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Das Petschaft und der Abakus Quellen des DDR-Deutsch

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Die sprachliche Ausgangslage war nach dem Ende der NS-Diktatur überall in Deutschland gleichermaßen schlecht. Noch lange nistete die von Viktor Klemperer so benannte LTI (Lingua Tertii Imperii, die Sprache des Dritten Reiches) in den Köpfen, und aus manchen verschwand sie nie. Auch im DDR-Deutsch hinterließ das NS-Deutsch seine unguten Spuren. Dass mit einer gewissen Kontinuität wieder linientreue 150-Prozentige und Mitläufer mit einem Bonbon am Revers Propaganda machten, fiel den Menschen anfangs durchaus auf. Die Doppelbedeutung von Wörtern wie organisieren oder aufziehen blieb ebenfalls erhalten. Bald wählte man wieder spontan eine Einheitsliste, und die Jugend – soweit nicht arbeitsscheu und dem Rowdytum verfallen – versammelte sich unter Wimpeln und in Kluft zu Heimabenden und Fahnenappellen, Fackelzügen und Gelöbnissen, die zur alten wie zur neuen Weltanschauung samt Gesinnung gehörten. In den ersten Befehlen der Sowjetischen Militäradministration (SMAD) kamen die Begriffe ausrotten und liquidieren vor, und Walter Ulbricht sprach von Entarteter Kunst.

Manche Begriffe sind älter als die LTI, zählten jedoch zu deren bevorzugtem Vokabular. Der deutsche wurde im offiziellen Schriftverkehr durch den sozialistischen, unter ausgewählten Genossen gar kommunistischen Gruß ersetzt, und die Werktätigen der DDR trugen noch lange das 1935 eingeführte Arbeitsbuch in der Tasche. Selbst der (Klassen-)Gegner – in der Endzeit der DDR war von einem Feindbild die Rede – galt nach wie vor als plutokratisch und Objektivismus als eine Todsünde. Es wurden wieder heldenmütig Ernteschlachten geschlagen, der Sozialismus schritt sieghaft voran, und national wurde zunehmend auf die DDR angewendet.

In der Bürokratie wie in der Ideologie scheute man sich nicht, auf altdeutsches Sprachgut zurückzugreifen. Zwar gab es keine Beamten und kein Reich mehr, wohl aber die Deutsche Reichsbahn samt MITROPA. Ordens- und Titelsucht feierten fröhliche Urständ. Das Petschaft (in der DDR: die Petschaft), mit dem Wertgelasse, Panzerschränke und Büroräume gesiegelt wurden, galt als Daseinsbeweis mittlerer und höherer Kader.

Der Veteran kam im Arbeiter-, Partei- oder im Veteranenklub zu neuen Ehren, Armee, Betriebe und Schulen richteten Traditionskabinette ein. An den Universitäten tummelten sich Magnifizenzen, Dekane und Aspiranten, und auf die facultas docendi statt der schlichten Lehrbefähigung wurde Wert gelegt. Im Gesundheits- und Bildungswesen streute man großzügig Ehrentitel wie Sanitäts- und Oberstudienrat, und noch dem letzten Postgehilfen wurde ein Dienstrang attestiert.

In vielen Industrie- und Wirtschaftszweigen überlebte Überkommenes: das Vervielfältigungsverfahren Ormig beispielsweise oder die Kerb-Lochkarte, mit der selbst die Staatssicherheit lange hantierte. Die kümmerte sich z. B. zunehmend um den ausufernden Funkschutz im Nachrichtenwesen, den die Nationalsozialisten nach kommunistischen Anschlägen auf die Übertragungswege des Rundfunks erfunden hatten. Auch der Störsender war nicht neu.

Eine dritte, besonders munter sprudelnde Quelle sprachlicher Beeinflussung stellte in ganz Deutschland die Anwesenheit der Besatzungsmächte dar. Während sich der Westen bedenkenlos den Anglizismen ergab, ließ sich der Osten mit Substantivierungen, endlosen Genitivfolgen und bizarren Slawismen überschwemmen, von denen die meisten ebenfalls einen angloamerikanischen oder romanischen Ursprung haben: Dispatcher, Kombine und Kombinat, Brigade und Brigadier, Estrade und Magistrale, ja selbst das Territorium, die Organe und die vielzitierten Kader. Über das Russische gelangten Objekt und Aktiv, der Fakt(or), die Fonds, die Diversion und der Diversant, die Direktive und das Kollektiv, das Ambulatorium und der Stomatologe, die Initiative samt Prämie, das Normativ, die Havarie und die Kooperative, der Traktorist und der Agronom, Valuta, Rekonstruktion und Perspektive sowie die Universalvokabeln komplex und operativ in den ostdeutschen Sprachgebrauch, in dem die feierliche Manifestation, das Festival, die Estrade und das Ensemble zu neuem Ruhm aufstiegen. Kontor, das alte Wort für Büro, kehrte aus dem Osten heim. Sportvereine hießen (und heißen) nach sowjetischem Vorbild Dynamo, Motor, Traktor, Energie oder Turbine.

Die Zahl der tatsächlich aus dem Russischen stammenden Wörter blieb dagegen gering. Wodka, Datsche, Soljanka und Sputnik zumindest kannte jeder so gut wie den Unterschied zwischen Astronaut und Kosmonaut. Letzterer wohnte nicht irgendwo auf der Kolchose, sondern im Sternenstädtchen und aß dort Schaschlik, Borschtsch oder Pelmeni.

Eine freiwillige Arbeitsschicht am Sonnabend hieß seit Lenins Zeiten Subbotnik, ein Timurtrupp waren helfende Junge Pioniere, und eine Feier artete manchmal zum Prasdnik aus. Rabotten verstand jeder, wollte aber keiner, da konnte der Natschalnik (Vorgesetzte) noch so oft dawai (vorwärts) rufen. Der war bloß ein Apparatschik. Arbeiten konnte man an der BAM, der Baikal-Amur-Magistrale, oder an der Trasse, der Erdölleitung Drushba (Freundschaft).

Dass es sich bei der Wandzeitung, beim Wettbewerb und beim Gegenplan, ja selbst bei der Anrede Bürger um Übersetzungen aus dem Russischen handelte, wussten wahrscheinlich die wenigsten Ostdeutschen, beim weitverbreiteten Rat (der Stadt, des Kreises o. Ä.) ist das so ungewiss wie beim Politbüro und beim Zentralkomitee. Zwei-, Vier- und Fünfjahr(es)pläne gab es bei Göring wie bei Stalin und in der DDR. Authentisch russisch ist die Herkunft der selbstgewählten Berufsbezeichnung Tschekist für einen Angehörigen des MfS. Die gefürchtete sowjetische Tscheka und ihre Nachfolgeorgane waren ein besonders abscheulicher Terrorapparat. Der DDR-Euphemismus Kundschafter für Agenten im auswärtigen Einsatz stammt hingegen aus dem Mittelhochdeutschen.

Da es im Vaterland aller Werktätigen den Titel Held der Sowjetunion gab, musste eine vergleichbare Auszeichnung für die DDR her. Helden der DDR waren neben dem ersten deutschen Kosmonauten Sigmund Jähn der Vorsitzende des Staatsrats Erich Honecker und – gleich zweimal – der Chef-Tschekist Erich Mielke.

Nicht ganz arglos verging sich der Volksmund an der wenig geliebten Fremdsprache. Lokomotivheizer verfeuerten bis in die 1960er Jahre Kosakenkies oder Stalins Rache, minderwertige Steinkohle aus der Sowjetunion. Später hießen dröhnende Dieselloks Taigatrommel, und die Taiga war überall da, wo sonst nichts war. Der Hauptbuchhalter eines Betriebes hieß Kopekenscheich. Wladimir so ich dir sagte man mit Bezug auf Lenins Vornamen, und Lenins Taschenrechner war ebenfalls bekannt: der Abakus, bis heute Rechengerät im russischen Handel.

Über die zahlreichen sowjetischen Neuerermethoden und vorgeblichen Erfindungen ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben, in die DDR-Sprache ging auf Dauer kaum etwas davon ein. Wer weiß heute noch, wer der Schnelldreher Pawel Bykow war oder worum es sich bei der vielgerühmten Mitrofanow-Methode handelte? Nina Nasarowa, Nikolai Mamai und Sergej Kowaljow hießen weitere werktätige Helden von ephemerem Ruhm. Dass hingegen der Genosse Knipskowski den Lichtschalter und Puschkin die Damentoilette erfunden hätte, behauptete nur der stets vorlaute Volksmund, der dem kurz nach Amtsantritt verstorbenen Generalsekretär Tschernenko unterstellte, er hätte so breite Schultern, weil sein Herzschrittmacher aus der Produktion des VEB Robotron Dresden stamme.

Dass selbiger Volksmund den Sowjetwissenschaften eine gehörige Portion Spottlust entgegenbrachte, war nicht zuletzt auf die niederschmetternden Resultate hochgepriesener Sowjet-Vorbilder zurückzuführen. In den Rinderoffenställen erfroren die Kühe. Nicht einmal der Radiohit Der Mais, der Mais,/wie jeder weiß,/das ist die Wurst am Stengel half da. Die Landwirtschaft erwies sich überhaupt als ungeeignet für so geniale Vorschläge des Scharlatans Lyssenko wie den jarowisierten Weizen. Milder beurteilte das Volk die sagenumwobenen Erfolge des kühnen Pflanzenzüchters Mitschurin, der bekanntlich beim Absturz von einer selbstgezüchteten Erdbeere zu Tode kam. Das war einer der harmloseren Importwitze aus Freundesland, die Anfragen an den Sender Jerewan fielen meist gepfefferter aus. Klang etwas ganz und gar unwahrscheinlich, dann gab es das in keinem Russenfilm, nicht mal im dritten Teil und in bunt.

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