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Expertengespräch mit Jürgen Dollase

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Ist das Kunst oder kann das weg? Diese etwas provokative Frage haben Sie sicher auch schon häufiger mal gehört und in einigen Situationen vielleicht auch darüber geschmunzelt. Genau wie bei den klassischen Künsten, wie zum Beispiel der Malerei, stellt sich in der Kochkunst doch die Frage, wer beurteilen kann, dass genau dieses Gericht oder Menü nicht nur einfach ausgezeichnet schmeckt, sondern einer großen Kochkunst entspricht. Dazu habe ich mich mit dem renommierten Gastronomiekritiker und -journalisten Jürgen Dollase in der schönen Barockstadt Fulda getroffen. Und damit ich gleich auch gustatorisch etwas von ihm lernen kann, haben wir uns zum Lunch im »Christians & Friends« in der Nonnengasse in Fulda verabredet. Ein kleines Restaurant mit einem talentierten und ambitionierten Küchenchef, Christian Steska. Dieses Restaurant mit Wohnzimmercharakter war zu diesem Zeitpunkt eher noch ein Geheimtipp. Im März 2021 wurde dann das »Christians & Friends« erstmalig mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet.

Wir haben das Sechs-Gang-Menü mit den korrespondierenden Weinen bestellt und ich habe mir bereits bei den »Grüßen aus der Küche« erklären lassen, worauf ich achten muss, um den Geschmack richtig wahrnehmen und beurteilen zu können. Da habe ich zum Beispiel gelernt, dass erst einmal »wieder Frieden im Mund eingekehrt sein muss«, bevor ich einen Schluck Wein nehme, denn sonst kann ich die Elemente des Weines nicht schmecken. »Es geht hier um Millisekunden.« Im Zusammenhang mit Geschmack und Kochkunst irritieren mich die Millisekunden ein bisschen, aber ich habe sie auch bereits bei Jan gehört, also muss wohl etwas dran sein.

Bei meinem Hauptgang »Dorade mit Kartoffel, Senfgurke, Dill und Grüne-Soße-Eis« lerne ich, dass das Grüne-Soße-Eis eine sensorische Variante ist und erst durch den Mischpunkt »kaltes Eis mit Fisch« sein Gesamtgeschmack entsteht. »[…] Erst schmeckt man das kühle, schmelzende Eis, dann blendet das Aroma von Fisch, Gurken und Co. durch«10, so kann ich es später noch mal in der Sonntagszeitung der FAZ nachlesen, in der Dollase über den Lunch in Fulda berichtet hat.

Weiter lerne ich, dass Sensorik auch heißt, »den Menschen das Essen so zu servieren, dass sie es nicht falsch essen können. Man muss es ihnen in den Mund legen – sie sollen einfach nur genießen.« Dabei soll der Gast keine wissenschaftliche Arbeit anfertigen müssen, aber laut Dollase braucht es wissenschaftliche Arbeit, um es so hinzubekommen, dass es nicht falsch gegessen werden kann. »Bis alle sagen: ›Oh, wie wunderbar‹, muss man vorher gut nachgedacht haben«, erklärt mir der erfahrene Restaurantkritiker.

Dollase erinnert sich an seinen ersten Besuch 2014 im Bayerischen Hof bei Jan Hartwig und resümiert: »Da gab es noch die eine oder andere Irritation. Ich wusste, dass hier etwas Gutes entsteht, dass er aber auch erst mal ein paar Schritte gehen muss, um Struktur zu bekommen. Das Handwerk war noch nicht in den Diensten der Idee und umgekehrt. Hartwig konnte seine Ideen noch nicht so richtig auf den Teller bringen.«

Apropos Teller – der Gastronomiekritiker weiß noch genau, dass es an dem Abend einen Gang gab, der auf einem tiefen Teller angerichtet war. Dollase schimpft: »Das ist kontraproduktiv – nach 30 Sekunden ist alles Matsch.« Spätestens hier zeigt sich, dass ein Spitzenkoch viel mehr können muss als »nur« außerordentlich gut kochen.

Jan spricht immer wieder davon, wie wichtig für ihn das Handwerk ist. Dollase zieht den Vergleich zur Architektur. Ein herausragender Architekt hat neben seinem Handwerk das besondere Gefühl für die Steine. Er erkennt die richtigen Proportionen und wählt das passende Material. »Seine Leistung aber bekommt durch das gigantische Handwerk erst Flügel.«

Ich frage Dollase, ob es denn möglich ist, »nur« durch gutes Handwerk ein Koch auf Drei-Sterne-Niveau zu werden, und seine Antwort beschäftigt sich mit der Sensorik und der Aromatik. Über die Sensorik haben wir eben schon etwas gehört, als es um das »Grüne-Soße-Eis« ging. Sensorik, erklärt er mir, »ist extrem komplex, aber sie ist physikalisch und mathematisch erklärbar. Die aromatische Ebene hingegen ist kochkunstspezifisch und verweist uns auf die großen Talente, wie Mozart, die das irgendwoher kennen. Das ist weder mathematisch noch physikalisch erklärbar. Da kommt die Frage auf: Wie ist unser Koch darauf gekommen, dieses Geschmacksbild zu komponieren? So, wie ich mich hier bei diesem Lunch frage: Warum kann der Koch Christian Steska so gute Desserts herstellen? Die fallen echt auf.«

Vor dem Interview mit dem Gastrokritiker hatte ich mich selbstverständlich auf ihn vorbereitet, indem ich viel von ihm und über ihn gelesen habe. Dabei bin ich auf den »assoziativen Kontext« gestoßen, der für die kreative Spitzenküche augenscheinlich spezifisch ist und dafür sorgt, dass bei dem Gast Erinnerungen hervorgerufen werden. Das soll uns bei der Orientierung helfen, lerne ich im Gespräch mit Jürgen Dollase. Der assoziative Kontext erzeugt Analogien: »Es schmeckt wie Roulade, auch wenn überhaupt keine Roulade sichtbar ist.« Dann ist es vielleicht nur ein Soßentupfer, der genau diese Erinnerung spontan hervorruft. »Wir Menschen fangen an zu essen und sofort geht eine Lampe an, weil eine Verbindung zum kulinarischen Gedächtnis stattfindet. Es wird auf die Lieblingsstellen gedrückt, und da hat Hartwig als einer der wenigen bei wirklich jedem Teller etwas, von dem man sagt: Da ist wieder was«, so Dollase.

Sicher haben Sie schon mal etwas von dem US-amerikanischen Kommunikationstrainer und Erfolgsautor Dale Carnegie gehört. Das vermutlich bekannteste Buch von ihm ist »Sorge dich nicht, lebe!«. Ich höre Sie gerade schon sagen: »Ach der … ja, den kenne ich. Aber was hat er mit Kochen zu tun?« Nichts! Aber er ist mir direkt in den Sinn gekommen, als ich mit Jürgen Dollase im Gespräch war.

Vor vielen Jahren habe ich eine Dale-Carnegie-Trainerausbildung durchlaufen. Dabei konnte ich lernen, dass man »sich das Recht erwerben muss, um über etwas sprechen zu können«. Gemeint ist damit, dass ich, wenn ich etwas erzähle, was ich selbst erlebt habe, keine Spickzettel benötige. Denn ich kann ganz einfach aus meiner Erinnerung heraus lebhaft und emotional sprechen. In dem Buch von Carnegie »Besser miteinander reden« heißt es sinngemäß: »Sprechen Sie über Dinge, über die Sie mit gutem Recht sprechen können, die Sie durch langes Studium oder eigene Erfahrung kennengelernt haben. Bereiten Sie sich nicht nur 10 Minuten oder 10 Stunden vor, sondern lieber 10 Wochen oder Monate, am besten Jahre!«11 Carnegie hat das zwar auf eine wirkungsvolle Rede bezogen, doch finde ich, dass sich auch ein Gastrokritiker die Frage stellen lassen muss, was ihn dazu befähigt, Küche öffentlich zu »beurteilen«.

Jürgen Dollase, als ganz »alter Hase« dieser Zunft, beantwortet meine Frage entsprechend souverän und gelassen. Er gesteht, dass er alle Fehler schon selbst einmal gemacht hat. Der erfahrene Gastrokritiker kocht auch zu Hause. Begonnen hat er damit, dass er Rezepte einfach nachgekocht hat. Anschließend hat er die Rezeptur verändert und angepasst. Dabei musste er insbesondere feststellen, wie wichtig die Qualität eines Produktes ist. »Es reicht nicht nur, Lammkoteletts einzukaufen. Sie müssen von einem Tier stammen, welches in bester Umgebung, stressfrei und mit dem besten Futter aufgewachsen ist. Produktqualität ist das A und O für ein gutes Resultat«, so das Credo von Dollase.

Dollase hat sich also das »Recht erworben«, Küche zu beurteilen, indem er selbst kocht und dadurch, dass er viele Jahre lang jährlich mehr als 200 Restaurants besucht hat. Mittagessen, Abendessen, Mittagessen, Abendessen, Mittagessen …

Aus dieser Erfahrung ist in seinem Kopf ein virtuelles Menü entstanden. »Das sind die besten Gerichte von jeder Art, die ich kennengelernt habe. Die besten Versionen, die man kennt. In meinem Kopf ist das jeweils beste Produkt abgespeichert. Das beste Lamm, die beste Jakobsmuschel, die beste Wachtel und so weiter.« Das ist sein Maßstab, wenn er ein Gericht beurteilt. Ihm ist absolut bewusst, dass kein einzelner Koch auf dieser Welt der Summe aller Qualitäten entsprechen kann. Zudem relativiert er auch – je nachdem in welchem Restaurant er sich befindet. Dollase räumt ein: »Ich kann nicht die Lammkeule bei einem Koch, der keinen oder einen Stern hat, mit der besten Version einer Lammkeule vergleichen, die in meinem virtuellen Menü abgespeichert ist. Das wäre nicht fair. Aber ich ermittle für mich, wie weit sie davon entfernt ist.« Entsprechend fällt dann seine Beurteilung aus.

Das virtuelle Menü wird von ihm auch schon einmal nachjustiert. »Ich dachte mal, zu wissen, was eine sehr gute Wachtel ist. Bis ich dann in Stockholm bei Björn Frantzén eine Wachtel bekommen habe, die alles Bisherige übertroffen hat. Die war so was von gut! Ich konnte aber auch sehen, warum diese Wachtel so außergewöhnlich gut war. Die haben sich eine halbe Stunde Zeit genommen, um die Wachtel über dem offenen Feuer per Hand zu garen. Seitdem ist mein Bild von einer guten Wachtel überschrieben.«

Ein Restaurantkritiker braucht, genau wie ein Spitzenkoch, einen offenen Geist für Qualitäten und für Dinge, die er noch nicht kennt. Er muss sich immer auf dem Laufenden halten, insbesondere auch was die Kochtechnik anbelangt. »Es gibt Kritiker, die sind auf dem Stand von Fleur de Sel und Tonkabohne stehen geblieben. Diese Lücken werden sie nie mehr schließen können«, spöttelt mein Gesprächspartner.

Aber auch eine Revision der eigenen Gedanken, der eigenen Meinung ist immanent wichtig für eine glaubhafte Kritik. »Ich muss mich immer wieder reflektieren, ob ich wirklich die Kochkunst meine oder mich selbst. Je älter ich werde, desto sicherer bin ich, dass ich die Kochkunst meine«, so Dollase.

Ich frage ihn, welchen Appell er an die Spitzenköche richten würde, wenn er es könnte. Er zögert nicht lang und formuliert die Forderung, die er offensichtlich schon häufiger verlautbaren ließ: »Befasst euch mit dem Zeug, das hier verfügbar ist! Vertraut in eure eigene Leistung und auf die Produkte der Region!« Er fügt hinzu: »Wir haben in Deutschland zum Beispiel keine echte Gemüsetradition, und das könnte eine Erfolg versprechende Perspektive für die Zukunft sein.«

Bevor wir uns, nach einem opulenten und köstlichen Menü, verabschieden, möchte ich von ihm noch einen abschließenden Satz zu Jan Hartwig hören. Er sagt: »Ich kenne keinen Koch, der so hart an seiner Optimierung arbeitet wie Jan Hartwig. Wenn ich denke, es geht nicht mehr besser, und dann komme ich zu ihm und sehe und erfahre, es geht doch noch besser, dann ist das sensationell. Er ist detailliert und präzise.«

Frau Dollase, die ihren Mann nach Fulda begleitet hat, ergänzt: »Wir gehen zu Jan Hartwig wie zu einem Künstler und schauen, was er Neues hat. Es ist faszinierend!«

Ein einziger Hauptgang von Jürgen Dollase

Ein Erfolgsmenü wollte Jürgen Dollase mir nicht geben, weil er, wie er sagt, »zu wenig einseitig ist und sich nicht festlegen kann«. Aber ich konnte ihm immerhin noch entlocken, was für ihn das absolute »Must-have«, also ein Hauptgang im (Arbeits-)Leben eines Gastronomiekritikers ist: die Sachlichkeit.

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