kein gesteigertes Interesse daran, mir weitere dieser Blessuren einzuhandeln, obwohl die Gefahr ständig gegeben ist, sobald ich auf dem Rade hocke. Weil ich bei einer jeden weiteren Tour, die wir gemeinsam unternehmen, tatsächlich sozusagen hart am Wind segle. Ich habe zum Beispiel seit acht Jahren ständig offene Knie. Aufgeschlagene Ellbogen. Aufgeschrammte Handflächen. Ich komme daher wie ein kleines Kindchen, das derzeit damit beschäftigt ist, das Rollschuh-Laufen zu erlernen. Und das mit über 50 Jahren! Wirklich! Das wird auch nicht besser, solange ich mich allwöchentlich am Sonntag genötigt sehe, meinen Drahtesel zu besteigen, um eine Gesundheitstour auf die Matte zu legen.

Ich kann’s einfach nicht richtig. Es ist zwar schon erheblich besser geworden, ich habe auch wieder einiges mehr an Sicherheit auf meiner Mühle erlangt, aber passieren tut es doch immer mal wieder. Irgendwo lege ich mich immer mal wieder hin. Wälze mich in Dreck, Staub und Morast. Nur um mein wöchentliches, ach so gesundes Pensum abzuspulen.

Das ist echt zum Heulen. Ich mache das auch wirklich nur dem Dicken zuliebe. Und der ist dann auch immer ganz stolz auf mich, wenn ich verdreckt und verpflastert und mit zerrissenen Klamotten aus einer solchen Odyssee zum Vorschein torkle. Dann sagt er zu mir, ich sei tapfer und fleißig gewesen und habe mir ein Bienchen ins Bummi-Heft verdient. Ich sage darauf dann immer gar nichts mehr. Anders: würde ich mich nach solchen Gewalttouren nicht jedes Mal sowohl körperlich als auch moralisch so derart derangiert fühlen, ich hätte ihm sein Bienchen samt Bummi-Heft längst in den Rachen gestopft.

Was soll ich da noch sagen? Dabei war ich nach meinem blutigen Crash vor acht Jahren eigentlich davon überzeugt gewesen, ich hätte es überstanden. Das würde mir nie wieder passieren! Nie wieder aufs Fahrrad! Aber nee, der Dicke meinte, ich müsse unbedingt üben! Viel öfter fahren! Damit ich Sicherheit erlange. Ausreden und Wenns und Abers ließ er nicht gelten. Er stellte sogar in den Raum, all sein Flaschengeld zu sparen, um mir ein eigenes Fahrrad zu kaufen. Ein Damenrad, extra nur auf meine Belange zugeschnitten! Erst da gestand ich heulend die Existenz meines alten Rades in Piepshausen ein. Ein altes Tourenrad, 30 Jahre alt, drei Gänge. Der Dicke war begeistert! In Piepshausen nahm er an meinem alten Vehikel eine Generalinspektion vor, befand das Ergebnis für einwandfrei, trampelte damit höchstpersönlich einige Proberunden und überführte das Gefährt dann in den heimischen Keller nach Brummelbach. Wo es von nun an einen jeden Sonntag morgen auf mich warten würde …

Ich hätte mich zur Wehr setzen sollen! Mit Klauen und Zähnen! Gleich ganz zu Anfang! Hätte auf einem entschiedenen Nein beharren sollen! Statt dessen sitze ich auf. Rücke mich auf dem Sattel zurecht. Und fahre. Ich fahre, so gut es eben geht. Und ich fahre so, dass es bei Hautabschürfungen und blauen Flecken bleibt. Und bei offenen Knien.

Wie das aussieht? Nun, das kann ich Ihnen genau schildern. Das sieht so aus, dass der Dicke mit seinem 27-Gang-Arbeitspferd ganz langsam vorne weg fährt, und ich auf meinem 3-Gang-Damenesel ganz langsam hinterher zittere. Den Blick habe ich stur vor meinem Vorderrad abwechselnd auf den Asphalt gerichtet – um nicht die Bodenhaftung zu verlieren –, und auf des Dicken vor mir her zuckelnden Hinterrades. Um nicht die Richtung zu verlieren. Denn hauptsächlich bin ich während dieser legendären Ausfahrten damit beschäftigt, den Weg vor mir penibel nach Steinchen oder anderen Stolperfallen abzuscannen. Für einen Blick in die freie Natur habe ich keine Zeit. Ich muss aufpassen, nicht umzufallen, irgendwo gegen zu fahren, wo reinzufahren oder über was drüber zu fahren.

Ich bin vollauf damit beschäftigt, nach einer solchen Tour nicht allzu viele Pflaster zu brauchen. Denn Pflaster sind teuer! Aber ab und an wickelt es mich doch. Die besten Wickler sind die, in die mein Dicker mit hinein verwickelt wird. Da ist er aber selber schuld. Denn er besteht darauf, immer schön knapp vor mir zu fahren, um mich notfalls auffangen zu können, wenn mich mal wieder der Drang zu Salto Mortale überkommen sollte. Doch manchmal ist er selbst gezwungen, abrupt in die Bremse zu latschen! Was dann passiert? Nun, Sie brauchen nicht zu denken, dass mein Reaktionsvermögen perfekt auf die akuten Bremsvorgänge meines Vorfahrers abgestimmt ist. Das Ergebnis liegt dann ineinander verkeilt wie Kraut und Rüben auf dem Radweg und bezichtigt sich gegenseitig schreiend und kreischend der Unfähigkeit, eine Radausfahrt halbwegs unbeschadet zu überstehen. Dann hauen wir uns gegenseitig die abgerissenen Schutzbleche um die Ohren, und wir wissen, es war mal wieder eine echt gelungene Radtour!

Das ging anfangs nach meinem Unfall 2005 ganz langsam los. Zunächst weigerte ich mich noch einige Wochen mit Hinweis auf meine noch ganz frischen Wehwehchen und mein stark angekratztes Selbstvertrauen. Dann kam 2006 der liebe Frühling, und den Dicken hielt nichts mehr! Er schob mir kurzerhand mein eigenes Damenrad Marke Pegasus unter den Hintern, meinte, ich sei zu fett und müsse endlich was tun! Somit begann ich, übervorsichtig und mit vollen Hosen, hinter ihm her zu zockeln, ganz langsam. Das wurde dann mit der Zeit schon ein bisschen besser, das schon. Aber es wurde nie richtig gut! Ich falle nach wie vor ab und zu um, liege auf der Nase und lecke dann meine Wunden. Wenn ich montags ins Büro komme, schaut mich die ganze Mannschaft kurz an, zählt meine Pflästerchen und weiß: Aha, gestern war’s wieder so weit … Ich muss da gar nichts mehr groß erzählen. Die grinsen sich schon eins, wenn ich mal wieder zur Arbeit erscheine wie frisch aus dem Kriegsgebiet.

Lustig wird es auch, wenn ich mich verfahre. Was bedeutet, dass ich den Anschluss an den Dicken verliere. Das kommt auch schon mal vor, liegt aber nicht an mir, da ich ja so oder so nur ganz langsam Fahrrad fahre. Aber der Typ vor mir, der vergisst manchmal, dass ich ja auch noch da bin. Der fährt vorne weg und entdeckt dann was, das man unbedingt näher unter die Lupe nehmen muss! Der tritt dann in die Eisen, so schnell kann ich gar nicht gucken, wie der auf und davon ist! Da kann ich schreien und klingeln, wie ich will. Der haut halt einfach ab! Was mache ich dann? Meines erhöhten Unfallrisikos vollauf bewusst, steige ich ab und schiebe hinterher. Langsam. Weinend. Verzweifelt. Und allein. So allein.

Während mein Dicker glücklich einem neuen Sonnenuntergang entgegen radelt …

Es kann passieren, dass ich in einer solchen Situation eine halbe Stunde lang ganz einsam meinen Pegasus neben mir her schiebe, nicht mehr weiß, wo ich bin, keine konkrete Vorstellung davon habe, wo ich hin will, umkehren kann ich auch nicht, weil ich keine Ahnung habe, wo es lang geht. Also schiebe ich halt weiter und immer weiter, allein gelassen in großer Fremde, bis mein kleines Dickerchen nach ungefähr 15 Kilometern feststellt, dass was fehlt. Dann dreht er um, fluchend und zeternd, radelt zurück, sammelt mich, tränenverschmiert und bitter schluchzend, wieder ein, überhäuft mich mit Vorwürfen, schimpft und hält mir vor, was denn wohl gewesen wäre, wenn mich unterwegs fremde Männer angesprochen hätten! Nun, wäre das tatsächlich der Fall, ich würde zugreifen! Sofort zugreifen! Und dann wehre ich mich, brülle zurück, er sei einfach so abgehauen, und ich hätte noch geschrien und mit der Klingel geklingelt, aber er höre ja nicht, wenn er nicht hören will. Und so bleibt ihm nichts anderes, als meine Taubheitsbezichtigung zu bestätigen: „Hab’ ick nich’ jehöat …“

Und wieder haben wir einen schönen, reibungslosen und absolut harmonischen Radel-Tag erlebt!

Wir versuchten es mit unseren Handys. Denn wenn mein Freund in die Pedale tritt, vergisst er, dass er ja noch was dabei hat. Ich stehe dann mutterseelenallein in der Pampa und warte vergeblich darauf, dass mich fremde Männer ansprechen. Mal ehrlich, welcher fremde Mann ist schon erpicht darauf, eine Rotz und Wasser heulende Mittvierzigerin, die einen alten Drahtesel neben sich her schiebt, anzusprechen? Also nahmen wir die Handys mit. Um uns untereinander unsere Koordinaten durchzugeben, sozusagen. Für den Fall, dass der Dicke mal wieder durchstartet und die Mama allein zurück auf der Strecke bleibt. Das ist, als wenn ein großer Hund, den man an der Leine mit sich führt, einem plötzlich durchgeht. Da hat man als schwache Frau nur zwei Möglichkeiten: entweder, man lässt die Leine samt Hund los, oder man lässt sich ein Stück mitschleifen. Das ist mit dem Dicken auf dem Fahrrad nicht anders. Wenn ich den anleine, und der legt einen Sprint an den Tag, kann ich auch nur entweder loslassen, oder aber ich werde durch die gewaltige Zugkraft mitgerissen – und falle um. Wieder einmal.

Also Handys. Damit konnten wir uns nicht mehr verlieren. Dachten wir. Denn ich habe ein Problem. Als meine Mama mich unter Qualen, wie sich das so gehört, geboren hatte, hatte sie doch glatt vor lauter Schmerzen vergessen, mir einen Orientierungssinn frei Haus mit auf den Weg zu liefern. So etwas soll ja hin und wieder mal vorkommen. Ich bin also auch nicht gerade mit Perfektion gesegnet, oh nein! Ich habe Schwierigkeiten mit dem Autofahren. Im unmittelbaren Umfeld geht es schon noch, doch wenn ich über den Tellerrand hinausfahren soll, kann es passieren, dass ich irgendwo herauskomme, wo ich noch nie gewesen bin. Und auch gar nicht hin wollte. Im Prinzip bin ich schon froh, wenn ich sagen kann, wo ich wohne, falls ich gefragt werde. Meiner Mama ging das übrigens genau so. Womit wir bei der Vererbungslehre wären, aber so weit will ich gar nicht gehen. Mit dem Autofahren habe ich also Orientierungsprobleme, warum soll das mit dem Radfahren anders sein? Vor allem, weil ich beim Radeln die Nase ja immer nur zwei Meter vor mir habe, damit mir nichts im Wege sei, das mich zum Sturze kommen lasse.

Nun also begaben wir uns in unser Handy-Experiment. Beide hochgerüstet mit modernen Kommunikationsmedien, schlotterten wir auf unseren Rädern durchs Weltgeschehen, er vorne weg, ich zittrig hintan, dann kam der Moment, da mein Fiffi seinen nächsten Ausbruchversuch durchzog und mich allein zurückließ. Für mich hieß es wieder absteigen, schieben, weinen und auf fremde, Radfahrerinnen ansprechende Männer warten, die da nicht kamen. Und plötzlich durchzuckte mich die Erkenntnis: Moment mal! Du hast ja jetzt dein Handy! Eifrig schritt ich zur Tat, ganz ausgelassen über die Tatsache, dem Schicksal ein Schnippchen geschlagen zu haben, und wählte. Und horchte. Und horchte. Und lauschte. Es klingelte und klingelte, bis mir die Maschine freudig und mit weiblicher Computerstimme erklärte, mein gewünschter Gesprächsteilnehmer habe leider seine Ohren zu Hause liegen gelassen. Somit versuchte ich es erneut, wählte, horchte, wählte, horchte, und der Computer versuchte mir klar zu machen, dass der Dicke offenbar keine Lust habe, mit mir telefonisch zu kommunizieren. Ich gab auf, begann wieder, bitterlich zu weinen und darauf zu warten, dass ich wieder eingesammelt wurde. Nach ein, zwei Stunden etwa.

Doch dann, nach der obligatorischen halben Stunde, gab mein Handy Laut! Ich wurde, nachdem ich tränenreich mein Leid geklagt hatte, scharf getadelt, weshalb ich nicht angerufen hätte, nachdem er mir mal wieder verloren gegangen war? Sofort versicherte ich meinen fünfmaligen sinnlosen Versuch, forderte ihn auf, nachzusehen, denn das Schöne am Handy ist ja, dass man solche Fehlversuche auf dem Display nachträglich noch ersehen kann. Woraufhin wir feststellen mussten, dass der Dicke, wenn er Rad fährt, das Handy einfach nicht hört. Anschließend forderte er mich auf, ihm langsam nachzufolgen. Er würde mich über die Distanz telefonisch zu seinem gegenwärtigen Standpunkt lotsen. Doch hierzu musste erstmal festgestellt werden, wo ich mich überhaupt befand! Damit entstand folgender Wortwechsel.

Er: „Wo bist’n du?“

Ich, noch immer leise schluchzend: „Auf der Straße …“

Er: „Ja, uuf WELCHA?“

Ich: „Ich weiß nicht …“

Er: „Du musst doch wiss’n, wo de bist! WO BIST’N???“

Ich: „Weiß nicht. Hier halt irgendwo …“

Er: „WO?“

Ich: „Kei-keine Ahnung …“

Er, verhalten knurrend: „Mensch, Kleenäää! Du muss’ doch wiss’n, wo …! Nee, ma’ anners: Wie sieht’s ’n da aus, wo de jetz’ bist’?“

Ich, mich zaghaft umsehend: „Also, hier hat’s so Häuser …“

Er: „Wat füa Häusa?“

Ich: „Tja, also, – große. Und kleine. So Häuser halt …“

Er, langsam nervös werdend, und wenn er nervös wird, wird er laut: „Un’? Wat noch? Irjend wat Besonnered? Kaufhaus oda so?“

Ich: „Nee. Da – da ist ein Acker. Kann ein Kartoffelacker sein. Oder auch nicht. Blühen die Kartoffeln schon?“

Er, verdattert: „Gardoff’ln??? Mensch, Mädel, sach’ mia, wo de BIST!“

Ich: „Ich weiß es doch nicht …“

Pause. Nachdenken. Dann er wieder: „Kugg ma’ nach ’nem Straß’nschild.“

Ich schaute mich um, fand ein Schild und piepste: „Marktstraße.“

Das half natürlich überhaupt nicht. Denn in jedem, wirklich jedem noch so mickrigen Kaff gibt es eine Marktstraße. In jedem Weiher, in allen Metropolen dieser großen Welt, überall wimmelt es von Marktstraßen! Da war es natürlich vollkommen gleich, wo ich mich befand! Ob nun in Kühlungsborn oder Kirchentellinsfurt, – Marktstraßen gibt es sogar in Amerika! Fazit: Ich war nicht auffindbar. Und es war Sonntag zur Mittagessenzeit. Niemand befand sich auf der Straße, den ich mal hätte fragen können.

Der Dicke, die Situation nun von allen Seiten beleuchtend, grunzte schließlich: „Wie bist’n weita jemacht, wie ick wech wa’?“

„Immer geradeaus“, wisperte ich, den Tränen schon wieder nahe.

„Midd’m Rad, oda zu Fuß?“

„Bin abgestiegen. Weil ich sonst umfalle, du weißt ja …“

„Jaja, schon jut! Ick gloob, ick weeß, wo de bis’. Rüa dia nich’ vonne Stelle, bin gleich da. Viatelstunne.“

„Ja, aber –“, wollte ich noch einwerfen, doch er raunzte: „Wenn ick inne Stunne noch nich’ da bin, denn ruf de 110! Höast de?! Die soll’n dia uffles’n un’ heem faah’n!“

„Und wie erkläre ich der Polizei, wo ich abzuholen bin, wenn ich es selber nicht weiß?“, wandte ich noch ein, ließ mich mit übelsten Verwünschungen in den Boden rammen, mir nochmals einbläuen, zu bleiben, wo ich war, und dann hockte ich mich neben meinem Rad an den Straßenrand. Autos fuhren kaum welche an mir vorbei. Ich richtete mich auf eine längere Wartezeit ein. Vielleicht würde ich sogar hier schlafen müssen …

Nach der versprochenen Viertelstunde tauchte mein Freund auf. Sagen tat er nichts mehr. Wir kamen lediglich überein, dass die Sache mit dem Handy auch nicht viel bewirkte.

In der folgenden Zeit musste ich immer vor ihm her radeln. Und erst durch diese Taktik festigte sich allmählich meine Sicherheit. Denn nun lag es an mir, den Weg vorher zu bestimmen. Ich hatte sowohl auf die Richtung zu achten als auch auf das, was vor mir auf der Straße Hindernis darstellen konnte. Außerdem gewöhnte ich mir an, stets mit meinem ADAC-Straßenatlas auf dem Gepäckträger zu radeln. Das sah zwar eigenartig aus, vermittelte mir dennoch ein zusätzliches Sicherheitsgefühl. Ab und an fiel ich noch um mit meinem Radel-rutsch, und der Dicke fuhr in mich hinein, was mit der üblichen Schlägerei unter uns endete, aber ich erlangte nach und nach Sattelfestigkeit.

Dies erkannte mein Süßer irgendwann und befand, es sei an der Zeit, mich einer Neuerung im Procedere unserer Ausfahrten zuzuführen. Denn das, was er bislang allein bewältigt hatte und auch während meines Mitradelns ohne Unterlass betrieben hatte, sollte ab nun auch in mein Tätigkeitsfeld einfließen. Er setzte mich aufs Rad und hängte mir einen Sammelbeutel um den Hals. Und dann weihte er mich in die Kunst des Flaschensammelns ein …

Ich wehrte mich! Ich weigerte mich! Ich verteidigte mich bis aufs Blut! Man stelle sich das nur vor: Ich, propere Bürodame unter der Woche, Bankangestellte mit gutem Arbeitsplatz und noch besserem Einkommen! Biedere Angestellte, die jeden Tag aufs Neue penibel auf ihr Äußeres bedacht ist und stets besorgt, ein gutes Bild abzugeben! Ich, die sich nichts nachsagen lassen will und möglichst nie, NIEMALS negativ aufzufallen gedenkt! Ich, die Dame mit den feinen, gepflegten Händen, dem ansprechenden Äußeren und dem unbescholtenen Leumund – …

Ich – sollte – FLASCHEN SAMMELN???

Im Dreck wühlen?

Er zeigte mir, wie es geht. Er machte mir klar, wie sehr ich ihm mit jeder gefundenen Flasche helfen könne. Meinte, dass doch nichts dabei sei. Dass viele, viele das auch machten. Dass ich doch Handschuhe überstreifen könne. Und dass das doch nur für drei Stunden in der Woche sei …

Ich sagte nein! Er sagte bitte. Ich sagte nein! Er sagte bittebitte … Ich sagte nein! Er setzte seinen traurigsten Welpenblick auf und seufzte: „Ach, Kleenä … Wo de doch jetz’ schon so scheen faah’n kanns’. Muss ma’ doch ausnutz’n. Un’ wenn de mia bloß ‘n janz kleened Büsch’n lieb has’ …“

Somit begann die propere Bürodame, sich sonntags zu tarnen. Ich machte mich nicht mehr zurecht. Ich schminkte mich nicht mehr, frisierte mich nicht mehr, zog mir eine ausgeleierte Schiebermütze aufs ungekämmte Haupt, schälte mich in Klamotten, die absolut nichts mit denen einer biederen, properen Bürotante gemein hatten, und hängte mir einen falschen Bart um. Und dann ging ich radeln. Und Pfandgut sammeln. Zusammen mit dem Dicken …

Ich gebe zu, anfangs war es mir ein Graus, mit spitzen Fingern in den Graben zu angeln und nach einem verdreckten Fläschchen oder Döschen zu langen. Trotz der Einweghandschuhe, die ich ab sofort trug. Doch mit der Zeit verließ mich dieser Abscheu. Mit der Zeit beschlich mich eine gewisse Befriedigung, je voller mein Sammelsack wurde. Je praller. Wahrer Stolz nahm von mir Besitz, wenn wir nach unseren Touren die Beute in Brummelbach in Augenschein nahmen! Und wenn ich mehr gefunden hatte, als er, dann stakste ich mit geschwellter Brust einher!

All das weckte mein Konkurrenzdenken! Nach ein paar Wochen nahm ich mir die Verwegenheit heraus, nicht nur mit einem Sammelbeutel loszuziehen, sondern zwei mitzunehmen! Dann drei! Es wurde zu einem Rausch! Glasflaschen zu 15 Cent! Plastikflaschen zu 25! Pfanddosen zu 25! Das Geld lag auf der Straße!

Mit der Zeit entwickelte ich einen Blick für das Zeug, das in der Gegend herumlag. Manches steuerte ich schon gar nicht mehr an, weil bereits aus der Ferne für mich ersichtlich wurde, ob sich ein Stop lohnte oder nicht. Ich wurde zum Experten! Schon von weitem erspähte ich, um welche Sorte von Müll es sich handelte, der da in den Dreck geschleudert worden war!

Und dann konnte ich nicht mehr genug kriegen! Ich fand und fand und fand; das Zeug baumelte an beiden Lenkern, türmte sich auf dem Gepäckträger, und das war GELD, Leute! Das war bares Geld!

Die Jagd war eröffnet …

Nur radelten wir beiden eben nicht allein. Da waren andere Radler unterwegs. Ebenfalls bewaffnet mit Beuteln und Tüten und sogar richtigen Drahtkörben hinten auf dem Gepäckträger! So einen Korb wollte ich auch! So einen Korb musste ich haben! Somit wurde ich zum Dieb! In einer Nacht- und Nebelaktion klaute ich mir eines Tages in der Großen Kreisstadt am Bahnhof bei den Fahrradständern einen Korb. Ich schraubte ihn einfach herunter, als ich mich unbeobachtet wähnte, und befestigte ihn hinten auf meinem eigenen Rad. Nun hatte ich also einen Drahtkorb, in den ich außer meinem Straßenatlas noch einen dritten und sogar vierten Beutel verstauen konnte! Denn Hochkonjunktur für Flaschensammler zeichnete sich am Horizont ab! Manchmal mit zwei – drei Beuteln bepackt, kehrte ich immer wieder sonntags nach Brummelbach zurück, pickepackevoll mit Geld, das nur noch umgesetzt zu werden brauchte!

Doch, wie gesagt, wir waren nicht allein. Viele andere Radler mit Beuteln wollten ebenfalls pickepackevoll heim kommen.

Und so begann mit dieser fieberhaften Sammelwut auch die bittere Verteidigung der Jagdbeute …

Wie oft geschah es, dass ich nach Sichtung eines Pfandfläschleins vom Rad stieg, mich danach bückte, und im selben Moment kreischten neben mir fremde Radbremsen, eine fremde, behaarte Männerhand angelte, OHNE abzusteigen, ebenfalls nach der Trophäe, griff zu, schnappte sie mir vor der Nase weg, noch ehe ich zupacken konnte! Dann radelte der Rivale hämisch lachend auf und davon, ich blieb flaschenlos zurück, schüttelte die leere Faust und brüllte dem Eierdieb lauthals, entrüstet und zornig meinen Besitzanspruch hinterher! Oder wir griffen gleichzeitig zu! Dann ging ein Ziehen und Zerren um 25 Cent vonstatten, das nicht selten in Handgreiflichkeiten ausartete. Oft kam ich montags zur Arbeit mit einem schillernden Veilchen unterm Auge, das sich nicht so ohne weiteres überschminken ließ. Wenn ich von den Kollegen nach der Ursache dieses Males gefragt wurde, erklärte ich würdevoll, vom Wickeltisch gefallen zu sein. Mein Gott, was bin ich vom Wickeltisch gefallen in dieser Zeit! Doch die Jagdleidenschaft hatte mich gepackt, ebenso die Kampfeslust um meine Beute! In diesen drei Stunden eines jeden Sonntages wurde aus der feinen Bürotante eine zähnefletschende, zu allen Schandtaten bereite Hyäne, die ihr Sammelgut zu verteidigen bereit war bis auf die Knochen! Ich schlich in die hintersten Winkel. Ich kroch in die dunkelsten Löcher. Ich kam mit Schmutz in Kontakt, beschmierte mich, saute mich ein, zerriss mir die Klamotten, flog ab und zu in den Dreck, schürfte mir die Haut auf, verdrehte mir die Gräten! Und immer wieder leistete ich mir die reinsten Prügeleien mit Kontrahenten, die ebenfalls nichts anderes im Sinne hatten als ich!

Eines Tages dann flog ich trotz meiner Tarnung auf.

„Gestern habe ich dich gesehen“, vertraute eine meiner Kolleginnen, die ebenfalls in Brummelbach wohnt, mir an. „Als du die Giebelweiher Steige mit dem Rad hochgeschoben bist. Mit jeder Menge Beuteln …“

Die Giebelweiher Steige ist eine Anhöhe von vielleicht 200 Metern kurz vor Brummelbach, die ich niemals fahre. Grundsätzlich schiebe ich diese Steigung. Denn sie ist wirklich steil. Und dort hatte man mich also gesehen. Schiebend. Mit Sammelsäcken und falschem Bart. Nun musste ich Farbe bekennen. Ich stieß bei der Schilderung meiner neuen Nebentätigkeit mehr auf Belustigung denn auf Abscheu, aber ich verteidigte diese Art der Geldbeschaffung mit Stolz und Selbstbewusstsein. Zumal allseits bekannt war, wie arm mein Herr Freund doch war. Ich stellte meine Argumentation auf die soziale Schiene, machte klar, dass ich all das ja nicht für mich tat, und ergänzte, dies sei außerdem eine gute Sache für meine Figur. Eine sehr gute sogar! Hier stieß ich auf Verständnis. Und Anerkennung sogar. Den Wickeltisch konnte ich somit wieder unter dem Teppich verschwinden lassen. Auch den falschen Bart.

Von einer Sache ließ ich alsbald komplett die Finger. Nämlich von den üblichen Keilereien mitten auf der Straße, wenn mir mal wieder jemand auf meiner Beutetour zuvor kommen wollte. Denn eines Tages ging während einer solchen Zerrerei meine Brille zu Bruch. Der Dicke nahm mich, heulend und wehklagend, beiseite und beteuerte seinen vollen Respekt für meinen körperlichen Einsatz. Doch wenn hierbei materielle Werte auf der Strecke blieben, müsse man die Reißleine ziehen. Das fand ich ganz furchtbar lieb von ihm. Ich dürfe durchaus weiter sammeln gehen, aber die Prügeleien ums Pfandgut müssten künftig ihm überlassen bleiben.

Jetzt werden Sie sich fragen, weshalb er mich nie unterstützt hatte, wenn ich mal wieder die Fäuste hatte sprechen lassen. Und dann auch noch viel zu kleine Fäuste! Nun, das Geheimnis liegt darin begründet, dass ich mittlerweile so sattelfest geworden bin, dass wir uns trennen. Somit können wir einen größeren Suchradius abdecken. Ehe wir losfahren, wird in der Küche eine Routenbesprechung vorgenommen. Wir klären ab, bis zu welchem Standort wir gemeinsam fahren und wo konkret wir uns dann trennen. Wer dann wohin und wie entlang fährt. In meinem Straßenatlas zeichne ich die vorgegebene Strecke ein. Der Orientierung wegen, Sie wissen schon. Und wir bewaffnen uns wieder. Mit unseren Handys. Denn der Dicke hat den genialen Einfall gehabt, sein Telefon auf extra laut zu stellen. Damit er es auch hört, wenn ich ihn während des Radelns zu kontaktieren wünsche. Das Ding ist so laut, dass, wenn es anschlägt und er sich gerade unter anderen Leuten aufhält, die älteren Herrschaften automatisch damit beginnen, einen Luftschutzkeller aufzusuchen. Er ist zwar schon des Öfteren angemeckert worden wegen dem gewalttätigen Radau, aber er antwortet dann immer, er sei taub, und sein Blindenhund wolle ihn dringend sprechen. Wenigstens hört er jetzt, wenn ich ihn von unterwegs anrufe. Und dann verständigen wir uns. Wo bist du gerade? Ich bin da und da. Wie viel hast du schon gefunden? Das und das. Du machst jetzt ganz langsam kehrt, und ich hole dich dort und dort ein. Roger und Over!

Das ist toll! Das ist wie beim Militär! Oder wie im Film! Roger und Over! Einfach klasse …

Und sollte während meiner Tour mir doch einmal ein Konkurrenzsammler die Beute vor der Nase wegschnappen, so brauche ich mich nun nicht mehr drum zu hauen. Nein, ich bleibe stehen, steige ab, sehe zu, wie er das Objekt unserer gemeinsamen Begierde einsackt, und sage dann höchst huldvoll zu ihm: „Nun, denn, so soll deines sein, was meines Begehr gewesen! Auch dein Leib hat Recht auf Speisung, die dir dies Fläschchen spenden möge! Auf dass deine Kräfte erhalten und somit dein Geist klar bleiben möge!“

Hallelujah! Ich rechne zwar damit, dass man mich irgendwann mal wegen dieses Schwachsinns einkassieren und bei der örtlichen Blubberklinik abliefern wird, aber es macht Spaß zu sehen, wie andere mich für komplett plemplem halten. Und meine eigene Großherzigkeit rührt mich schon fast wieder zu Tränen …

Im Prinzip also funktionieren unsere Fahrradtouren. Aber nicht immer. Zum einen fahre ich grundsätzlich keine Steigungen. Dem Dicken macht das nichts aus. Der hängt sich tief über seinen Lenker, schaltet einen Gang zurück und strampelt sich mit einer Verbissenheit den Berg hinauf, die mir das kalten Grausen kommen lässt. Wenn er oben ist, geht es gleich schon weiter. Ich mache das nicht. Bergauf fahren strengt mich mächtig an, daher steige ich ab und schiebe. Das bringt mich in Zeitverzug. Und unsere Zeitpläne sind ziemlich eng gesteckt. Das heißt für mich, dass ich mich an anderer Stelle furchtbar ins Zeug legen muss, um wieder aufzuholen. Da hängt mir bergab die Zunge aus dem Hals, dass es eine wahre Pracht ist! Aber anders geht es nicht, denn ich fahre nun mal keine Berge hoch!

Noch schöner wird die Fahrerei im Sommer. Einem jeden Menschen geht beim Wort „Sommer“ das Herz auf! Mir rutscht es in die Hosen. Ich bin einer der seltenen Typen, die keine Hitze vertragen. Ich hasse es, zu schwitzen. Vor allem auf dem Rad! Man erklärt mir immer, Schwitzen sei gesund, man müsse nur viel trinken! Ich kann aber nicht viel trinken. Ich bin ein Mensch mit einem geringen Flüssigkeitsbedarf. Ich kann mich nicht einfach hinstellen, den Kopf in den Nacken legen und einen halben Liter in mich hinein pumpen, wie das alle anderen Sportskanonen einem so vormachen. Wie oft stand mein Herzblättchen schon vor mir, drückte mir die Wasserflasche in die Hand und forderte mich, die ich mich knapp vor der Bewusstlosigkeit wähnte, lauthals auf: „Drink’! Du solls’ drink’n!!!“

Und ich trinke ja auch! Ein ganz kleines Schlückchen für den Anfang, damit die Zähne nur ja nicht zu nass werden. Und dann noch eines, ein ganz kleines Bisschen nur, denn in dehydriertem Zustand fällt mir das Schlucken schwer. Es stimmt schon, es ist zum Auswachsen, wenn ich trinken SOLL! Ich stehe schwer schnaufend da, kralle mich an der Wasserflasche fest, lutsche an ihr herum, und jedes Tröpfchen, dass ich irgendwie in mich hinein zwänge, drückt sofort von innen zu den Poren wieder heraus, und ich schwitze und schwitze immer mehr, ich werde immer feuchter und nasser, und das bringt mich schier um, das widert mich an! Ich brauche kein Wasser in einem solchen Zustand, ich muss ins BETT! Aber ich soll trinken, und das kann ich nicht, und ich soll radeln, und das will ich nicht. Wie also macht man da am besten weiter?

Also, wie bereits angedeutet: im Sommer radeln, das ist bei mir so eine Sache. Mittlerweile habe ich mir ausbedungen, dass alles, was über die 35-Grad-Marke hinausgeht, mich von der Radel-Pflicht entbindet. Das habe ich in endlosen Diskussionen und unter Androhung der Freundschaftskündigung durchgeboxt, und das war ein hartes Stück Arbeit. Aber alles, was an Gradzahlen drunter bleibt, da muss ich raus! Wegen der Figur. Und wegen der Flaschen. Und wegen meinem Teint. Sagt er. Weil ich immer so blass sei. Die Blässe ist mir allerdings angeboren. Und seit ich mit IHM zusammen bin, hat sie sich noch vertieft. Das ist halt so bei mir. Ich werde nicht braun. Ich bekomme trotz Lichtschutzfaktor 200 Sonnenbrand. Wenn der weg ist, bin ich wieder weiß. Ich habe kaum Pigmentierung, bin zwei Stufen von einem reinrassigen Albino entfernt. Und so etwas jagt man mitten im Hochsommer aufs Fahrrad? Ja. Das macht man so. Bis zu 35 Grad. Das sei gesund, erklärte man mir. Nun, wie gut mir das tut, sei in zwei Sätzen geschildert: Der Weg hin zu unserem ersten Bestimmungsort geht ja noch. Das sind an die 10 Kilometer einfache Strecke, und es geht meist ganz leicht bergab. Der Fahrtwind, der mir dabei um die Rübe bläst, mag von anderen meinetwegen gern als belebend und erfrischend empfunden werden, ach, diese herrlich warme Luft! Ich empfinde sie als klebrigen, dicken, viel zu warmen und drückenden Dampf, durch den ich mich da durchzuquälen habe. Zudem muss ich auf unseren Radtouren im Sommer eine Mütze tragen, damit ich mir nicht direkt die Hirnwindungen verbruzzle. Das ist zwar gut und schön und vorausschauend durchdacht, doch unter der Mütze wird es rasch warm, dann heiß, bis mir unter dem Mützenrand der Schweiß vortritt und mir in die Augen trieft. Und nebenher kann ich zuschauen, wie meine sorgfältig eingecremten Arme mit Lichtschutzfaktor Unendlich schön knackig rot werden. Ich kann im Sommer nicht in ärmellosem Top und Shorts radeln, das geht bei mir nicht. Ich trage lange Jeans und ein kurzärmeliges T-Shirt; ich muss möglichst viel anhaben, damit ich mir möglichst wenig verbrenne, verstehen Sie? Das hält schön warm, auch bei schlappen 30 Grad im Schatten! Ich komme nie in Verlegenheit, mir im Sommer Frostbeulen einzuhandeln, das ist wichtig!

Dem Dicken macht das alles nichts aus. Der findet’s herrlich, dem kann’s nicht warm genug sein. Er radelt vergnügt neben mir einher, lässt sich den wehen Buckel von der Sonne braten, bekleidet nur mit Shorts und einem Hauch von Nichts oben herum. Er ist zwar auch ein hellhäutiger Typ, doch er hat überall – wirklich ÜBERALL – Sommersprossen, die sich bei Sonneneinstrahlung sehr rasch zu einem sehr angenehmen, durchgängigen Bronzeton verbinden. Der hat alles, was man braucht, um braun zu werden. Ich habe nichts. Ich habe meine Mütze, meine warmen Klamotten, – ach, ja, und ich habe die Einweghandschuhe. Ich habe zum Sammeln ja immer diese dünnen Gummihandschuhe an. Können Sie sich vorstellen, wie es da drinnen zu kochen anfängt? Und dann diese Hitze um mich herum! Der Schweiß, der mir übers Gesicht rinnt! Dieses Gestrampel auf dem blöden Rad! In meinem Hosenbund wird es nass! Alles wird nass …

Den ersten Stopp machen wir dann in der Kleinen Kreisstadt, sieben Kilometer von Brummelbach gelegen, und versammeln uns dort an einem der öffentlichen Mineralbrunnen, die wir in unserer Gegend haben. Der Schwabe nennt diese Trinkbrunnen Sauerwasserbrunnen. Hierbei handelt es sich um Brunnenanlagen, aus denen natürliches Mineralwasser aus dem Karstgestein der Schwäbischen Alb gepumpt wird. Dieses Wasser ist sehr bekömmlich, je nach enthaltenen Mineralien mehr oder weniger schmackhaft – und umsonst! Ein jeder kann zu diesen Brunnen kommen, dort seinen Durst stillen und sogar seine Flaschen abfüllen. Diese Brunnen sind sehr begehrt. Auch bei uns beiden. Vor allem im Sommer. Wenn wir auf Tour gehen, nehmen wir stets eine kleine, leere Trinkflasche mit auf den Weg, die dann an diesem Brunnen gefüllt wird. Und dann entstehen jene eben beschriebenen Trinkszenen.

„Drink’! Du solls’ drink’n!“

Ich kann nicht. Kann einfach nicht. Ich bin halb hinüber vor lauter Sommer, kann mich kaum mehr auf den Beinen halten, und soll trinken. Und dann wieder radeln … Das ist entsetzlich …

Dann folgt die Trennung. Er fährt links weg, ich fahre rechts weg. Ein Treffpunkt wird ausgemacht zu einer bestimmten Uhrzeit. Doch diesen Treffpunkt erreiche ich nie. Denn es ist Sommer. Die Sonne drückt. Die Hitze wabert. Meine Birne ist krebsrot. Die Knie butterweich. Ich radle nun nicht mehr, ich schiebe. Lediglich, wenn es abwärts geht, steige ich noch auf, um wackelig und durchgeschmort noch ein paar Meterchen zu bewältigen. Ansonsten drücke ich mich zu Fuß an Schatten spendenden Häuserzeilen entlang, dem ungefähren Treffpunkt entgegen, doch meine Kräfte sind erlahmt. Vielleicht finde ich hier und da noch ein Pfandfläschchen oder Döschen, doch schon allein die Vorstellung, mit einer zusätzlichen Pfanddose belastet zu werden, nimmt mir auch den letzten Elan, mich nur danach zu bücken! Irgendwann dann klingelt das Handy, und mein Herr und Meister verlangt in barschem Ton meinen momentanen Standort zu wissen. Dann öffnen sich alle meine Schleusen, und ich heule in gut durchgegartem Zustand meine derzeitige Befindlichkeit ins Telefon. Dann kommt der schon legendäre Satz: „Na, denn drehste halt schon ma’ um. Ick hol’ dia denn ein.“

Und ich schiebe zurück. Richtung Brummelbach. Raus aus der Schatten spendenden Stadt. Hinein ins freie Gelände. Kein Haus mehr. Kein Schatten. Nur noch die Felder, die Straße, der Radweg, die brüllende Sonne über mir und die heiße Luft um mich herum. Ab nun geht es die ganze Strecke wieder leicht bergauf. Und ich weine und weine und weine …

Irgendwann dann holt er mich ein, voll bepackt mit prallen Tüten und Beuteln. Meist überredet er mich, noch einmal aufzusitzen, damit er mich schieben kann. Der Mann hat Kraft für zwei, der könnte mich glatt bis Brummelbach durchschieben. Doch zu diesem Zeitpunkt bin ich schon derart geschwächt, dass es mir nicht mehr gelingen will, den Lenker in der Spur zu halten. Außerdemgeht es mir so elend, dass mir bei der rasanten Schieberei übel wird. Somit bleibt ihm nichts anderes, als mich zurück zu lassen. Mich einem schattigen Baum anheim zu stellen, mir die inzwischen gut gewärmte Wasserflasche in die Hand zu drücken und mir einzuschärfen, die nächste halbe Stunde an Ort und Stelle auszuharren, bis er mit dem Auto zurückkäme, um mich einzusammeln. Und wieder einmal radelt er von dannen, hinaus in den gleißenden Sonnenschein, mein eigenes Rad neben sich herschiebend … während ich unter meinem mir zugewiesenen Apfelbaum liege, zusammengerollt wie ein Embryo, und mein nahendes Ableben erwarte. Dieser Baum kennt mich schon. Im Laufe der letzten acht Jahre habe ich unter seiner Krone eine tiefe Kuhle ins Gras hineingelegen; das Gras dort wächst besonders salzhaltig, getränkt von meinen vielen, vielen Tränen …

So. Soviel zu unseren Sommertouren auf dem Rad. Im Winter hingegen radle ich nicht. Im Winter ist das bei meinem gesteigerten Unfallrisiko dann doch zu waghalsig, das sieht auch mein Herr Dicker ein. Ganz zu Anfang habe ich das versucht, doch die Rutscherei über Eisplatten und die Schweinerei durch hochspritzenden Schneematsch, das ist nun doch zu viel des Guten. Aus einem solchen Abenteuer mit Dreck verkrusteten Klamotten wieder herauszustolpern, das ist alles andere als produktiv. Für den Winter bin ich zwar gut gerüstet, was Bekleidung anbelangt, doch das muss auf dem Rad nicht sein. Im Winter drehen wir ausgleichshalber unsere Runden zu Fuß, das ist auch gesund, und ab und zu kann man auch auf diese Weise Pfandgut finden. Aber ansonsten muss ich radeln. Im Frühling. Im Herbst. Und halt – im Sommer. Ab und zu. Und der Sommer, der ist halt so meine Schwachstelle …

Was auch mächtigen Spaß macht, das nur noch kurz zum Schluss: Radfahren bei Regen! Ich spreche nicht von einem zarten Nieselregen und einem gemütlichen, behäbigen Tröpfeln. Obwohl das auch schon recht widerlich werden kann. Nein! Ich rede von sintflutartigen Sturzbächen! Von Schleusen, die am Himmelstor geöffnet werden und garantiert die nächsten drei Stunden auch offen bleiben! DAS macht Laune, Leute! DAS hat was!

Da stellt man sich anfangs, sofern einem Glück und Möglichkeit hierzu noch gegeben sind, irgendwo unter, in der Hoffnung, das Dilemma möge von kurzer Dauer sein. Doch wenn sich herausstellt, dass die Sturmflut offenbar bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag anhalten wird, dann MUSS man weiter! Dann muss man radeln, was das Zeug hält, schon allein, um nachhaltigen Gesundheitsschäden vorzubeugen! In solche Unwetter bin ich schon ein paar Mal reingekommen. Und in der Regel brechen die nicht über einen herein, wenn man schon kurz vor der Haustür ist, nein, die legen garantiert dann los, wenn man sich am weitesten von zu Hause weg befindet! Da geht’s dann los! Und dann heißt es: radeln! In die Pedale treten! Wie die Bekloppten! Denn ein solcher Sturzbach kühlt aus! In Null Komma Nix ist man durch bis auf die Knochen, da kann der Tag zuvor noch so warm gewesen sein! Hat man eine dabei, zieht man eine Jacke drüber, aber die ist ebenso flott klatschnass wie alles andere auch! Die Brille, sofern man Brillenträger ist wie ich, kann man getrost abnehmen, denn ein jeder Brillenträger kann aus eigener Erfahrung ein Lied davon singen, dass die Erfindung einer Sehhilfe mit Scheibenwischern noch in ferner Zukunft liegt! Und dann hängst du in den Sielen wie ein Irrer, halb blind ohne Brille, der Regen klatscht dir in die zusammengekniffenen Augen, rinnt dir aus den pudelnassen Haaren übers Gesicht und in den Nacken und das Kreuz drüber runter, und dir wird klamm und immer kalt und kälter; aus deiner sich blähenden Fleece-Jacke sprüht ein Gischtschleier hinter dir her, von den surrenden Rädern unter dir sprüht sie dir nach oben gegen das Kinn! Dann fängst du an, die Jackenärmel über deine blau gefrorenen Hände und Finger zu ziehen, aber das hilft auch nichts, denn auch die Ärmel sind klatschnass und eiskalt, und der Regenguss drückt durch den Fahrtwind in die Nasenlöcher und durch die gefletschten Zähne; du atmest nicht mehr Luft, du atmest Wasser und schnaubst es wie ein alter Ackergaul laufend aus den Atemwegen, und dieser Sabber wird, ebenfalls durch den Fahrtwind, gleichmäßig kreuz und quer über deine ehedem noch sorgfältig geschminkte Visage verteilt, und das fühlt sich an wie Glibberzeug, obwohl es doch auch nur Wasser ist, und das ist ekelhaft, einfach widerwärtig! Und dann die Autos, die an dir vorbei jagen und dich mit ihren hochgischtenden Fontänen noch zusätzlich einweichen, im günstigsten Fall noch hämisch hupen angesichts des quietschnassen Putzlappens, der da auf seiner Mühle hockt, und du möchtest schreien vor Wut, willst dich in den Straßengraben werfen, um dort zu erfrieren und ertrinken, aber du musst weiter, immer weiter, denn Rettung gibt’s nur da, wo es warm und trocken ist, und du strampelst und strampelst und strampelst und verfluchst den Tag, an dem du dieses blöde Arschloch kennen und lieben gelernt hast und das dich jeden Sonntag aufs Fahrrad scheucht – …

Ich radle noch immer. Ich radle, ja. Für meine Figur, an der sich trotz achtjährigem, sonntäglichen Martyriums nichts Nennenswertes geändert hat. Aber auch nichts verschlechtert. Vielleicht ist das ja gut so. Ich radle für meinen Liebsten und seine heiligen Sammelbeutel, deren Befüllung im Laufe der Jahre immer beschwerlicher geworden ist, da viele, viele andere nun auch mit Sammelbeuteln radeln. Ich radle. Das Christkind hat mir vor vier Jahren ein neues Fahrrad geschenkt, mit sieben Gängen. Aber ich fahre nach wie vor nur die ersten drei Gänge, wie bei meinem alten Rad auch, denn das reicht an Geschwindigkeitsrausch völlig. Ich muss noch immer ein bisschen aufpassen bei unseren Touren. Noch immer sitzt mir die Angst nach unserem berühmten ersten Mal im Nacken. Die werde ich wohl auch nie mehr ganz loskriegen. Vielleicht ist ja auch das gut so. Ich denke mal, ich bin nun ein ziemlich guter und sicherer Radler geworden, kann mir einiges zutrauen, längere Strecken bewältigen, solange es nicht zu sehr bergauf geht. Und auch mal eine Strecke für mich allein suchen. Solange ich nur immer schön meinen ADAC-Straßenatlas bei mir führe.

Noch immer komme ich immer mal wieder mit aufgeschürften Knien Montag früh ins Büro. Noch immer zeige ich meine am Wochenende erworbenen, frischen Stigmata, die meine Kollegienschaft in helles Gelächter ausbrechen lassen. Aber ins Krankenhaus habe ich seit jenem denkwürdigen 13. November anno Domini 2005 nicht mehr müssen. Meine Verletzungen verarzte ich mittlerweile immer selbst. Darin bin ich fast genau so gut geworden wie im Radeln. Hauptsache, ich radle. Und ich radle immer weiter …

Und wenn Sie mal im Hochsommer nahe Brummelbach unter einem Apfelbaum ein erschöpftes kleines Kerlchen im Grase liegen oder eine durchgeweichte Vogelscheuche auf dem Rad verbissen gegen vom Himmel kommende Sturzfluten ankämpfen sehen, dann bin’s bloß ich. Ich bin’s dann bloß. Denn ich radle und radle und radle …

Oooh, Dicker, mein Dicker ...

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