Читать книгу Nach Verdun - Jan Eik, Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 6

ZWEI

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ES GING auf Feierabend zu. In dem schmalen Laden in der Seitenstraße war es schon fast dunkel. Dennoch trödelten noch immer zwei Kundinnen im schummrigen Licht herum, obwohl Erich Röddelin schon zweimal vernehmlich geäußert hatte, die Warenvorräte seien für heute erschöpft - bis auf Kaffee-Ersatz, Rübenmarmelade und saure Gurken, die in ihrem Fass vor sich hin stanken.

Das bisschen, was sonst noch vorhanden war, gedachte er nicht mehr heute Abend und schon gar nicht an solche Figuren zu verkaufen wie die beiden ärmlich gekleideten Weibsen. Solche Gestalten kannte er zur Genüge. Die hofften jedes Mal, was Besonderes zu erhaschen - und versuchten am Ende, auch noch anschreiben zu lassen.

Kredit is nich - der’s tot, hatte Erich mal über einer Wirtshaustheke gelesen. Der Spruch hatte ihm gefallen. Dabei war Erich Röddelin ein guter Mensch. Jedenfalls hielt er sich dafür, und selten hatte ihm jemand widersprochen - von seiner Thea mal abgesehen, aber auf deren Urteil gab er noch weniger als auf das fremder Leute. Und mit fremden und fast immer unangenehmen Leuten hatte er es den lieben langen Tag zu tun, von der morgendlichen Warenbeschaffung, die immer schwieriger wurde, bis zum späten Ladenschluss. Selbst danach hämmerten sie noch an die Jalousie oder belästigten einen sogar an der Wohnungstür mit ihren einfältigen Wünschen, als gäbe es für einen deutschen Kolonialwarenhändler keinen Feierabend. In Friedenszeiten hatten Thea und er sich das notgedrungen gefallen lassen, da zählte jeder Pfennig.

Nun war seit fast zwanzig Monaten Krieg, und der entwickelte sich nicht ganz so, wie sich Erich Röddelin das in seinen treudeutschen Träumen vorgestellt hatte. Mit den anfänglichen Siegen war es längst vorbei, und den ganzen Winter über hatte es ausgesehen, als stecke der Karren ziemlich tief im Dreck. Erst jetzt ging es wieder vorwärts, wie es sich für ein deutsches Heer gehörte. In den nächsten Wochen musste dieses verfluchte Verdun fallen. Dann war der Weg nach Paris endlich frei.

Darauf wartete Erich Röddelin sehnsüchtig. Seiner Ansicht nach kam alles Übel nur von den Juden und davon, dass der gutmütige Kaiser das linke Sozialistenpack viel zu lange toleriert, ja in den Reichstag hatte einsickern lassen, wo es einzelne von den Kerlen tatsächlich wagten, den notwendigen Kriegskrediten ihre Zustimmung zu verweigern und damit Deutschlands Sieg zu gefährden. Wenn Erich Röddelin dergleichen des späten Abends im Preußischen Staatsanzeiger las, überkam ihn jedes Mal eine solche Wut, dass seine Thea sich vorsichtshalber ins Bett begab, um ihm nicht in die Quere zu kommen.

Manchmal war Röddelin nach solchen Nachrichten - es reichte schon ein verlorenes Gefecht oder ein kurzzeitiger Rückzug an der Front - aus dem Haus und in die nächste Kneipe gestürmt, um seinen gerechten Zorn im Kreise Gleichgesinnter herunterzuspülen. An denen hatte es zu Kriegsbeginn nicht gemangelt. Inzwischen jedoch glich das Bier verdünnter Pferdepisse, und selbst in der Eckkneipe war man nicht mehr sicher vor aufrührerischem Gesindel, das immer lauter aufmuckte, je länger der Krieg andauerte. Und je knapper die Lebensmittel und nötigsten Gebrauchsartikel wurden. Von Bier bis hin zu Mehl und Zimt bestand alles nur noch aus Ersatz. Und alle taten sie, als wäre er daran schuld und nicht das feindliche Ausland mit seiner Blockadepolitik!

«Jewisse Heringsbändja fressen sich dick und duhn», rief da beispielsweise einer von der Theke zum Stammtisch hinüber, «und unsaeins kann sehn, det die Würmer wat zwischen de Kiemen kriejen.»

«Denn musste erst mal die Olle dazu sehn», ergänzte ein anderer halblaut, aber Erich Röddelin hatte gute Ohren und verstand genau, worauf das abzielte. Als hätte er die aufquellende Figur seiner Thea nicht selber Tag für Tag vor Augen. Sie war nicht schlank gewesen, als er sie vor nunmehr 26 Jahren nach langem Werben geehelicht hatte, und jung auch nicht mehr. Aber was machte das schon? Er stammte vom Lande und war eher für was Handfestes zu haben als für Hungerhaken, die sich hinterm Besenstiel verstecken konnten. Sie schielte ein bisschen, na schön, und war ein paar Zentimeter größer als er, und ihre Stimme klang unüberhörbar in dem Grünkramkeller, den sie vom Vater Nieswandt übernommen hatte.

«Wenn die sich mal umdrehn will, muss eena rausjehn», hatten die Kundinnen in der Füsilierstraße schon damals hinter vorgehaltener Hand gelästert. Erich hatte es nicht gestört. Er war froh gewesen, nach all den Jahren in Pferdeställen und als Schlafbursche in stinkigen Furzmulden doch noch ein Auskommen gefunden zu haben in dieser unwirtlichen Stadt. Behaglich schmiegte er sich des Abends an das Fleischgebirge neben sich und schlief gewöhnlich schnell und traumlos ein.

Im Übrigen war Theas Korpulenz, der weder mit Hungerkur noch mit Korsett beizukommen war, keineswegs der einzige Grund gewesen, den verlotterten Grünkramkeller in der Nähe des Schönhauser Tors aufzugeben und hier, weit draußen in den Neubauten des Ostens, von vorn zu beginnen. Wäre es nach Thea gegangen, so hätte es ein Feinkostgeschäft mindestens in der Frankfurter Allee sein müssen. Doch Erich konnte rechnen. Selbst mit dem Erbteil des zur rechten Zeit dahingegangenen Schwiegervaters Nieswandt reichte es nur zu dem kleinen Laden in einer ruhigen Seitenstraße von Alt-Boxhagen, immerhin eine Stufe hoch vom Trottoir, wie das hier hieß, und nicht mehr neun runter in den dumpfen Kellermief wie in der Füsilierstraße. Kein Asyl für obdachlose Frauen gegenüber und kein jüdischer Fischgroßhändler an der Ecke. Die miesen Häuser im Scheunenviertel, in denen nicht mal mehr die ärmsten Juden wohnen wollten, waren inzwischen abgerissen. Eine weite Freifläche erstreckte sich dort, wie Erich bei einer morgendlichen Tour zur Zentralmarkthalle festgestellt hatte, der sogenannte Babelsberger Platz, dem man schließlich doch noch eine vaterländische Benennung hatte zukommen lassen. Bülowplatz hieß er jetzt und - da war sich Erich Röddelin sicher - für alle Zeiten.

Gleich rechts hinter der Kuhbrücke lag der Viehmarkt, und dahinter konnte man vom Ufer des Rummelsburger Sees hinüber nach Stralau gucken. Das war fast so etwas wie Heimat für Erich. Nur Thea musste gelegentlich an den steilen Abstieg in das Kellerloch und den feuchten Schimmel in allen Ecken erinnert werden, wenn sie der Vergangenheit allzu sehr nachjammerte. Er hingegen, Erich Röddelin aus Bismark in Vorpommern, war ein Mann des Fortschritts, der sich im nahen Aboli-Kino von Herzen an den Bildern deutscher Geschütze und deutscher U-Boote erfreuen konnte. Von den siegreichen deutschen Truppen hatte er allerdings eigentlich mehr erwartet. Sein eigener Militärdienst bei den Pasewalker Ulanen lag beinahe vierzig Jahre zurück, und weit hatte er es dabei nicht gebracht. Aber die Erinnerungen der Offiziere und Feldwebel an die siegreichen Kriege anno 1864, 1866 und 1970/71, an Alsen, Düppel und Sedan, waren da noch lebendig gewesen und hatten sich ihm eingeprägt. Stundenlang hatte er den Berichten gelauscht. Bald wusste er, wie man eine Attacke zu reiten und eine Schlacht zu schlagen hatte. Obwohl er nur der Pferdebursche war. Er stammte eben vom Lande und verstand, mit Tieren umzugehen.

Besser, als er mit Menschen umgehen konnte, wie Thea mitunter maulte, wenn seine pommersche Sturheit ihr besonders aufstieß. Oder wenn er eine Kundin mit ausnehmender Schroffheit bedachte, die vielleicht nicht mehr verlangte, als von der minderwertigen Ware wenigstens die korrekte Menge zu bekommen.

Thea war einfach zu weich. Sie fiel auf jedes mitleidheischende Gesülze der Weiber herein, die mit Engelszungen um ein paar Gramm oder ums Anschreiben feilschten, während sie vom Mann an der Front und von den hungrigen Kindern zu Hause schwafelten. Bohrte man ein wenig tiefer, wie es Erichs Art war, so stellte sich heraus, dass es sich der Ehegemahl in der belgischen Etappe wohl ergehen ließ und die Kinder sich bei der Großmutter auf dem Lande erholten.

Nein, ihm machte keiner was vor. Die Weiber nicht und die Kerle schon gar nicht, die Thea wie die Schellfische anglotzten, als wäre sie nicht in die Jahre gekommen und nicht so fett, wie sie nun einmal war. Am liebsten bediente Erich deshalb selber im Laden. Dann hatte alles seine Ordnung. Ein anerkennendes Lächeln hatte er allenfalls für die echten Kriegsverletzten übrig, von denen es in der Gegend schon einige gab. Arme Kerle! Was sich da vor Verdun und Douaumont tat, war gewiss nicht von Pappe, auch wenn die Berichte in der Kreuz-Zeitung knapp ausfielen. Am Ende würde der liebe Gott schon wissen, wem er den Sieg zusprach. Dann galt die stolze Aufschrift Kolonialwaren über der Ladenfront endlich wieder mit Fug und Recht!

Die ältere der beiden Frauen hatte sich zu einem Glas Rübenmarmelade entschlossen. Erich kannte die Leupolten und wusste, weshalb sie so lange gezögert hatte: weil sie hoffte, von Thea bedient zu werden.

Die andere dagegen, eigentlich noch im besten Alter für eine Frau, mickerte in den letzten Jahren mehr und mehr dahin, als bekäme ihr der Krieg nicht. Dabei kannte Erich Röddelin die Wahrheit so gut wie jeder andere Mensch im Umkreis von dreihundert Metern um die Mietskaserne in Alt-Boxhagen, in der sie wohnte: Sie hatte sich in der Kriegsbegeisterung der ersten Augusttage von ihrem Galan ein Kind anhängen lassen, ein pergamenthäutiges, ewig kränkelndes und greinendes Gör, das seinen ersten Winter nicht überlebt hatte. Seitdem schlich die Mutter wie ein schwarzer Strich durch die Landschaft, mit böse verzogenem Gesicht, als wären andere Leute an ihrem Unglück schuld. Es hieß, sie würde neuerdings bei der Eisenbahn arbeiten.

Kaum hatte die Leupolt die Groschen für die Marmelade aus ihrer zerschlissenen Geldbörse gefischt und einzeln vor Röddelin hingezählt, da klingelte die Ladenglocke, und gleichzeitig tauchte Theas nicht zu übersehende Masse in der Tür zum dunklen Hinterzimmer auf. «Nahmd, Frau Leupolt», grüßte sie leutselig, und die Leupolten hätte anscheinend am liebsten einen Hofknicks gemacht. Half ihr aber nichts mehr, denn Erich war schon um den Ladentisch herum getreten und schob das alte Weiblein sanft in Richtung Ladentür. Dabei erst fiel ihm auf, dass die andere, die jüngere Kundin spurlos verschwunden war.

«Machst du endlich Feierabend?», keuchte Thea.

«Nee», antwortete Erich gallig. «Vielleicht kommt ja noch deine Freundin, die Schlächtermamsell, und versucht, dich anzupumpen!»

Er wusste sehr wohl, von wem Thea die Wurstzipfel bezog, die sie heimlich im Bett kaute, im Glauben, er merke es nicht.

Statt einer weiteren Entgegnung schrie Thea plötzlich auf, als wäre ihr eine Ratte über den Fuß gelaufen. Schreckensbleich wies sie auf das Schaufenster. Von außen drückte jemand seine Visage gegen das Glas.

«Der schon wieder!», grollte Röddelin grimmig und hob drohend die Faust in Richtung Fenster. Doch schon tauchte das Gesicht, das sich zu einem diabolischen Grinsen verzerrte, ins Dunkel der Straße zurück.

Erich atmete auf. Ein Glück, dass der Kerl nicht in den Laden gekommen war, um auf seine übliche Weise zu stänkern! Einmal hatte ihm Erich mit den Blauen gedroht, und der Kerl hatte unter höhnischem Lachen den Laden verlassen, nicht ohne dabei absichtsvoll einen Sack mit Erbsen umzustoßen.

Er trat zum Fenster, lockerte den Gurt und ließ die Jalousie herunter. Im Laden war es jetzt beinahe vollständig dunkel. Die sauren Gurken, deren weißer Belag sich kaum noch verbergen ließ, verbreiteten einen so infernalischen Geruch, dass er beschloss, die Ladentür hinter dem Rollladen noch offenzulassen.

Langsam, damit sich die Lüftungsschlitze weit öffneten, ließ er die hölzernen Lamellen nach unten, als er plötzlich einen heftigen Schmerz an seinem Schienbein verspürte und vor Schreck den Gurt fahrenließ. Rasselnd knallte die Jalousie auf die Türschwelle. Jemand hatte genau den Augenblick, da er den Rollladen herabließ, abgepasst, um einen Stein oder einen anderen größeren Gegenstand in den Laden zu werfen und Erich damit zu verletzen. Zorn packte ihn. Doch noch ehe er jenes ominöse Wurfgeschoss zu ertasten vermochte, tat sich vor ihm ein krachender Feuerschlund auf, der den Laden in ein blutrotes Licht tauchte. Das war das Letzte, was Erich Röddelin wahrnahm.

Nach Verdun

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