Читать книгу Nach Verdun - Jan Eik, Horst Bosetzky, Uwe Schimunek - Страница 7

DREI

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HERMANN KAPPE schlief in der Sekunde, in der Erich Röddelin getötet wurde, tief und fest. Nicht etwa zu Hause, sondern im Büro, den Kopf auf die Schreibtischplatte gebettet. Er konnte sich das erlauben, denn der Amtsarzt hatte bei ihm eine Art Narkolepsie festgestellt, im Volksmund auch Schlafkrankheit oder Schlummersucht genannt. Am Tage wurde er manchmal derart müde, dass er nicht anders konnte, als fünf bis zehn Minuten zu schlafen.

Dieses Leiden war ein großes Glück für Kappe, denn es verhinderte, dass man ihn zum Soldaten machte und zum Sterben nach Verdun schickte. Seine Vorgesetzten hatten von der Krankheit erst erfahren, als sie ihn Ende 1915 zum Kriminalkommissar beförderten. Wegen seiner hervorragenden Leistungen, die er seit 1910 in der Berliner Polizei erbracht hatte, aber auch, weil andere, die vor ihm an der Reihe gewesen wären, in den Schlachten in der Champagne, bei Ypern, in den Masuren oder bei Ternopil gefallen waren.

Kappe kam aus dem märkischen Wendisch Rietz, und so träumte er jetzt, in einem Angelkahn zu sitzen und über den Scharmützelsee zu rudern. Eine Nixe tauchte neben ihm aus dem Wasser. Sie sah aus wie seine Braut.

«Klara, du?!»

«Ja, ich! Und wenn nicht bald Hochzeit ist, dann ziehe ich dich hinab zu mir in die Tiefe.»

Kappe schrie auf und war im Nu hellwach.

Galgenberg, der gerade eingetreten war, sah ihn fragend an.

«Na, wer hat Sie denn erschossen, Kappe?»

«Niemand, aber Klara ist aus dem See aufgetaucht und hat verlangt, dass ich sie endlich heirate.»

Galgenberg lachte. «Wie sag ick imma: Jenieß den Frühling deines Lebens, / leb im Sommer nich verjebens, /denn sehr bald stehst du im Herbste. / Wenn der Winter kommt, denn sterbste.»

«Erlauben Sie mal!» Kappe schüttelte sich und schlug sich mit den Handflächen gegen die Wangen, um richtig wach zu werden. «Ich bin gerade erst achtundzwanzig Jahre alt geworden …»

«Ja ebent! Wie alt werden wir Männer denn? Keine dreißig, keine zwanzig, wenn wir bei Verdun vor die Hunde gehen. Und sonst …? Fünfundsechzig vielleicht, höchstens siebzig. Da haben Sie also mit achtundzwanzig Jahren schon vierzig Prozent ihres Lebens hinter sich.»

Kappe erschrak. «O Gott, ja. Dann sollte ich wirklich mal langsam vor den Traualtar treten …»

«Wenn nicht, wernse von Ihrer Klara schon getreten werden.»

«In diesen lausigen Zeiten auch noch heiraten und Kinder in die Welt setzen?» Kappe zeigte auf das Berliner Tageblatt, das auf Galgenbergs Schreibtisch ausgebreitet war. «Erst haben sie uns verboten, Kuchen zu backen, solange wir Krieg haben, und jetzt soll es Butter nur noch auf Karten geben.»

«Na, bald gibt’s ja wieder Mückenschwärme», sagte Galgenberg.

Kappe konnte ihm nicht folgen. «Was hat denn das damit zu tun?»

«Ne Menge, denn mein Vater hat immer jesagt: Man sollte nicht denken, wat so ’ne Mücke für’n Fett hat.»

Über dieses Thema ließ sich stundenlang reden. Immer größere Mengen an Fett wurden der Ernährung entzogen, denn die Nachfrage des Militärs nach Glycerin wuchs und wuchs. Man brauchte es für Sprengstoffe. Und die Kanonenrohre und Torpedos mussten mit Schmieröl versorgt werden.

Im Polizeipräsidium am Alexanderplatz war eigentlich schon lange Feierabend, aber beide hatten keine rechte Lust, nach Hause zu fahren. Galgenberg hatte eine große Familie und fürchtete den Trubel zu Hause, Kappe hatte Angst davor, dass ihm die Decke auf den Kopf fallen würde, wenn er den ganzen Abend über allein in seinem kleinen Zimmer saß. Seine Verlobte hatte heute keine Zeit, sie ließ sich privat in Stenographie und Schreibmaschine unterrichten, damit sie im Kaufhaus Rudolph Hertzog vom Verkauf ins Bureau wechseln konnte.

«Stöhnen wir von etwas anderem», sagte Galgenberg und schüttete den Rest seines Kaffees ins Waschbecken. «Können Sie sich noch daran erinnern, wie richtiger Kaffee geschmeckt hat?» Seiner hatte aus karamelisiertem Rohrzucker und Rübenmehl bestanden, andere tranken welchen aus Gerste, Malzkaffee also, Kathreiner, manche eine braune Brühe aus Lupinen, Feigen oder Eicheln.

Über dem Waschbecken hing das Schild Spare Seife!

Es war erstaunlich, dass die Behörde ihnen als Seifenersatz noch keinen Scheuersand hingestellt hatte, denn für alles gab es jetzt Ersatz, nicht nur für Bohnenkaffee. In Deutschland aß man Kunsthonig statt richtigen Honig und Margarine statt Butter, und man hatte Fleisch-, Milch-, Eier-, Tee-, Branntwein- und Bierersatz zu verkraften. Einer hatte nachgezählt und war auf 837 fleischlose Wurstersatzsorten gekommen.

Kappe kam immer noch ganz gut über die Runden, denn die Eltern schickten ihm aus Wendisch Rietz einmal im Monat ein großes Fresspaket, während Galgenberg mit dem vorliebnehmen musste, was es in Berlin zu kaufen gab. Und als er seine letzte Klappstulle essen wollte und dabei am «Natura Brotaufstrich» roch, einer aus gelb gefärbtem Mehlkleister und etwas Butter bestehenden Schmiere, konnte er nur murmeln: «Jibt dir det Leben einen Puff, / so weene keene Träne. / Lach dir ’n Ast und setz dir druff / und bammle mit de Beene.»

In diesem Augenblick stand Waldemar von Canow in der Tür, ihr Vorgesetzter, und freute sich, sie noch zu sehen.

«Bravo, meine Herren!», rief er. «Auch in der Heimat kann man seinem Volke dienen, nicht nur an der Front.»

Kappe und Galgenberg hatten Mühe, nicht laut werden zu lassen, was sie dachten: «Selig sind die Bescheuerten, denn sie brauchen keinen Lappen mehr!» Da sie fürchteten, dass man ihnen ihre Gedanken von den Gesichtern ablesen konnte, senkten sie schnell den Blick und taten, als seien sie in irgendwelche Akten vertieft.

«Ja, was ich sagen wollte … äh … Schön, dass Sie beide noch da sind.» Von Canow musste sich erst wieder auf das besinnen, was ihn zu Kappe und Galgenberg getrieben hatte. «Ah ja: Sie müssen nämlich noch ausrücken.»

Galgenberg sah auf und tat empört. «Ich bin doch kein Feigling, ich bin noch nie im Leben ausgerückt und werde auch nicht ausrücken, wenn irgendeine Gefahr im Verzuge ist.»

«Lassen Sie doch diese kindischen Späße!», fuhr ihn von Canow an. «Wir befinden uns im Krieg, und ich mahne Ernsthaftigkeit an.»

Kappe fand, dass er diesen Dialog schnellstens unterbrechen musste, und fragte, ob denn irgendwo ein Mord geschehen sei.

«Ja, in der Glatzer Straße. Jemand hat eine Handgranate in einen Kolonialwarenladen geworfen und den Inhaber getötet. Einen gewissen Erich Röddelin.»

«Eine Handgranate … Da müssen wir also nich extra nach Verdun», sagte Galgenberg. «Jetzt ham wa det ooch in Berlin.»

«Ach, Unsinn!», rief von Canow, der stolz darauf war, dass ihn in seiner Kriegsbegeisterung niemand übertreffen konnte.

«Und der Täter?», fragte Kappe. «Hat er sich gestellt, ist er schon ergriffen worden?»

«Nein, weder noch.»

Kappe erhob sich. «Dann werden wir uns mal auf den Weg machen.»

«Ist denn das Automobil für uns schon vorgefahren?», fragte Galgenberg.

«Wo denken Sie hin?!», rief von Canow. «Jeden verfügbaren Kraftwagen haben wir dem Oberkommando unseres Heeres zur Verfügung gestellt. Sie nehmen die Straßenbahn, meine Herren. Dr. Kniehase wartet schon an der Pförtnerloge auf Sie.»

Kappe und Galgenberg trafen ihn an besagter Stelle mit der «Mordtasche» in der Hand. Darin steckten Tinte und Füllfederhalter für das Protokoll, Pinzetten zur Spurensicherung, Sonden zur Untersuchung der Tiefe von Wunden, Glasröhrchen für blutige Haarbüschel, abgerissene Knöpfe und dergleichen mehr.

Dr.-Ing. Kniehase fühlte sich ganz als Wissenschaftler und damit den anderen haushoch überlegen. Er hatte als Ingenieur im kaiserlichen Heer gedient und dann lange Jahre an der Berliner Artillerie- und Ingenieurschule gelehrt, bevor man ihn gezwungen hatte, wegen einer Liebesaffäre mit der Frau eines Vorgesetzten den Militärdienst zu quittieren. Nach einigem Hin und Her war er zur Kriminalpolizei gestoßen, wo man langsam aber sicher daranging, sich bei der Aufklärung von Verbrechen auch naturwissenschaftlicher Methoden zu bedienen. Er war ein Tüftler, der mit seinen kriminaltechnischen Untersuchungsergebnissen bei der Aufklärung von Morden unentbehrlich geworden war.

Da der Photograph zum Kriegsdienst eingezogen war, schleppte Kniehase selbst den Photoapparat, während er Galgenberg das Stativ und die Blitzvorrichtung zum Tragen gab und Kappe die Mordtasche. Derart ausgerüstet zogen sie zur Haltestelle der 82 am Alexanderplatz, Richtung Küstriner Platz.

«Wenigstens haben sie uns Dienstfahrscheine mitgegeben», sagte Dr. Kniehase.

Der Fahrplan war in diesen Zeiten oft nur Makulatur, diesmal aber kam die Straßenbahn wirklich halbwegs pünktlich, doch Trieb- und Beiwagen waren jetzt zum Feierabend hin derart überfüllt, dass Galgenberg meinte, ohne Gebrauch seiner Dienstwaffe würden sie kaum mitkommen. «Wen soll ich denn …?»

«Galgenberg!», ermahnte ihn Dr. Kniehase. «Nicht in aller Öffentlichkeit!»

«Na, wenn ick erst zu Hause bin, nützt et doch nüscht mehr.» Erst beim dritten Versuch gelang es allen dreien mitzukommen. Galgenberg stand zwar nur auf dem Trittbrett, und Kappes Nase wurde beim Drängeln vom Kamerastativ so eingedrückt, dass sie blutete, aber es ging. Lange zu fahren hatten sie ja nicht.

Röddelins Kolonialwarenladen war unschwer zu finden, die gaffende Menge zeigte ihnen, wo sie hinmussten. Die Kollegen von der Schutzpolizei waren bemüht, den Tatort weiträumig abzusperren. Es roch nach Gas. Offensichtlich waren Rohre zerstört worden, und man fürchtete eine Explosion. Männer von der Gasanstalt wuselten herum. Die Feuerwehr hatte Akkumulatoren herbeigeschafft und Scheinwerfer angeschlossen, so dass für eine ausreichende Beleuchtung gesorgt war. Elektrisches Licht hatten im Kiez um den Boxhagener Platz herum nur wenige.

Ein Schupo versperrte ihnen den Weg. «Für Leute vom Fülm is hier keen Platz!»

«Für Leute aus ’m Mustopp ooch nich», sagte Galgenberg und schob den Mann beiseite. «Wir sind vonne Mordkommission.»

«Entschuldijung, et war ja nich so jemeint.»

Kappe wäre es lieber gewesen, sie hätten hier tatsächlich nur einen Film zu drehen gehabt und der Tote wäre nur vom Maskenbildner so schrecklich zugerichtet worden. In seinen bislang sechs Jahren bei der Berliner Kripo hatte er schon viele Leichen gesehen, aber niemals so dicht vor einem Zusammenbruch gestanden wie heute. Der Kolonialwarenhändler war von der Handgranate regelrecht zerfetzt worden. Sie musste direkt vor seinen Füßen explodiert sein. Ein Bein war ihm abgerissen worden. Gesicht und Brust waren nur noch als rohe Fleischklumpen auszumachen.

Kappe flüchtete sich hinter ein Feuerwehrauto, um sich zu erbrechen.

«Da haben wir ja Verdun mitten in Berlin», hörte er, als er in den Laden zurückkehrte, nun auch Dr. Kniehase sagen.

«Da hat eener janze Arbeit jeleistet», stellte Galgenberg fest. Das bezog sich auf den Zustand von Erich Röddelin wie die Einrichtung seines Geschäfts. Im Fußboden klaffte ein gewaltiges Loch. Einige Dielenbretter waren total zerstört worden, andere ragten bizarr in die Luft. Was auf den Regalen gestanden hatte, war durch den Druck der Explosion heruntergefegt worden. Mehlstaub lag auf allem, Marmeladengläser waren zerplatzt, und Gurkenfetzen schmückten das Ganze. Die Schaufensterscheibe war herausgeflogen.

Dr. Kniehase balancierte zwischen den Trümmern und suchte nach den Resten der Handgranate. Ihr Typ konnte vielleicht einen Hinweis auf den Täter geben. Kappe und Galgenberg standen ein wenig hilflos herum. Was blieb ihnen, als nach Augenzeugen zu suchen und zu fragen, wer was beobachtet hatte?

Sie bewegten sich auf die Menge zu, die sich hinter den Absperrungen versammelt hatte, und Galgenberg fragte, ob jemand den Täter gesehen habe.

«Nee, wir ham nur jehört, wie et jeknallt hat.»

Eine Portiersfrau aus dem Nachbarhaus platzte damit heraus, dass Erich Röddelin ein ziemlicher Schubiak gewesen sei. «Der hatte mehr Feinde als Haare uff ’m Kopp, weila die Leute beim Abwiegen imma beschissen hat. Harthertzig wara ooch, nie hatta anschreim lassen, da konnten die Leute vahungan.»

«Ja, so isset jewesen, det kann ick uff mein Eid nehm!», rief der Mann, der neben ihr stand.

«Und was ist mit Röddelins Frau?», fragte Kappe.

«Die hat ’n Nervenzusammenbruch jehabt und liegt im Krankenhaus.»

«Da wird sie auch noch morgen liegen», murmelte Kappe.

«Mir geht’s nicht gut, ich will nach Hause.»

Dr. Kniehase fühlte sich bei der «Morgenandacht» in den Räumen der Mordkommission in seinem Element, war wieder ganz der Dozent, der er jahrelang an der Artillerie- und Ingenieurschule gewesen war. In der Nacht hatte er kaum Schlaf gefunden, dennoch war ihm keine Müdigkeit anzumerken.

«Wie gesagt, die Explosion einer Handgranate in einem geschlossenen Raum ist zumeist für alle sich im Wirkungsbereich befindlichen Personen tödlich. Wir können im Falle Erich Röddelin davon ausgehen, dass der Täter die Handgranate von der Straße aus durch die offene Tür in den Laden geworfen hat, sozusagen um die Ecke, um sich dann fluchtartig zu entfernen. Genug Zeit hatte er … Wir unterscheiden grundsätzlich zwischen offensiven Granaten und defensiven Splittergranaten. Offensive Granaten haben einen vergleichsweise kleinen, unterhalb der Wurfweite liegenden Gefahrenbereich, was es dem Anwender ermöglicht, sie ohne eigene Deckung einzusetzen. Sie werden für das Eindringen in feindliche Stellungen verwandt und wirken vor allem durch die Druckwelle ihrer Sprengladung. Wir unterscheiden ferner zwischen aufschlagzündenden und zeitzündenden Werkzeugen.»

«Werkzeuge», murmelte Kappe. Es war schon pervers, Handgranaten als Werkzeuge zu bezeichnen: Werkzeuge zum Töten.

«Aufschlagzündende Handgranaten haben den Vorteil, dass der Gegner der Waffe nicht ausweichen und sie nicht zurückschleudern kann. Bei den Engländern haben wir Handgranaten gefunden, da war aufgedruckt: Pull the ring and throw …, und handschriftlich war hinzugefügt: … it to your comrade

«Diese Sprache möchte ich in unseren Räumen nicht hören», sagte Waldemar von Canow.

«Pardon.»

«Und Französisch auch nicht, Herr Dr. Kniehase.»

Kappe wusste nicht, ob sein Vorgesetzter das ironisch gemeint hatte, es schien ihm aber nicht so.

Dr. Kniehase jedenfalls achtete nun auf die Reinheit seiner Sprache. «Geworfen worden ist im Falle Röddelin keine Eierhandgranate, sondern eine Stielhandgranate, im Volke Kartoffelstampfer genannt, wie sie von unserer Industrie millionenfach hergestellt wird. Bei dieser Handgranate ist der Sprengkopf an einen breiten Holzstiel angeschraubt. Dieser wirkt wie ein Hebel und verstärkt die Kraft des Wurfarms, so dass größere Wurfweiten als bei der Eierhandgranate erzielt werden. Der Zeitzünder ist im Stiel untergebracht. Wir gehen von einer Verzögerung von acht bis zehn Sekunden aus. Am unteren Ende des Stiels befindet sich, normalerweise durch eine abschraubbare Kappe geschützt, die Abreißschnur für den Reibungszünder mit der daran befestigten Perle.»

«Lassen Sie’s damit gut sein», mahnte von Canow.

«Sehr wohl … Sich eine solche Stielhandgranate widerrechtlich anzueignen, in einer Kaserne, auf dem Schlachtfeld oder in der Fabrik, dürfte für den Täter in diesen Zeiten nicht schwer gewesen sein.»

«Sie machen uns ja Mut!», rief von Canow. «Das ist geradezu defätistisch.»

«Diesen Ausdruck aus dem Französischen weise ich mit Nachdruck zurück!», rief Dr. Kniehase.

«Ende der Besprechung», sagte von Canow. «An die Arbeit, meine Herren!»

Das taten Hermann Kappe und Gustav Galgenberg dann auch und machten sich auf den Weg zu Dorothea Röddelin. Die war inzwischen, wie man am Telefon erfahren hatte, aus dem Krankenhaus entlassen worden und hatte erst einmal bei ihrer Schwester, einer gewissen Amanda Nieswandt, Quartier genommen. Deren Adresse war schnell in Erfahrung gebracht, da sie einen Seifenladen auf der Neuköllner Seite des Kottbusser Damms betrieb.

Wieder setzten sich die beiden Kriminalbeamten in die Straßenbahn, denn die U-Bahn zwischen dem Gesundbrunnen, dem Alexanderplatz und der Stadt Neukölln, ehemals Rixdorf, existierte bislang nur auf dem Reißbrett. Zwar hatte man, das heißt die AEG, schon 1913 mit ihrem Bau begonnen, nach Beginn des Krieges aber waren die Arbeiten eingestellt worden.

Als sie im Seifenladen ankamen, lag Dorothea Röddelin dort hinten im Wohnzimmer auf einer Chaiselongue und hatte einen mit kaltem Wasser getränkten Waschlappen auf der Stirn liegen. Galgenberg, der so etwas wie kein Zweiter konnte, sprach ihr das tiefempfundene Beileid aller Kriminalbeamten aus und versprach ihr, dass man alle Kraft aufwenden würde, um den Mörder ihres Mannes zu finden.

Obwohl ihre Tränen ihn anrührten, hielt sich Kappes Mitleid mit Dorothea Röddelin in Grenzen, denn zu unsympathisch wirkte sie auf ihn. In der Waldemarstraße nannte man Frauen wie sie eine «fette Wachtel». Sicherlich war sie in der Glatzer Straße nicht eben beliebt. Kappe konnte sich lebhaft vorstellen, was die Leute über sie sagten: «Die ist volljefressen, und wir hungan.» –

«Klar, die frisst uns allet weg, die kriegt den Schlund ja nie voll jenug.» - «Ihr Oller bescheißt uns beim Abwiegen und zweigt von allet, watta jeliefert bekommt, für seine Olle wat ab, damit die dick und fett wird.»

Aber beim Gespräch mit ihr durfte er sich auf keinen Fall von seinen Gefühlen leiten lassen, und um dem entgegenzusteuern, war er besonders freundlich.

«Wir können Ihren Schmerz verstehen, Frau Röddelin, und wollen nicht alles wieder aufrühren, was gestern passiert ist, aber vielleicht haben Sie etwas gesehen, was uns weiterbringt … wer der Täter gewesen sein könnte?»

«Wer es war?» Die Röddelin richtete sich auf und nahm den Waschlappen von der Stirn. «Na, sicher dieser Lork, der vorher durchs Schaufenster reingeguckt hat.»

«Lork», wiederholte Kappe und schrieb das in sein Notizbuch. «Und kennen Sie auch seinen Vornamen?»

Dorothea Röddelin sah ihn böse an. «Sie kommen wohl nicht aus Schlesien, wie?»

«Nein, aus der Mark Brandenburg.»

«Ein Lork ist ein Miststück», belehrte ihn die Röddelin keuchend. «Also … Ich gehe in den Laden, um meinem Mann zu sagen, dass gleich Feierabend ist. Da sehe ich draußen einen Kerl stehen und reingucken. Ganz neugierig, die Nase fast an die Scheibe gepresst. Als er mich sieht, geht er weiter. So eine Visage, wie der gehabt hat … So richtig wie ein Neandertaler hat er ausgesehen. Und in der Hand hat er auch was gehalten. Ich habe gedacht, das ist ein Ball oder ein großer Apfel, aber das muss die Handgranate gewesen sein. Ich bin dann in die Küche, um Kließla zu machen, weil mein Mann ganz nerrsch nach Klößen ist, da knallt es draußen und …» Wieder brach sie in Tränen aus.

Kappe ließ ihr Zeit, sich wieder zu fangen. «Dieser Mann, der kurz vor Ladenschluss vor Ihrem Schaufenster gestanden hat, den kennen Sie also?»

«Ja, das ist einer vonne Kommunisten, die uns alle abschaffen wollen, ein ganz übler Bursche. Den hätten Sie schon längst ins Gefängnis stecken sollen!»

«Den Namen kennen Sie aber nicht?», fragte Galgenberg.

«Doch, natürlich kenne ich den: Ernst Bergmann heißt der. Der hat schon letzten Oktober Morddrohungen gegen meinen Mann ausgestoßen, ich kann Ihnen sagen!»

Kappe erinnerte sich an die sogenannten Lichtenberger Butterkrawalle, die sich am 16. Oktober 1915 bis zum Wochenmarkt am Boxhagener Platz ausgebreitet hatten. Was die Frau sagte, klang also plausibel.

Gott sei Dank, sie hatten eine heiße Spur.

Nach Verdun

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