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3. [41]Graphen und Matrizen

Wenden wir uns nun der ➔formalen Netzwerkanalyse, also der Untersuchung von Mustern von Sozialbeziehungen in einem abgeschlossenen Kontext mit formalen mathematischen Verfahren zu. Wie bereits angesprochen, bildet die formale Netzwerkanalyse den Kern der Netzwerkforschung in den Sozialwissenschaften. In diesem Kapitel stelle ich die Grundlagen vor. Dabei geht es um:

 Netzwerkgraphen und -matrizen (3.1),

 Software für die Netzwerkanalyse (insbesondere das Programm UCI- NET, das wir hier benutzen; 3.2),

 die Messung von Netzwerken (3.3)

 und die Dichte und die Reziprozität als erste Maßzahlen von Netzwerken (3.4).

In den nächsten Kapiteln folgen Verfahren für den Vergleich individueller Positionen (4), für die Untersuchung lokaler Strukturen (Cliquen und Triaden, 5) und die Blockmodellanalyse als Methode der Untersuchung der Gesamtstruktur von Netzwerken (6).

3.1 Graphen und Matrizen

Mit seiner Soziometrie führte Jacob Moreno die Darstellung von Netzwerken mit Hilfe von vereinfachten Graphen ein. Diese haben wir bereits in der Einleitung kurz kennen gelernt (1.1).

 In solchen Graphen werden Akteure als Punkte markiert.

 Die Beziehungen zwischen ihnen werden als einfache Linien (Verbindungen) oder als Pfeile abgebildet.

In der Netzwerkforschung spricht man auch von Akteuren als »Knoten« und von Beziehungen als »Kanten« zwischen ihnen (im Englischen: »nodes« und »edges«).

Betrachten wir hierfür ein relativ einfaches Netzwerk, das uns im Folgenden häufiger als Beispiel dient. Es handelt sich um die Sozialbeziehungen zwischen den Mitarbeitern einer kleinen amerikanischen Software-Firma, die David Krackhardt in den 1980er-Jahren untersuchte (und die er in Publikationen[42] als »Silicon Systems« bezeichnet; 1992; 1999).4 Krackhardt befragte die 36 Mitarbeiter danach, wen sie in der Firma regelmäßig um Rat fragen, und mit wem sie befreundet sind. Es geht also um das Netzwerk von informalen Beziehungen in der Firma.

In Abbildung 4 zeigen die Pfeile an, mit wem die Mitarbeiter angaben, befreundet zu sein. Die Akteure sind mit Vornamen (Pseudonyme) gekennzeichnet. Der Pfeil von Earl zu Pat steht also dafür, dass Earl Pat als Freund angab – Pat aber nicht umgekehrt Earl als Freund nannte. Der beidseitige Pfeil zwischen Pat und Jim markiert dagegen eine beiderseitige Angabe als Freunde.

Bis auf drei Akteure sind alle in diesem Graphen miteinander verbunden. In der Netzwerkforschung spricht man von einem zusammenhängenden Graphen als »Komponente«. Dieses Netzwerk besteht nur aus einer Komponente. Empirisch sind aber auch Graphen mit mehr Komponenten möglich. Beispielsweise könnten Quincy, York und Fran eine ➔Clique ohne Verbindungen zur Hauptgruppe bilden, also eine zweite Komponente des ➔Netzwerkgraphen. [43]Diese reichen von zwei verbundenen Akteuren (einem Paar, siehe 2.4) bis zu großen Komponenten von mehreren Tausend Knoten.

Abb. 4: Freundschaftsnetzwerk in »Silicon Systems«


Quelle: Eigene Darstellung mit Netdraw

Definition: Eine Gruppe von miteinander direkt oder indirekt verbundenen Akteuren in einem Netzwerk bildet eine Komponente. Zwischen Komponenten gibt es keine Verbindungen.

Fran, York und Quincy haben anscheinend keine Freunde in der Firma. Sie stehen als »Isolates« links oben. Allerdings haben diese drei den Fragebogen nicht ausgefüllt haben. Ihre Stellung spiegelt also nur wider, dass niemand sie als Freunde angegeben hat. Die Gruppe um Rick, Tom, Chris, Steve und Irv bildet dagegen den Kern dieses Netzwerks.

Das Layout eines solchen ➔Netzwerkgraphen ist eine Wissenschaft für sich. Um nicht zu vollkommen unübersichtlichen Mikado-Graphen (mit lauter übereinander liegenden Linien) zu kommen, versucht man miteinander verbundene Knoten möglichst nebeneinander zu platzieren. Die entsprechenden Computer-Programme konstruieren die Positionen der Knoten im abbildbaren zweidimensionalen Raum so, dass ihre Entfernungen voneinander (die »euklidischen« Distanzen) möglichst genau die Pfaddistanzen reflektieren – also die Anzahl der Schritte, die man von einem Knoten im Netzwerk zu einem anderen braucht (siehe 4.1). Im vorliegenden Fall wurde der Netzwerkgraph mit dem Programm Netdraw konstruiert.

Für die formale mathematische Analyse von Netzwerken reicht deren graphische Darstellung nicht aus. Deswegen stellt man Netzwerke seit Mitte der 1940er-Jahre in der Form von ➔Matrizen dar. Dabei handelt es sich um Tabellen mit einer ganz spezifischen Form: Sowohl die Reihen als auch die Spalten stehen jeweils für einzelne Knoten im Netzwerk.

D. h., die Matrix eines Netzwerks mit 36 Akteuren wie in der Firma »Silicon Systems« hat 36 Zeilen und 36 Spalten ( Tabelle 3). In die einzelnen Zellen wird meist eine ›1‹ für eine bestehende Beziehung oder eine ›0‹ für keine Beziehung eingetragen. Zumindest prinzipiell können dort aber auch differenzierte Bewertungen angegeben werden – etwa Werte von 1 bis 5 dafür, wie eng die Beziehung zwischen den Beteiligten ist. Der Wert in einer Zelle steht nun dafür, ob und in welchem Maße eine Beziehung von dem Akteur in der jeweiligen Zeile zum Akteur in der jeweiligen Spalte läuft.

Diese Beziehungsmatrix beinhaltet die gleichen Informationen wie der obige ➔Netzwerkgraph. So lässt sich die einseitige Beziehung von Earl zu Pat finden, indem wir in der Reihe für Earl zur Spalte von Pat gehen – dort steht eine 1 dafür, dass Earl eine Freundschaft zu Pat angegeben hat. In der Reihe von Pat steht dagegen in der Spalte von Earl eine 0, da Pat Earl nicht als Freund nannte.

[44][45]Tab. 3: Matrix der Freundschaftsnennungen bei »Silicon Systems«


Quelle: Eigene Darstellung

[46]Mittels der Unterscheidung zwischen Reihen und Spalten können wir also asymmetrische bzw. gerichtete Beziehungen angeben. Zuweilen sind Beziehungen in einem Netzwerk aber prinzipiell symmetrisch (wie im Beispielgraph in Abbildung 1). Dann ist in jeder Zelle für eine Reihe a und eine Spalte b der gleiche Eintrag zu finden wie in der spiegelbildlichen Zelle in Reihe b und Spalte a. Die gesamte Matrix ist dann spiegelsymmetrisch um die Diagonale.

Auf dieser Diagonale wären die Beziehungen der Akteure zu sich selbst zu finden (also von Abe zu Abe, von Bob zu Bob usw.). In der Untersuchung von Krackhardt konnten sich die Mitarbeiter aber nicht selbst als Freunde nennen (das ergäbe auch wenig Sinn). Deswegen ist die Diagonale hier leer. Je nach Beziehungsart können Eintragungen auf der Diagonalen (Selbstbeziehungen) aber auch sinnvoll sein. Zum Beispiel in einem Zitationsnetzwerk wäre hier anzugeben, ob Autoren sich selbst zitieren.

Einfache Betrachtungen wie die der Popularität der Akteure lassen sich nun sowohl anhand des Netzwerkgraphen wie auch mit Hilfe der Netzwerkmatrix anstellen. Dafür müssen wir die Anzahl der eingehenden Pfeile bei einem Knoten oder die Zahl der Einsen in der Spalte für einen Akteur zählen. Diese liegt bei 0 für Fran, Quincy und York, aber bei 12 für Chris.

Für komplexere Betrachtungen brauchen wir aber ein entsprechendes Software-Programm, mit dem wir etwa die Entfernungen (Pfaddistanzen) zwischen den Akteuren schnell und einfach berechnen können.

Soweit sind Netzwerkgraphen und Matrizen recht einfach. Allerdings hat Krackhardt die Mitarbeiter bei Silicon Systems nicht nur nach den Freundschaften, sondern auch nach der Ratsuche gefragt. Dies ist eine zweite Art von Beziehungen zwischen den gleichen Akteuren. Wir können diese zweite Beziehungsart nun – zum Beispiel mit einer anderen Farbe – in den gleichen ➔Netzwerkgraphen eintragen. Bei der Netzwerkmatrix (➔Matrix) ist dies nicht möglich. Hier müssen wir eine zweite Beziehungsmatrix für die Ratsuche konstruieren, die wir dann über oder unter die Freundschaftsmatrix legen (Abbildung 5). Auf diese Weise werden in der Netzwerkanalyse häufig mehrere Netzwerkmatrizen übereinander gelegt, um das komplexe Geflecht von unterschiedlichen Beziehungen zwischen den beteiligten Akteuren abzubilden. Solche übereinander liegenden Netzwerkmatrizen können dann etwa darauf untersucht werden, ob sie miteinander korrelieren – ob also etwa die Mitarbeiter von Silicon Systems tendenziell ihre Freunde um beruflichen Rat fragen. Eine andere Art der Auswertung von Netzwerken mit mehreren Beziehungsarten ist die ➔Blockmodellanalyse (siehe Kapitel 6).

[47]Abb. 5: Übereinander gelegte Matrizen für mehrere Beziehungsarten (stilisiert)


Quelle: Eigene Darstellung

3.2 Software für formale Netzwerkanalyse

Für die Durchführung formaler Netzwerkanalysen steht inzwischen viel Software zur Verfügung. In diesem Lehrbuch greifen wir auf das weit verbreitete, gut dokumentierte Programm UCINET 6 zurück, das von Steve Borgatti, Martin Everett und Linton Freeman programmiert wurde (2002). Hier finden Sie Informationen zum Programm und die Möglichkeit zum Download: https://sites.google.com/site/ucinetsoflware/home

und hier ein Online-Tutorium: http://faculty.ucr.edu/~hanneman/nettext/ Zusammen mit UCINET wird automatisch das Programm Netdraw für die Visualisierung von Netzwerken installiert (Stegbauer/Rausch 2013). Leider ist die freie Benutzung von UCINET begrenzt auf eine Periode von 60 Tagen. Danach kann das Programm käuflich erworben werden (für Studierende relativ günstig). UCINET ist wie die meisten anderen SNA-Programme für das Betriebssystem Windows programmiert und läuft auf Mac-Computern nur über die Windows-Umgebung Wine (Stand 2015).

Im Folgenden biete ich Anweisungen für die wichtigsten Auswertungen in UCINET (oder in anderen Programmen) in folgendem Format an:

UCINET: Menüpunkt ➔ Auswahl Untermenü ➔ Auswahl Untermenü [Option/Auswahl]

[48]Dabei stehen Menüpunkt für die Auswahl auf der Navigationsleiste und Auswahl Untermenü für Punkte auf sich öffnenden Untermenüs. Daraufhin öffnet sich ein neues Fenster mit einem Befehlsdialog. Dort muss unter anderem der entsprechende Datensatz angegeben werden. Mit [Option/Auswahl] gebe ich Auswahlmöglichkeiten im Befehlsdialog an, die nicht unbedingt voreingestellt sind.

So können wir ein Netzwerk auf folgendem Wege visualisieren. Zunächst starten wir in UCINET die spezialisierte Darstellungs-Software Netdraw

UCINET: Visualize ➔ Netdraw

Und dann öffnen wir hier den jeweiligen Datensatz:

Netdraw: File ➔ Open ➔ Ucinet dataset ➔ Network

Die meisten Auswertungsverfahren finden sich in UCINET im Menüpunkt Network. Zum Beispiel können wir die ➔Reziprozität eines Netzwerks mit folgendem Befehl berechnen:

UCINET: Network ➔ Cohesion ➔ Reciprocity [Method/Dyad-based]

Andere, frei verfügbare SNA-Programme sind Pajek, Gephi und Ora. Diese sind etwas weniger benutzerfreundlich als UCINET.

Für fortgeschrittene Benutzer bietet es sich an, Netzwerkanalysen in der Programmier-Umgebung für mathematische Analysen R durchzuführen. Diese sind skript-basiert, müssen also jeweils mit eigenen Befehlen in Schriftform vorgenommen werden. Dafür ist R nicht nur frei verfügbar, sondern ermöglicht auch eigenständige Analysen außerhalb von vorgefertigten Algorithmen, den vielfältigen und flexiblen Wechsel zwischen verschiedenen Datenformaten (z. B. Netzwerkmatrizen und statistischen Fälle-Attribut-Matrizen). Zudem lässt sich R durch immer neue Module erweitern. Für Netzwerkanalysen bietet sich das Standard-Modul sna an, sowie das komplexere Modul network. Auf diesem basieren viele fortgeschrittene Analysemethoden wie zum Beispiel Exponential Random Graph-Modelle mit statnet und ergm.5

[49]Übungsaufgabe 1:

Konstruieren Sie in UCINET eine Netzwerkmatrix mit den deutschen Bundesländern als Akteuren und den Grenzen zwischen ihnen als Beziehungen. D. h.: Zwei Bundesländer sind dann (symmetrisch) miteinander verbunden, wenn sie territorial aneinander grenzen. Den Matrix-Editor in UCINET erreichen Sie mit: UCINET: Data ➔ Data editors ➔ Matrix editor. Achten Sie darauf, dass Sie die Matrix perfekt symmetrisch konstruieren und rechts als Option die Anzahl der Bundesländer für die Anzahl der Zeilen (rows) und Spalten (columns) angeben! Speichern Sie anschließend die Matrix als Datei ab, um sie dann mit Netdraw zu visualisieren! Diskutieren Sie dann kurz in Zusammenhang mit dem nächsten Abschnitt zur Messung von Netzwerken, inwiefern diese Konstruktion eines Netzwerks von Bundesländern sinnvoll ist!

Musterlösungen zu den Aufgaben sind abrufbar unter:

http://www.utb-shop.de/9783825245634

3.3 Zur Messung von Netzwerken

Vor den Auswertungsverfahren hier noch drei kurze Hinweise zur Messung von Netzwerken. Alle drei gelten grundlegenden Problemen bei der Konstruktion von sozialen Netzwerken:

(a) Grenzen von Netzwerken

Das erste Problem betrifft die Grenzen von Netzwerken: Welche Akteure gehören dazu und müssen in einer Untersuchung berücksichtigt werden (Laumann et al. 1983)? In dem Fall von Krackhardts Studie fällt die Antwort relativ leicht. Die Fragestellung geht nach den informalen Beziehungen in einem Unternehmen. Also müssen auch nur dessen Mitarbeiter befragt werden.

Natürlich könnten auch Außenstehende wichtig werden für die informalen Beziehungen. Zum Beispiel könnte ein Ehepartner einer Mitarbeiterin mit einem anderen Mitarbeiter gut befreundet sein und dabei einige Informationen aus dem Betrieb weiter tragen. Dies fiele hier aufgrund der Studienanlage aus der Untersuchung. Und was ist mit Leiharbeitern, die eine kurze oder längere Zeit in einem Unternehmen tätig sind, oder mit freiberuflichen Mitarbeitern?

[50]Bei anderen Untersuchungsgegenständen fehlt uns eine Ausgangspopulation (wie hier die Mitarbeiter), zu der wir lediglich einzelne Akteure hinzufügen müssten. Ein Beispiel dafür sind die Gemeindeeliten, bei denen die Beziehungen zwischen den einflussreichen Akteuren in einer Gemeinde untersucht werden (Pappi 1984). Hier bietet sich ein qualitativer Feldzugang an. Bei diesem lotet die Forscherin zunächst das Feld durch ➔teilnehmende Beobachtung und Interviews aus und bestimmt auf dieser Grundlage die Grenzziehung für die formale Analyse.

Allgemein lauten die Kriterien für ein sinnvoll abgegrenztes Netzwerk:

 Die Akteure müssen sich wechselseitig beobachten und aneinander orientieren (im Sinne des »sozialen Feldes« bei Lewin, siehe 2.5).

 Es braucht eine sinnhafte Grenze eines Sozialraums, innerhalb derer Akteure als zugehörig gesehen werden und außerhalb derer als nicht zugehörig.

Beide Kriterien sind nicht einfach zu bestimmen. Sie verlangen eine gute Kenntnis des Gegenstands und schließlich auch pragmatische Entscheidungen. Ob einzelne periphere Akteure in das Netzwerk fallen oder nicht, ist nicht ganz so wichtig. Aber die zentralen Akteure im jeweiligen Untersuchungsgegenstand sollten möglichst berücksichtigt werden.

(b) Fehlende Teilnehmer an Befragung

Akteure können nicht nur durch fehlerhafte Grenzbestimmung, sondern auch durch mangelnde Beteiligung aus einem Netzwerk fallen. Solche Non-Response ist schon bei standardisierten Befragungen ein Problem. Ihr wird dort aber durch aufwändige Stichprobenziehung und Gewichtung der Fälle begegnet.

Bei der ➔formalen Netzwerkanalyse fällt das Problem noch stärker ins Gewicht. Denn wir wollen etwas über das Muster an Sozialbeziehungen zwischen allen Akteuren in einem Bereich wissen. In der Untersuchung von Krackhardt hatten drei Akteure ihre Fragebögen nicht abgegeben – Fran, Quincy und York. Wie wir gesehen haben, sind diese aber im Freundschaftsnetzwerk eher unwichtig. Sie werden von keinen anderen Mitarbeitern als Freunde genannt. Im Ratsuchenetzwerk sind sie dagegen relativ wichtig, und hier ist deren Fehlen ein deutliches Problem.6

[51]Eine richtige Lösung dafür wäre, die Netzwerkbeziehungen nicht über Fragebögen, sondern über non-reaktive Verfahren zu bestimmen. Beispielsweise könnte man die Häufigkeit des E-Mail-Verkehrs betrachten oder beobachten, wer mit wem zum Mittagessen oder in die Raucherpause geht. Solche non-reaktive Messungen sind nicht überall möglich, aber prinzipiell zuverlässiger (reliabler).

Ein Problem hierbei sind Cut-Off-Werte: Ab wann spricht man von einer Beziehung? Vor dieser Schwierigkeit stehen die Befragten häufig selbst, wenn wir sie nach ihren Beziehungen fragen. Sie müssen sich jeweils einzeln entscheiden; ihnen fehlt der Vergleich mit den Angaben anderer Akteure. Dagegen können wir bei non-reaktiven Messungen ein objektives, für alle Akteure gleiches Kriterium für eine Beziehung anwenden.

(c) Bedeutung von Beziehungen

Anders als die ersten beiden Probleme wird das dritte meist wenig beachtet. Die grundlegenden Einheiten in Netzwerken sind die ➔Beziehungen. Worin aber besteht im Einzelfall deren Bedeutung? Meist nehmen wir einfach an, dass hinter gemessenenen Beziehungen einigermaßen vergleichbare Verbindungen stehen – dass sich also die bei Silicon Systems beobachteten Freundschaften in etwa ähneln. Oft begegnen wir aber ganz unterschiedlichen Bedeutungen von sozialen ➔Beziehungen. Zum Beispiel zeigte King-To Yeung, dass die Befragten in spirituellen oder weltanschaulichen Kommunen in den USA mit »Liebe« gänzlich verschiedene Bedeutungen verbanden (2005: 402ff). Insbesondere die als »Liebe« gemessenen Beziehungen in einer Kommune waren überhaupt nicht mit denen in einer anderen vergleichbar.

Dabei setzt die Quantifizierung von Beziehungen in Einsen und Nullen voraus, dass sowohl die Einsen als auch die Nullen in ihrem Gehalt vergleichbar sind. Ansonsten könnten wir sie nicht zählen und nicht formal analysieren. Im Fall von Krackhardts Studie lässt sich vermuten, dass die Befragten auf die Frage nach der Ratsuche in etwa ähnlich geantwortet haben. Hier geht es um einen spezifischen kommunikativen Vorgang, den die Befragten vermutlich einigermaßen präsent im Kopf haben. Aber unter »Freundschaft« verstehen wir alle etwas sehr unterschiedliches (Fischer 1982a).

So stimmen nicht immer die beiden Beteiligten in ihren Angaben darüber überein, ob sie eine Freundschaft haben. Wie wir im nächsten Abschnitt sehen, werden fast 40 Prozent der angegebenen Freundschaften nicht erwidert. Freundschaften stellen wir uns aber prinzipiell als beidseitig vor. Wie[52] können wir die vielen einseitigen Freundschaftswahlen interpretieren und in den Analysen behandeln? Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, alle mit Vor- und Nachteilen:

(1)Wir können hinter einseitigen Freundschaften unterschiedliche Verständnisse von Freundschaft und unterschiedliche Einschätzungen der Beziehung vermuten. Dann wäre der logische Schritt, Freundschaften zu symmetrisieren. Dafür können wir entweder nur erwiderte Freundschaften zählen (und einseitige Nennungen entfernen). Oder wir behandeln jede Beziehung, in der einer der beiden Akteure eine Freundschaft sieht, als Freundschaft. Im ersten Fall unterschätzen wir die Anzahl der Freundschaften tendenziell, im zweiten Fall überschätzen wir sie eher.

Eine solche Symmetrisierung können wir unter UCINET durchführen mit:

UCINET: Transform ➔ Symmetrize [Symmetrizing Method/Maximize oder Minimize]

[Maximize] zählt einseitige Freundschaften als wechselseitig, [Minimize] eliminiert sie.

(2)Wir können ie dann kurz in Zusametrische, aber schwächere Form der Freundschaft interpretieren, also als eine andere Art der Beziehung (Friedkin 1980: 413).
(3)Oder wir behandeln einseitige Freundschaften als asymmetrische Beziehungen und sehen dahinter unterschiedliche Dispositionen für die Freundschaft: Der eine Akteur wäre gerne befreundet, der andere nicht. Damit werden aber die Antworten der Beteiligten erheblich uminterpretiert. Denn der erste Akteur gibt ja an, in einer symmetrischen Beziehung (Freundschaft) zum anderen zu stehen – und nicht, dass er gerne mit ihm befreundet wäre.

Weiterhin müssen wir nicht nur bei der Messung, sondern auch bei den Analyseverfahren auf die Bedeutung der untersuchten Sozialbeziehungen achten. Nehmen wir an, ein Akteur ist sehr freimütig und gibt sehr viel mehr Freunde an als andere.7 Dann sorgt dieses Antwortverhalten bei einer Reihe [53] von Auswertungsmethoden dafür, dass dieser Akteur als wichtiger im Netzwerk erscheint als bei einem weniger großzügigen Antwortverhalten.

Außerdem sind Analyseverfahren je nach Art der Sozialbeziehung unterschiedlich sinnvoll. Viele Verfahren zielen etwa auf längere ➔Pfade im Netzwerk ab – in wie vielen Schritten kommt man von einem Akteur zu einem anderen (siehe 4.1)? Dies erscheint etwa bei der Ratsuche sinnvoll. Denn über Ratsuche können Informationen über mehrere Schritte wandern.

Im Freundschaftsnetzwerk sieht das etwas anders aus: Etwa zu einer Geburtstagsfeier werden üblicherweise die direkten Freundinnen und Freunden eingeladen. Wer zwei oder drei Freundschaftsschritte entfernt ist, bleibt außen vor. Insofern sind längere Pfade im Ratsuchenetzwerk vermutlich aussagekräftiger als im Freundschaftsnetzwerk.

Wir können sowohl die Ratsuche als auch die Freundschaften als Indikatoren für informale Kommunikation im Unternehmen interpretieren. Dabei werden durchaus unterschiedliche Aspekte kommuniziert:

 Bei der Ratsuche geht es um Informationen.

 Innerhalb von Freundschaften werden auch Informationen kommuniziert. Vor allem aber tauschen sich Freunde über Bewertungen aus: Wie fanden sie das Verhalten des Chefs? Wie stehen sie zu den Präsidentschaftsbewerbern? Bewertungen wandern nicht einfach und schnell über mehrere Schritte – auch wenn sich Freunde direkt beeinflussen.

Krackhardts Studie analysiert unter anderem einen Konflikt, in dem sich die Mitarbeiter für oder gegen eine mögliche gewerkschaftliche Organisation entscheiden mussten (1992: 225ff; siehe 4.2). Hierfür sind weniger Informationen relevant als Bewertungen, und deswegen zeigte sich das Freundschaftsnetzwerk als wichtiger für den Ausgang des Konflikts.

Allgemein lässt sich an dieser Stelle als Ratschlag formulieren: Sozialbeziehungen sollten möglichst genau mit Blick auf die Fragestellung und auf die dahinter liegende Theorie, sowie vor dem Hintergrund einer guten Kenntnis des Feldes erhoben werden. Insbesondere sollte man schwammige Begriffe wie »Freund« möglichst vermeiden, weil alle etwas (leicht) anderes darunter verstehen.

Optimal sind deswegen non-reaktive Verfahren der Beziehungsmessung (s. o.). Sind solche non-reaktiven Messungen nicht möglich, sollte man die Akteure eher nach vergangenem Verhalten befragen als nach schwammigen Begriffen (»Freundschaft«) oder nach hypothetischen Situationen (»Wen würden Sie um Rat fragen?«). Zudem sollten wir bei der Auswertung stärker auf robuste Verfahren setzen, die weniger auf die Positionierung einzelner Akteure (siehe Kapitel 4) und mehr auf die Rekonstruktion systematische Beziehungsmuster[54] zielen (Kapitel 5 und 6). Diese systematischen Beziehungsmuster dürften relativ unsensibel für das Antwortverhalten einzelner Akteure sein.

3.4 Dichte und Reziprozität

Als einfachste Maße können wir für ein Netzwerk dessen Dichte und die Reziprozität der Beziehungen bestimmen.

(a) Dichte

Die Dichte wird berechnet als Anteil der bestehenden an den möglichen Beziehungen, oder auch als Anteil der Einsen in der ➔Matrix eines Netzwerks an der Gesamtzahl der Zellen.

Definition: Die Dichte eines Netzwerks steht für den Anteil der realisierten von den insgesamt möglichen Beziehungen.

Die Beziehungen von Akteuren zu sich selbst, also die Diagonale, werden dabei meist ignoriert. Die Anzahl der möglichen Beziehungen berechnet sich aus:

Anzahl möglicher Beziehungen = Anzahl der Akteure x (Anzahl der Akteure – 1)

Von jedem Akteur kann eine gerichtete Beziehung zu jedem anderen Akteur laufen. Bei Silicon Systems gab es 36 Mitarbeiter, also konnten diese 36 x 35 = 1260 Mal eine Freundschaft oder eine Ratgeberin nennen. Sowohl bei der Ratsuche wie auch bei den Freundschaften wurden jeweils 147 Beziehungen genannt. Die Dichte des Freundschafts- wie auch des Ratsuchenetzwerks beträgt also jeweils 147/1260 = 0,117, also zwischen einem Neuntel und einem Achtel. Das lässt sich auch schnell in UCINET berechnen:

UCINET: Network ➔ Cohesion ➔ Density ➔ Density Overall

Dabei sollte man keinen Haken bei [Utilize Diagonal] setzen. Sonst werden die Selbstbeziehungen als mögliche Beziehungen mitberechnet, was hier nicht sinnvoll ist.

Ist eine Dichte von 0,117 viel oder wenig? Das lässt sich nicht ohne weiteres sagen. Die Dichte eines Netzwerks hängt sehr stark von dessen Größe, von der Art der Beziehung und von deren Messung ab:

[55](1)Wenn Silicon Systems deutlich kleiner wäre, läge der Anteil von Freundschaften vermutlich höher.
(2)Wenn Krackhardt gefragt hätte, mit wem die Mitarbeiter in den letzten zwei Wochen freie Zeit verbracht haben (auch das eine mögliche Messung von Freundschaft), wäre die Dichte vermutlich gesunken.
(3)Durch eine Symmetrisierung sinkt die Dichte, wenn man nicht erwiderte Nennungen eliminiert; oder sie steigt, wenn man einseitige Nennungen als Indikatoren für eine Beziehung sieht.

Am ehesten lassen sich Dichtemessungen für verschiedene Beziehungen innerhalb eines Netzwerks vergleichen (hier die Ratsuche mit der Freundschaft) oder über verschiedene Netzwerke, soweit diese in etwa gleich groß sind und die Beziehungen auf die gleiche Weise gemessen werden.

(b) Reziprozität

Auch bei der Reziprozität handelt es sich um einen Anteil, in diesem Fall dafür, wie viele der angegebenen Beziehungen erwidert werden.

Definition: ➔Reziprozität steht für den Anteil der beidseitigen Beziehungen an den insgesamt bestehenden Beziehungen.

Bei der Befragung bei Silicon Systems wurden 147 Freundschaften genannt. Davon wurden 112 erwidert. Also finden wir im Netzwerk 56 beidseitige Freundschaften und 35 »einseitige Freundschaften«. Der Reziprozitätswert beträgt also 56/(56 + 35) = 61,5 Prozent.8 Auch dies lässt sich schnell mit UCINET berechnen:

UCINET: ➔ Network ➔ Cohesion ➔ Reciprocity [Method/Dyad-based]

Die Beziehungen der Ratsuche bei Silicon Systems sind dagegen nur zu 19,5 Prozent reziprok. Hier handelt es sich offensichtlich weniger um informale Austauschbeziehungen mit einem quid-pro-quo. Die Ratsuche scheint eher ein Routineaspekt der Zusammenarbeit im Unternehmen. Dies lässt sich [56] etwa daran ablesen, dass 19 der Mitarbeiter angaben, den technischen Experten Ev nach Rat zu fragen. Ev selbst fragte aber nur eine Person um Rat, den Gründer und Leiter der Firma Steve. Intuitiv erscheint Ratsuche als Beziehung denn auch weniger reziprok als Freundschaft.

Dichte und Reziprozität sind wichtige deskriptive Kennzahlen eines jeden Netzwerks. Die Dichte bildet eine Angabe über das Netzwerk insgesamt. Dagegen sagt die Reziprozität viel über die jeweilige Sozialbeziehung aus und hilft bei deren Interpretation. Wir greifen später die Reziprozität noch einmal als eine Strukturtendenz von Netzwerkbeziehungen auf (siehe 10.3).

Übungsaufgabe 2:

In den 1950ern befragte John Gagnon 67 Insassen eines Gefängnisses nach ihren »besten Freunden« dort (MacRae 1960). Der zugehörige Datensatz PRISON.##H wird standardmäßig im Arbeitsverzeichnis von UCINET installiert. Untersuchen Sie dieses Netzwerk auf Dichte und Reziprozität! Wie sind die Dichte- und Reziprozitätswerte einzuschätzen?

Musterlösungen zu den Aufgaben sind abrufbar unter:

http://www.utb-shop.de/9783825245634

3.5 Résumé

Die ➔Netzwerkgraphen und -matrizen bilden die Grundlage der ➔formalen Netzwerkanalyse. Ein gutes Verständnis von deren Konstruktion ist unerlässlich für die weiteren Verfahren. Die Dichte und die ➔Reziprozität von Beziehungen stellen erste grundlegende Eigenschaften von Netzwerken dar. Sie hängen sehr von der Art der Beziehungen und damit von deren Messung (und von der forschungspraktischen Abgrenzung des Netzwerks) ab. Deren Bedeutung für Netzwerkanalysen ist kaum zu überschätzen und sollte in jeder guten Studie reflektiert werden.

Leseempfehlungen:

Fischer, Claude 1982: »What Do We Mean by ›Friend‹?« Social Networks 3, 287–306.

Haas, Jessica/Thomas Malang 2010: »Beziehungen und Kanten« in: Christian Stegbauer/Roger Häußling (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung, Wiesbaden: VS, 89–98.

[57]Jansen, Dorothea 2003: Einführung in die Netzwerkanalyse, Wiesbaden: VS, Kapitel 4 und 5.

Krackhardt, David: »The Strength of Strong Ties: The Importance of Philos in Organizations« in: Nitin Nohria/Robert Eccles (Hg.): Networks and Organizations, Boston: Harvard Business School, 216–239.

Krackhardt, David 1999: »The Ties that Torture: Simmelian Tie Analysis in Organizations« Research in the Sociology of Organizations 16, 183–210.

4 Die hier verwendeten Daten sind verfügbar unter: http://vlado.fmf.uni-lj.si/pub/networks/data/esna/hiTech.htm (abgerufen am 4.12.2015).

5 Speziell für die fortgeschrittenen Analyse-Tools gibt es inzwischen die Suite statnet (https://statnet.csde.washington.edu/). Ein Online-Tutorium für Netzwerkanalysen in R finden Sie hier: http://sna.stanford.edu/rlabs.php

6 Krackhardt selbst hat in der Firma nicht nur die Angaben der Beteiligten zu ihren Beziehungen erhoben, sondern auch ihre Einschätzungen zu den Beziehungen anderer. Damit kann er das Problem lösen, indem er für die Beziehungen von Fran, Quincy und York die Einschätzungen der anderen heranzieht. Diese Vorgehensweise ist allerdings sehr aufwändig und in üblichen Netzwerkstudien kaum zu bewerkstelligen.

7 Bei Krackhardt nennt etwa Chris 16 Freunde, wird aber nur von zwölf anderen als Freund bezeichnet. Umgekehrt nennt Rick nur neun Freunde, wird aber elfmal als Freund angegeben. Für beide ergeben sich ganz unterschiedliche Zentralitätsmaße.

8 Alternativ können wir einen anderen Reziprozitätswert berechnen. Dieser gibt nicht den Anteil reziproker Beziehungen, sondern den Anteil erwiderter Beziehungsangaben an ([Method/Arc-based] in UCINET). Dieser liegt hier bei 112/147 = 76,2 Prozent. Beide Messmethoden sind möglich und lassen sich auch unproblematisch ineinander umrechnen.

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