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1.Der Schlüssel zum Erfolg – das Handwerk erlernen
ОглавлениеEs ist ein typischer Februartag. Kalt, nass und grau. Ich steige am Münchner Hauptbahnhof aus dem ICE, fahre mit der U-Bahn zum Marienplatz und gehe die letzten Meter zu Fuß. Mein Ziel: das traditionsreiche Hotel Bayerischer Hof. Ich bin ein bisschen aufgeregt und vor allem bin ich extrem neugierig, was sich hinter dem Leitsatz des mit drei Michelin-Sternen ausgezeichneten Kochs Jan Hartwig »Heute besser sein als gestern und morgen besser sein als heute« verbirgt.
Wir beide sitzen uns im Gourmet-Restaurant ATELIER gegenüber, das zum Hotel gehört. Hier ist Jan Hartwig zu dieser Zeit Küchenchef. Ich kenne Jan und werde ihn daher durchgängig duzen. Auch das Restaurant ist mir nicht unbekannt, weil ich hier bereits schon einige Male zum Essen oder, besser gesagt, zum Schlemmen war. Das Design wurde vom renommierten belgischen Kunsthändler und Interior-Designer Axel Vervoordt geschaffen. Auf der Website des Hotels ist zu lesen, dass es das Flair eines Künstlerateliers mit intimer Atmosphäre hat. Die Tische sind mit frisch gebügelten und gestärkten Tischdecken sowie großen runden Platztellern aus Stein eingedeckt und das Restaurant hält damit, was es verspricht: luxuriös und schlicht.
Gäste sind keine hier, dafür ist es noch viel zu früh. Es ist später Vormittag und das Restaurant öffnet erst um 19 Uhr seine Türen. Dennoch geht es schon turbulent zu. Nicht nur die Mitglieder der Küchenmannschaft sind bereits auf ihren Posten und kümmern sich darum, dass jeder Gast am Abend ein unvergessliches Menü bekommen wird, sondern auch das Serviceteam ist schon aktiv. Wobei der Service normalerweise »erst« um 14 Uhr startet. Heute steht noch ein Fotoshooting an, deshalb ist auch der Service bereits im Einsatz. Alle bereiten sich mit großer Professionalität und Vorfreude auf die heutigen Gäste vor. Nie zuvor war ich so früh hier, und ich bin zutiefst beeindruckt, welche Arbeiten verrichtet und welche Vorbereitungen getroffen werden, damit am Abend für den Gast auch wirklich alles perfekt ist. Ein Abend im ATELIER ist vergleichbar mit einem großartigen Konzert.
Egal ob es ein Klassik-, ein Rock- oder ein Popkonzert ist: Auch hier werden schon lange vor dem Einlass der Fans große Vorarbeiten geleistet, damit es ein unvergesslicher Abend wird. Die Instrumente werden gestimmt, der Soundcheck wird durchgeführt, das Bühnenbild wird arrangiert … Von alldem bekommt der Konzertbesucher nichts mit, und so geht es auch dem Gast im ATELIER. Vermutlich will auch ein Musiker morgen besser sein als heute, aber was genau versteht Jan Hartwig für sich und sein Team unter diesem Anspruch?
»Für mich ist genau das der Schlüssel zum Erfolg!«, sagt Jan. Er sagt das mit viel Leidenschaft und großer Überzeugung. »Dieses Credo beeinflusst und begleitet mich mit gewaltiger Kraft. Es hat für mich sehr viel damit zu tun, dass man nicht zu weit nach links und rechts schaut, sondern dass man sich auf sich selbst fokussiert. Das ist ein wichtiger Erfolgsfaktor, der meine Karriere so schnell steil nach oben gehen ließ. Ich habe keine Adaptionen gemacht, sondern mich ausschließlich auf mich selbst fokussiert. Immer wieder reflektiere und frage ich mich, was habe ich gestern gut gemacht, was habe ich gestern schlecht gemacht und was kann ich daraus lernen? Dabei schaue ich nicht, was ein anderer besser oder schlechter macht, sondern ich konzentriere mich ausschließlich auf mich. Deshalb ist mir dieser Leitsatz so wichtig für mein Handeln und Denken.«
Im Restaurant EL BULLI bei Ferran Adrià – er gilt als einer der einflussreichsten Köche der Gegenwart und ist Mitbegründer der Molekularküche – hat Jan den Satz zum ersten Mal gehört: »Heute besser sein als gestern und morgen besser sein als heute.«
Er wusste sofort, dass dieser Anspruch das beschreibt, was ihn persönlich als ehrgeizigen und zielorientierten Menschen täglich antreibt. Bei den Eigenschaften ehrgeizig und zielorientiert hat vermutlich jeder sofort ein Bild im Kopf, wie so ein Mensch aussehen mag, der das von sich behauptet. Ich erlebe einen Jan Hartwig, der supersympathisch ist, nicht lange überlegen muss, was er sagt, und mir vermittelt, dass er genau weiß, was er will, und vor allem auch, was er nicht will.
So führt er weiter aus: »In dem Moment, in dem ich mich selbst reflektiere, vermeide ich es auch, neidisch zu sein. Und das macht mich sehr frei. Wenn ich immer nur schaue, was meine Kollegen bekommen haben und was ich bekommen habe oder eben auch nicht, dann ist das nicht zielführend und es bringt mich keinen Schritt weiter.«
Kleiner Exkurs zum Thema Neid
Lieber Leser, lassen Sie uns einen kleinen Exkurs zum Thema Neid machen. Wir alle kennen das Gefühl, neidisch zu sein, und doch geben wir es nicht gerne zu, denn Neid ist nicht gerade eine Tugend und dieses Gefühl bringt uns nicht weiter. Psychologen unterscheiden zwischen drei Arten von Neidgefühlen: Es gibt den destruktiven, den depressiven und den positiven Neid. Betrachten wir an dieser Stelle nur mal den positiven Neid, der am Ende dann doch gar nicht positiv ist: »Diese Art des Neids kann Ehrgeiz wecken und als Ansporn dazu dienen, selbst besser zu werden. Im Prinzip will man sein Gegenüber nicht zerstören, sondern sich selbst neu erschaffen. Allerdings birgt dieser Wunsch die Gefahr, zum Double der Person zu werden, die Sie bewundern.«1
In einem späteren Kapitel dieses Buches begegnet uns noch der Satz: »Wir werden alle als Original geboren, aber viele von uns sterben als Kopie.«
Jan ist sich dieser Gefahr absolut bewusst. Genau aus diesem Grund hat er sich entschieden, nicht neidisch zu sein, sondern die Ärmel hochzukrempeln und jeden Tag sein Bestes zu geben. Nicht nach rechts und links zu schauen, sondern immer noch ein bisschen besser als gestern zu sein. Dadurch genießt er die Unabhängigkeit, er selbst sein zu können.
Eigene Handschrift entwickeln
Diese Freiheit im Denken und Tun haben Jan Hartwig auch die Gastronomiekritiker von Anfang an bestätigt. So etwa der renommierte Gastronomiekritiker und -journalist Jürgen Dollase, der seit 1999 auch regelmäßig gastrosophische Kolumnen und Artikel veröffentlicht. Er attestierte ihm bereits zu Beginn seiner Zeit als Küchenchef im Bayerischen Hof, »dass das, was der Gast dort von ihm bekomme, von hoher Qualität sei«, erinnert sich Jan. Sicher auch hier und da noch ausbaufähig, muss er sich eingestehen. Aber Dollase erkannte zu diesem Zeitpunkt schon an, dass die Menükompositionen des neuen Küchenchefs, kein »Ritz-Carlton-Aqua-Museum«* sind, sondern die ganz eigene Handschrift von Jan widerspiegeln.
Jan stand zu dieser Zeit vor der Herausforderung, dass er seine eigenen Rezepturen, die er als Sous-Chef im Aqua entwickelt hatte, vorerst nicht dem Gast im ATELIER anbieten konnte. Denn sonst hätte es passieren können, dass ein Gast dasselbe Gericht eine Woche später bei Sven Elverfeld im Aqua serviert bekommt. Er hat das Problem ganz pragmatisch gelöst, indem er bewusst Produkte wählte, die es während seiner Zeit im »Ritz-Carlton« nicht oder nur sehr selten gab. Er setzte Kaninchen, Wachtel und Steinköhler auf die Karte, während es bei Elverfeld eher Taube, Seezunge, Lamm und Makrele gab. Alles Produkte, die Jan auch liebt und heute längst wieder in seine Menüs integriert. Doch in seiner Anfangszeit im Bayerischen Hof konnte er mit der Entscheidung, andere Produkte zu verarbeiten als Elverfeld, sicherstellen, dass seine eigene Handschrift vom ersten Tag an deutlich zu erkennen war.
»Eine eigene Handschrift zu entwickeln ist schon schwer genug, sie auch noch jeden Tag auf gleich hohem Niveau umzusetzen, ist noch schwerer. Deshalb ist es für mich extrem wichtig, jeden Tag aufs Neue zu reflektieren und zu schauen, was ich noch verbessern kann. Das muss nicht zwangsläufig die Zubereitung meiner Menüs sein, das kann auch mein Führungsstil innerhalb meines Teams, die Auswahl der Produkte oder der Umgang mit mir selbst sein«, so Jan.
An dieser Stelle habe ich mich gefragt, wann er wohl gemerkt hat, dass er beruflich nicht nur adaptiert, sondern dass er die Marke »Jan Hartwig« ist und dass sein Handwerk einzigartig ist. Ich frage ihn genau das und bekomme zur Antwort:
»Zunächst mal muss ich sagen, dass ich noch lange keine Marke bin. Dazu gehört noch viel mehr, das ist ein langer Prozess. Aber ich weiß, was du meinst. Es ging schon sehr früh los, als ich noch in Wolfsburg war. Es war auch maßgeblich der Grund, warum ich dann gesagt habe, ich möchte nicht mehr nur in der zweiten Reihe stehen, sondern ich möchte das gerne in Eigenregie machen. Um an der Spitze kochen zu können, ist es erst mal wichtig, den Beruf des Kochs ordentlich zu erlernen. Alles, was ich mache, baut auf dieser soliden Ausbildung auf – das ist zunächst mal die Basis und das würde ich auch heute noch jedem Jungkoch dringend raten. Und danach geht jeder seinen eigenen Weg. Es gibt Köche, die kochen in der Autobahnraststätte und machen einen guten Job. Und wenn sie Backfisch mit Kartoffelsalat machen sollen, dann machen sie Backfisch mit Kartoffelsalat. Und wenn sie kreativ sein sollen, garnieren sie noch mit Zitronenspalte und Tomatenschnitz. Und das meine ich gar nicht despektierlich, aber das ist nicht das, was ich mache oder jemals machen wollte. Ich hatte schon früh das Ziel, ein besonders guter Koch zu werden.«
Aber wie wird man ein besonders guter Koch? Jan hat eine solide Ausbildung als Grundlage genannt, und der Managementexperte Jim Collins fügt noch zwei weitere Voraussetzungen hinzu, um zu den Besten zu gehören. Im Wirtschaftsmagazin »brand eins«2 sagt Collins: »Kreativität ist nichts Besonderes. Jeder Mensch hat Fantasie. Wer atmet, ist kreativ. Kreativität ist die unerschöpfliche Quelle, mit der jeder Mensch geboren wird. Kreativität kann es also nicht sein, was die mittelmäßigen von den großartigen Unternehmen unterscheidet. Wertvoll wird Kreativität erst, wenn ich sie mit Disziplin kombiniere.« Er führt das Beispiel von Ernest Hemingway an, der die letzte Seite seines Buches »In einem anderen Land« 39-mal umgeschrieben hat, um sicher zu sein, dass er die treffenden Worte gefunden hat. »Diese wahnsinnige Intensität, mit der jemand seine Kreativität überprüft und in kraftvolle Bahnen lenkt, die macht den Unterschied«, so Collins.
Diese leidenschaftliche Intensität wird uns in diesem Buch noch häufiger begegnen, nicht nur bei Jan. So lesen wir in Kapitel 13 von einem jungen Mann, der mit genau dieser Intensität Kaviar produziert und in die besten Küchen der Welt verkauft. In die besten Küchen Münchens verkauft wiederum der bodenständige Biogärtner Johannes Schwarz seine Produkte. Auch er verfügt über diese wahnsinnige Intensität, wenn er auf der Suche nach den kulinarisch besten Tomaten ist. Doch dazu später mehr in Kapitel 5. Zurück zu Jan:
»Ich habe die Kochlehre nicht absolviert, um meinen Arbeitstag irgendwie hinter mich zu bringen, sondern ich wollte von Anfang an mehr machen. Als dann mein Betrieb während meiner Ausbildung mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde, wollte ich unbedingt in einem Drei-Sterne-Restaurant arbeiten. Als Jugendlicher hatte ich keine Poster von irgendwelchen Popstars oder Fußballprofis an den Wänden hängen. Dafür las ich alles über den Jahrhundertkoch Eckart Witzigmann und den Küchenchef des Tantris, Hans Haas. Jeden Zeitungsartikel über die Lichtgestalten in der Gastronomie habe ich gelesen und gesammelt. Die Kochbücher von Eckart Witzigmann waren für mich so wichtig und interessant wie heute für andere die sieben Bände der Harry-Potter-Reihe.«
Schon an dieser Stelle sei vorweggenommen, dass die beiden Kochlegenden heute nicht mehr aktiv am Herd stehen. Über Eckart Witzigmann werden wir in einem ausführlichen Interview später in Kapitel 8 noch mehr erfahren. Über den ebenfalls außergewöhnlichen Koch Hans Haas ist am Silvestertag 2020 in der tz3 zu lesen, dass er »leise und unaufgeregt« von der Bühne gegangen ist. Der Grund dafür ist, dass der Abschied des Österreichers aus dem aktiven Berufsleben ausgerechnet in den zweiten Lockdown 2020 fiel. Haas war fast 30 Jahre Küchenchef im Tantris, das von Anfang an zwei Sterne hatte.
Jan hat, vier Jahre nach seiner Ausbildung und einigen Zwischenstationen in renommierten und ausgezeichneten Restaurants, 2007 schließlich in Wolfsburg im Restaurant Aqua im Hotel »The Ritz-Carlton« angefangen zu arbeiten. Dieses Restaurant war schon zu jener Zeit mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. 2009 kam der dritte Stern dazu.
Schon nach etwa einem Jahr bemerkte Jan, dass er eigene Ideen hatte und die gerne umsetzen wollte. Sven Elverfeld, seit 2000 dort Küchenchef, bezieht sein Team stets in die Entwicklung neuer Gerichte mit ein und so konnte auch Jan schon früh seine eigenen Vorstellungen einbringen.
»Küchenchef Sven Elverfeld hat mich gefördert und gefordert und dafür bin ich ihm bis heute sehr dankbar. Doch irgendwann habe ich gemerkt, dass es mir nicht mehr reicht, wenn mein Chef zu den Gästen oder Kritikern sagte: ›Das hat mein Sous-Chef gemacht.‹ Ich wollte, dass es auch irgendwo geschrieben steht: ›Dieses Gericht hat Jan Hartwig entwickelt und zubereitet.‹ Ich wusste schon sehr früh, dass ich einen eigenen Stern haben möchte, ein eigenes Feinschmecker-F und eigene Gault&Millau-Punkte – das war seitdem mein Anspruch und Antrieb. Und dazu musste ich mich jeden Tag verbessern und einfach immer ein bisschen besser sein als gestern.«
Bis heute hat Jan nicht in allen Restaurantführern die Höchstbewertung erreicht – auch das spornt ihn täglich an. So fehlt ihm zum Beispiel immer noch ein halber Gault&Millau-Punkt zu den erreichbaren 19,5 Punkten. Aber er hat es sich zum Ziel gesetzt, alle relevanten Gastronomieauszeichnungen mit der höchsten Bewertung zu erfüllen.
Ich frage ihn, ob jeder Sous-Chef in einer Sterneküche das Ziel hat, ein Drei-Sterne-Koch zu werden. »Nein, das glaube ich nicht, sonst gäbe es mehr als die 125 Drei-Sterne-Köche, die es zurzeit* weltweit gibt«, ist Jan sich sicher. Ich will es genauer wissen und frage ihn, ob er glaubt, dass es die »anderen« nicht wollen oder nicht können. Für Jan ist es eine Mischung aus beidem. Er sagt, dass bereits sein Chef während seiner Ausbildung, Jens Dannenfeld, propagiert hat: »Du musst dich bald entscheiden, ob du Häuptling werden willst oder Indianer bleibst. Es gibt Menschen, die sind völlig fein damit, Indianer zu sein. Zum einen, weil sie gar nicht in der Lage sind, Verantwortung zu übernehmen, Kritik anzunehmen, Druck auszuhalten, vor Menschen zu sprechen oder Konflikte zu durchlaufen. Nicht jeder Sous-Chef ist ein guter Häuptling. Für viele ist es der einfachere Weg, zu sagen: ›Ich koche, ich habe Spaß an meinem Beruf, ich kann mich da voll entfalten, aber den Kopf muss jemand anders hinhalten.‹«
Bei Jan war es genau umgekehrt. Wir haben bereits von ihm gehört, dass er schon während seiner Zeit bei Sven Elverfeld festgestellt hat, dass er es nicht akzeptieren wollte, für immer in der zweiten Reihe zu stehen. Für ihn war klar, dass er ganz nach vorne will.
Ein Drei-Sterne-Koch braucht erst mal einen Herd
Jan führt aber noch weitere Gründe an, warum nicht jeder das Ziel hat, ein »Häuptling« zu werden. »Indianer zu bleiben hat manchmal auch damit zu tun, dass sich Situationen und Lebensumstände ändern. Ein Grund könnte zum Beispiel sein, dass eine Familie gegründet wird und die dann im Mittelpunkt steht.«
Und nicht jeder, der das Ziel hat, Drei-Sterne-Koch zu werden, erhält auch die Möglichkeit dazu. »Er kann noch so brillant kochen, wenn er nicht selbst viel Geld in die Hand nimmt und sich selbstständig macht, dann braucht er jemanden, der ihm diese Bühne zur Verfügung stellt.«
Für Jan bot sich die Chance, nachdem er sieben Jahre im Team von Sven Elverfeld gekocht hatte. »Im Mai 2014 war es dann so weit: Mir wurde eine Chance geboten und ich ergriff sie. Ich wurde Küchenchef im ATELIER und nun konnte und musste ich zeigen, was ich kann. Meine Chefin, Innegrit Volkhardt, seit 1994 die Geschäftsführende Gesellschafterin des Bayerischen Hofs, schenkte mir ihr Vertrauen und ließ mich gewähren. Auch hier begegnete mir wieder eine Atmosphäre des Förderns und Forderns, wenn auch anders als bei Sven Elverfeld. Klar, denn jetzt war ich ja bereits eine Stufe höher. Nun konnte ich endlich meine eigene Handschrift entwickeln und es stand auch noch Jan Hartwig darunter. Als ich die Führung übernahm, hatte das ATELIER bereits einen Stern, den ich nun verteidigen musste. Diesen zu verlieren, wäre mir richtig unangenehm gewesen – vor dem Haus und vor mir selbst. Das war für mich Druck und Ansporn zugleich.«
Man muss hierbei wissen, dass ein Michelin-Stern nie dem Küchenchef gehört, sondern immer dem Restaurant, dem er verliehen wurde, und er bleibt auch dann, wenn der Küchenchef das Restaurant verlässt. Aber natürlich immer nur bis zur nächsten Bewertung, die jährlich vorgenommen wird.
Jan hatte das große Glück, dass er seinen Wechsel vom Aqua in Wolfsburg in den Bayerischen Hof in München sehr offen mit seinem damaligen Chef, Sven Elverfeld, besprechen konnte. »Sven ist ein ganz großer Gönner. Ich habe noch nie gehört, dass er über einen Kollegen schlecht gesprochen hat oder einem seiner Zöglinge Steine in den Weg gelegt hätte. Er hat ganz großartig reagiert und mich darin bestärkt, meinen eigenen Weg zu gehen. Da wurde auch nicht auf die Einhaltung einer Kündigungsfrist gepocht, und deshalb ging es dann auch recht schnell.«
Im Mai 2014 begann also seine Karriere im Bayerischen Hof. Das war eine ganz spezielle Situation, die ihn dort erwartete. Er war zu diesem Zeitpunkt nicht nur Küchenchef des damals Ein-Sterne-Restaurants ATELIER, sondern auch verantwortlich für die Küche des zweiten Hotelrestaurants »Garden«. Und somit auch zuständig für die Speisen, die in der Lobby bestellt wurden, für den Room-Service und die Snacks, die in »falk’s Bar« angeboten wurden. Das bedeutete, dass es keine räumliche Trennung gab. Alles kam aus einer Küche und es wurde täglich in drei Schichten gearbeitet.
Jan erzählt mir, dass es eine absolute Herausforderung für das Team und auch für das Material ist, wenn eine Küche nie zum Stillstand kommt. »Die Herausforderung besteht insbesondere in der Übergabe. Zum Beispiel, wenn Kollege A freihat und Kollege B gerade aus zwei Ruhetagen zurückkommt. Dann sind ein Übergabeprotokoll und eine kleine Inventur extrem wichtig, damit Kollege B einen schnellen Überblick hat. Er weiß dann genau, was er machen muss, was er bestellen muss, was noch reicht, was zur Neige geht oder ganz fehlt. Wenn Kollege A das gut macht, dann findet Kollege B im Idealfall einen tollen Posten vor. Aber so verschieden, wie die Menschen nun mal sind, macht es nicht jeder so, und genau darin liegt das Problem«, schildert Jan.
Wir können uns ausmalen, wie das dann weitergeht. Kollege A hat die Übergabe nicht so gewissenhaft vorbereitet. Kollege B kommt dadurch in Schwierigkeiten, das löst Frust bei ihm aus und beim nächsten Mal macht er sich auch nicht mehr die Mühe, eine ordentliche Übergabe zu gewährleisten. Letztendlich geht es immer zulasten des Gastes.
Jan betont noch mal, dass es weder für ihn noch für sonst jemanden aus seinem Team ein Problem ist, ein Club-Sandwich oder einen Wurstsalat zuzubereiten, aber die Zusammenarbeit im Team leidet darunter, wenn eine Küche nicht zur Ruhe kommt.
Obwohl Jan sehr gut vernetzt war, fiel es ihm unter diesen Voraussetzungen schwer, geeignete Mitarbeiter zu finden, um sich ein eigenes exzellentes Team aufbauen zu können. Für einen Koch im ATELIER bedeutete es ja, nicht nur auf Sterne-Niveau zu kochen, sondern auch noch das bereits erwähnte klassische Club-Sandwich für den Gast in der Lobby zuzubereiten. Das war nicht für jedermann erstrebenswert. Jede Serviceeinheit musste gut organisiert und bestmöglich bedient werden, zeitgleich musste im ATELIER der Stern des Restaurants verteidigt werden.
Heute wissen wir, dass Jan den Stern sehr souverän verteidigt hat. Und ein Jahr später hatte er bereits den zweiten Michelin-Stern erkocht unter den oben beschriebenen Bedingungen.
Der gelungenen Kombination aus der Zielorientiertheit von Jan Hartwig und dem Visionärsgeist von Innegrit Volkhardt ist es zu verdanken, dass im Sommer 2015 die Küchen getrennt wurden. Von nun an konnte Jan sich einzig und allein auf das Sternerestaurant ATELIER konzentrieren. Das führte dazu, dass seine Arbeit auch im Folgejahr wieder mit zwei Sternen belohnt und er seit 2018 jedes Jahr mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet wurde.
Für alle Nicht-Insider der Szene: Es gibt zurzeit in Deutschland 259 Küchenchefs, die mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet sind. 41 Restaurants dürfen sich mit zwei Michelin-Sternen präsentieren, und nur zehn Restaurants und Küchenchefs tragen hierzulande drei Michelin-Sterne. Weltweit sind es gerade mal 125 Restaurants – davon aber allein zehn Drei-Sterne-Restaurants in der französischen Hauptstadt. Das bedeutet, in Deutschland müssten wir von Hamburg zum Tegernsee reisen, wenn wir zehn Drei-Sterne-Restaurants besuchen wollten. Wohingegen es in Frankreich reicht, einmal durch Paris zu fahren, um die gleiche Anzahl an Drei-Sterne-Restaurants erleben zu können.*
Die Presse feierte Jan wie einen Star, als bekannt wurde, dass er nach 23 Jahren die drei Sterne wieder in die Bayerische Landeshauptstadt geholt hatte. Denn die gab es seit Eckart Witzigmann, der sein Restaurant Aubergine am Münchner Maximiliansplatz bis 1994 betrieb, nicht mehr in München. Aus diesem Grund haben nicht nur die Journalisten der Fachmedien wie Feinschmecker, Rolling Pin und falstaff den neuen Drei-Sterne-Koch bejubelt, sondern auch zahlreiche renommierte Tageszeitungen wie der Münchner Merkur, die FAZ oder die Süddeutsche Zeitung, um nur einige zu nennen. Sie alle titelten am 15. November 2017 euphorisch über den dritten Stern in München. Das war auch der Internetausgabe der Bayerischen Staatszeitung eine Berichterstattung wert, denn seitdem beheimatet Bayern wieder zwei Drei-Sterne-Restaurants (das Restaurant Überfahrt von Christian Jürgens in Rottach-Egern ist das andere Drei-Sterne-Restaurant in Bayern).
Der Direktor des Guide Michelin Deutschland / Schweiz, Ralf Flinkenflügel, bezeichnete den neuen Drei-Sterne-Koch Hartwig damals als »Shooting-Star der Szene«. »Hartwig hat erst vor zwei Jahren den zweiten Stern bekommen. Er ist nun an einem Punkt angekommen, dass er nicht nur in Deutschland, sondern auch in der internationalen Küche zur absoluten Spitze gehört«, sagte Flinkenflügel in der Augsburger Allgemeinen im November 2017. Weiter heißt es: »Seine Küche hat Tiefgang und Charakter.«4
In der FAZ stand im November 20175 unter der Headline »Auf zu den Sternen – Schnell hoch drei« über den frischgebackenen Drei-Sterne-Koch Jan Hartwig: »[…] Sein Berufswunsch stand schon früh fest, etwa im Alter von 6 Jahren. […] Und er findet eine Balance aus Selbstbewusstsein und Demut, Individualität und Kollegialität, Ehrgeiz und Gelassenheit, die der Garant ist für eine brillante Küche. […] Die Jan-Hartwig-Küche ist inspiriert – wird aber nicht dominiert – von der Stilistik seiner Lehrer, respektiert den Katechismus der französischen Haute Cuisine, ohne ihn wie einen Rosenkranz herunterzubeten, bedient sich der Aromenschatztruhe der weiten Welt und kreiert trotzdem kein austauschbares Geschmacks-Multikulti auf dem Teller […].« Dieser nur kleine Ausschnitt aus der FAZ untermauert die bereits beschriebene Freiheit, die Jan in seinem Denken und Tun zum Ausdruck bringt.
Fast auf den Tag genau ein Jahr später erschien wiederum in der FAZ6 ein ausführlicher Artikel über Jan mit der Headline »Baumeister Jan spielt nicht mehr mit Lego«. Diese Überschrift bezieht sich darauf, dass unser Drei-Sterne-Koch, als er noch ein Kind war, sich im Spielen mit Legosteinen verlieren konnte. Er wird zitiert, dass er »heute die Welt der Kulinarik als unerschöpfliche Spielkiste voller Bausteine, die er nach Lust und Laune zusammensetzt«, betrachtet. In einer ausführlichen Berichterstattung wird der Werdegang von Jan beschrieben und sein Weg als »Karriere voller Zwangsläufigkeiten« dargestellt. »Der Jubel ist groß, die Freude noch größer, und für Jan Hartwig schließt sich auf schicksalhafte Weise der Kreis seiner Lebens- und Familiengeschichte.«7
Was genau ist denn hier mit der Lebens- und Familiengeschichte gemeint? Jan erzählt immer wieder, dass er bereits als kleiner Junge wusste, dass er Koch werden wollte. Er wuchs gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Lars im Landkreis Peine auf. Sein Vater, ebenfalls gelernter Koch, betreibt heute noch mit Jans Mutter ein Waldgasthaus im niedersächsischen Adenstedt, dem Ort, in dem Jan eingeschult und groß geworden ist. Seine Eltern lebten den beiden Söhnen bereits früh vor, was Kulinarik bedeutet.
Die FAZ greift auf die Geschichte zurück, die ein schönes Beispiel dafür liefert, was Jan bereits als Kind erfahren und erlebt hat. »Bis heute erzählt Hartwig mit leuchtenden Augen, wie sein Vater eines Tages alles Ersparte zusammenkratzte, mit seinem Kleinwagen nach München fuhr, im legendären Drei-Sterne-Restaurant Tantris aß, sich den ganzen Abend lang nur eine Flasche Wasser leisten konnte und noch in derselben Nacht zurückkehrte.«8
Sein Vater, so sagt Jan, hat ihm immer schon vorgelebt, dass der Beruf des Kochs etwas ganz Besonderes ist und deshalb auch erstrebenswert. Im Gegensatz zu anderen Eltern, die ihren Kindern raten, »mach etwas Anständiges, geh auf keinen Fall in die Gastronomie«, vermittelte ihm sein Vater, dass die Arbeit eines Kochs kreativ, spannend und erschaffend ist. So fand er es schon im Alter von vier, fünf Jahren großartig, seinem Vater zu helfen.
Jan verheimlicht an anderer Stelle aber auch nicht, dass er während eines Schulpraktikums in den Sommerferien 1997 den Traum, Koch zu werden, fast aufgegeben hätte. Aber glücklicherweise nur kurzzeitig. Seine Social-Media-Follower kennen die Geschichte unter der Überschrift »Der Mettklößchen-Vorfall«.
Auslöser war ein heißer Sommertag und alle seine Kumpels waren im Freibad oder im Urlaub, während er im Keller einer Restaurantküche in Peine stand und eine Arbeit verrichten musste, die ihm nicht zusagte. Er musste an diesem Nachmittag, während der Geselle »Zimmerstunde hatte«*, 2000 Mettklößchen formen. Die Masse schien kein Ende zu nehmen und die Klößchen wurden am Ende immer größer. Diese Arbeit war für ihn monoton und langweilig. An diesem Tag stellte er seinen Plan, eine Kochausbildung anzustreben, kurzzeitig infrage. Doch wie gesagt, es war nur eine kurze Momentaufnahme, und er hat schnell gelernt, dass auch in seinem Beruf nicht alles gleichermaßen Spaß macht.
Kommen wir noch mal zu dem schon genannten Artikel in der FAZ zurück. Da ist zu lesen, dass Jan sich noch lange nicht am Ziel sieht und dass er »nichts mehr verabscheut als den Stillstand und nichts mehr mag als den Wandel«.
Jan verrät mir in diesem Zusammenhang, dass ihm schnell langweilig wird. Wenn er ein Gericht entwickelt hat, dauert es noch eine Weile, bis es so im Detail perfektioniert ist, dass es auf die Karte gesetzt werden kann. Wenn dieser Gang dann zum ersten Mal einem Gast serviert wird, ist es für ihn, den Küchenchef, fast schon wieder langweilig. Um im Bild der Legosteine zu bleiben: Er würde am liebsten die Steine wieder abbauen und in einer neuen Konstellation etwas anderes erschaffen.
In dem Artikel der FAZ heißt es weiter: »Er sei ein Handwerker, sagt Hartwig, und mache nichts anderes, als die Dinge ständig auf die Spitze zu treiben. Deswegen lässt sich seine Küche kaum kategorisieren. Sie unterwirft sich keiner Mode, pfeift auf alle Dogmen und verliert sich trotzdem nicht in Beliebigkeit, weil Hartwigs Virtuosität sämtliche Fragen nach Etiketten sofort verstummen lässt.« Es geht auch hier wieder um die Freiheit im Denken und Tun, die Jan für sich deklariert hat und von der wir jetzt bereits zum wiederholten Mal lesen.
Der Autor dieses Artikels, Jakob Strobel y Serra, beschreibt Jan und seine Arbeit, als wenn er einen Maler und ein großes Kunstwerk beschreiben würde. Der Drei-Sterne-Koch wird in dem Artikel zum »feinmotorischen Aromenarchitekt von Gottes oder wessen auch immer Gnaden«. Begründet wird dies mit der Art und Weise, wie Jan eine australische Gelbschwanzmakrele anrichtet. Aber lesen Sie selbst: »Auf eine australische Gelbschwanzmakrele drapiert er eine pergamentfeine Kohlrabischeibe, die sich zärtlich wie eine Liebende an den Fisch schmiegt, dekoriert dieses Tête-à-Tête mit Fliegenfischkaviar und Fenchelgrün, Kresse und Chrysanthemenblüten, Zitronenzesten und dem notorischen Geschmackstotschläger Dill, der bei Hartwig sensationell erfolgreich resozialisiert wird. […] ein Gericht wie eine Hommage an die klassische Haute Cuisine, das aber trotz seines Traditionalismus nichts Altväterliches hat, weil Hartwigs Handschrift auch hier unverkennbar ist: die Versöhnung von Kraft und Finesse, der Verzicht auf jede Effekthascherei, die Verneigung vor der Qualität des Produktes, die Perfektionierung jedes einzelnen Details.«9
Die Zitate aus den beiden FAZ-Artikel wollte ich Ihnen nicht vorenthalten, zeigen sie doch, wie das Handwerk des Sternekochs dem der Künste – sei es Musik oder Malerei – ähnelt.
Jetzt möchte ich aber noch einmal näher beleuchten, was es bedeutet, eine eigene Handschrift zu haben. Bei Jan ist die eigene Handschrift zunächst einmal das Visuelle.
Branding – der Hartwig-Kreis
Viele sprechen im Zusammenhang mit der »eigenen Handschrift« bei Jan vom sogenannten Hartwig-Kreis. Ich frage bei ihm nach, was darunter zu verstehen ist.
»Ich richte die Speisen häufig im Kreis auf den Tellern an, und ich bin mittlerweile bekannt dafür. Es wird häufig kopiert, aber wer meine Kochkunst kennt, erkennt auch, welcher Teller von mir ist.«
Wie kommt man darauf, war es ein Zufallsprodukt oder hat er es geplant, will ich von ihm wissen.
»Ich kann nicht mehr sagen, wie das mit dem Kreis entstanden ist. Das ist, wie wenn du ein Blatt Papier vor dir hast und losmalst. Aber der Kreis hat auch einen praktischen Effekt, weil die Soße, die ich da immer reingieße, durch den Kreis im Zaum gehalten wird. Jürgen Dollase hat meine Kreise damit erklärt, dass meine Soßen zumeist sehr kräftig gewürzt sind. Durch den Kreis erhält der Gast die Chance, selbst zu dosieren. Anders, als wenn ich die Soße zum Beispiel auf den Fisch gießen würde, denn dann hat der Gast keine Chance mehr, der Soße auszuweichen. Das war nicht die allererste Intention, aber es macht Sinn.«
Er macht eine kurze Pause und fügt hinzu: »Und ganz wichtig: Geschmack geht bei mir immer über Präsentation. Kochen und Anrichten hat bei mir vor allem etwas mit Proportionen und Verhältnissen, insbesondere den Größenverhältnissen zueinander, zu tun. Aber auch hier wieder: Selbst wenn es anders schöner aussähe, hat immer der Geschmack Vorrang. Vieles kann im Kreis angerichtet werden, aber nicht alles. Oft entwickelt es sich aber dazu.«
Zurück zu seinem Credo »Heute besser sein als gestern und morgen besser sein als heute«. Ich möchte von ihm wissen, was das für seine Teller bedeutet.
»Ich versuche heute noch viel mehr wegzulassen. Sowohl von den Zutaten als auch vom Visuellen her. Es sieht teilweise schon simpler aus, als es früher ausgesehen hat. Was natürlich nicht simpler ist, denn die Vorbereitung und Zubereitung ist enorm. Aber ich mache weniger Tupfer, weniger Kleckse. Ich bin nicht mehr so verspielt, sondern fokussierter und reduzierter«, so Jan.
Sein Anspruch ist es, einen neuen Teller zu kreieren, den es nach seinem Wissen so vorher noch nicht gegeben hat. »Klar kann auch ich das Rad nicht neu erfinden. Ich mache gerade Steinbutt mit Rindermark und Rotweinsoße. Das ist relativ klassisch. Das hat es sicher auch schon gegeben, aber so in der Form vielleicht noch nicht.«