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Kapitel Drei – Alte und neue Freunde

Kurze Zeit später fand sich im Wohnzimmer eine improvisierte Runde zusammen, nachdem einige Dinge bewegt worden waren und sich die unfreiwilligen Gastgeber fragten, warum sie die Hilfe ihrer Freunde nicht von Anfang an in Anspruch genommen hatten. Der Wohnzimmerschrank stand an der richtigen Stelle, das Kellerregal aus dem Schlafzimmer war ab- und dort wieder aufgebaut worden, wo es hingehörte. Etliche Kartons waren herumgeschleppt worden, das Schlafzimmer war jetzt frei, dafür stand das Arbeitszimmer voll, in dem es aber nun einen improvisierten Schreibtisch aus Kisten und einer Holzplatte gab. Der Vorratskeller konnte infolge der Umräumarbeiten nicht mehr betreten werden, aber das war auch nicht nötig, hier lagerten nur Dinge, die sie in nächster Zeit nicht brauchen würden, inklusive der ominösen Kisten, die es in einem Jahr wegzuwerfen galt.

Man fand sich also im Wohnzimmer zusammen, setzte sich auf den Boden, zündete Kerzen an, die jemand mitgebracht hatte, und begann, den von den Gästen gespendeten Kasten Bier zu leeren. Einige von ihnen betrachteten ratlos die geschlossenen Weinflaschen, aber auch dieses Problem wurde schnell mittels einer Schraube und der Zange aus dem in der Zwischenzeit wieder aufgetauchten Werkzeugkasten gelöst.

»Schön habt ihrs!«, prostete Adam den anderen zu, und keiner konnte ihm widersprechen.

»Habt ihr schon die Nachbarn kennengelernt? Müssen wir die vielleicht noch einladen, damit es nicht direkt Stress am ersten Tag gibt?«, wollte Lars wissen und blickte die Gastgeber fragend an.

»Ich weiß nicht, ich glaube, die sind ganz entspannt«, sagte Richard, und Karoline fiel ihm ins Wort.

»Vor allem Harry. Wenn wir den einladen, kommt hier keiner mehr dazu, auch nur noch ein Wort zu äußern«, prustete sie heraus.

»Wieso, was ist denn mit dem?«

»Der redet ein bisschen viel«, bemerkte Richard, »ist aber sonst ganz nett. Die anderen auch, der ganze Kram hier, Brot, Kuchen, Wein, die Bilder am Kühlschrank, das ist alles von den Leuten hier in der Siedlung. Und von einer Grillparty war auch schon die Rede.«

»Nicht schlecht, wann ist die denn?«, wollte Pawel wissen, aber Richard zuckte nur mit den Schultern und machte sich daran, eine weitere Flasche Wein zu öffnen.

Es dauerte nicht lange, da döste er vor sich hin, zufrieden, aber unendlich müde. Er betrachtete seine Freunde, die Freunde seines früheren Lebens, so schien es fast, denn niemand von ihnen wohnte hier in der Nähe, die Überwindung der räumlichen Distanz, um sich mit ihnen zu treffen, würde aufwendig sein. Aber sie hatten es lange genug durchgespielt, sie planten eine Familie, aber ein Haus in der Innenstadt gab es nicht, und wenn, war es nicht bezahlbar. Auf kurz oder lang würden sie sesshafter werden müssen, ruhiger, mehr auf Sicherheit bedacht, und da kam ihnen das kleine Häuschen gerade recht, das sie sich von ihrem gemeinsamen Gehalt zwar nicht leisten konnten, es aber dennoch geschafft hatten, die Finanzierung aufzubringen. Sie hatten ihren Eltern einige Bitten vortragen und einige Gespräche mit der Bank führen müssen, aber da sie verheiratet waren und ihre Familien nicht gerade am Hungertuch nagten, konnte die Anstrengung gemeinsam bewältigt werden. Sie würden in den nächsten Jahren vieles zurückzuzahlen haben, aber dafür hatten sie jetzt ihre eigenen vier Wände, und schöne Wände waren es, fand Richard, er begann bereits, sich hier wohlzufühlen, obwohl noch nichts dafür getan wurde, es gab noch nicht einmal ein Sofa oder einen Platz, an dem man die Beine hochlegen konnte. Hauptsächlich war es Karoline gewesen, die die Entwicklung vorangetrieben hatte, sie war es, die zuerst einen Kinderwunsch äußerte und das Bedürfnis verspürte, die Innenstadt zu verlassen. Dieses Viertel der Stadt lag für sie bedeutend günstiger, sie brauchte nur wenige Minuten bis zur Bahn zu laufen und dann etwa zwanzig Minuten zu fahren und war schon im Büro, während er selbst seine Arbeit sowieso fast ausschließlich von zu Hause erledigte. Als Übersetzer konnte er überall tätig sein, wo er einen Internetanschluss zur Verfügung hatte und ein wenig Platz, an dem er Bücher bis unter die Decke stapeln konnte. Auch war Richard nie wirklich an einen Ort gebunden gewesen, so dachte er in diesem Moment, er war immer von einer Stadt zur anderen gezogen, je nachdem, wie es Freundschaften, Beziehungen, Studium oder später der Beruf erfordert hatten, und hatte sich immer sofort zu Hause gefühlt. So sehr er manche Ecken auch lieb gewonnen hatte, er vermisste sie nie übermäßig und fand sich schnell in neuen Umgebungen zurecht, warum sollte das hier anders sein? Und dass man seine Freunde weniger häufig sah, wenn man eine Familie gründete, hatten sie in ihrem eigenen Freundeskreis schon erlebt. Melanie und Sören waren für fast ein Jahr so gut wie vollständig von der Bildfläche verschwunden, nachdem ihr Sohn auf der Welt war. Lars und Gitte hatten sich zwar sehr bemüht, sich nicht völlig aus dem gemeinsamen Leben zurückzuziehen, aber die Qualität ihrer Freundschaft war plötzlich eine andere, man traf sich zu anderen Zeiten, nicht mehr so lange und nicht mehr so intensiv. Wenn die anderen noch eine weitere Runde bestellten, gingen Lars oder Gitte – denn gemeinsam traten sie kaum noch auf, weil immer jemand das Kind hüten musste – schon früh wieder nach Hause, da die Nacht um sechs Uhr zu Ende war, egal, ob man einen Kater hatte oder nicht. Derart versunken in seine Gedanken, hatte Richard nicht bemerkt, dass er angesprochen worden war.

»Und, was meinst du?«, fragte ihn jetzt Adam, »Wie viele Quadratmeter habt ihr hier eigentlich? Pawel meint, das sei alles zu klein hier.«

»Klein, aber fein«, meinte Richard ausweichend und setzte sich auf. »Wir haben ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer, Küche, Wohnzimmer, einen Keller mit zwei Räumen und einen Dachboden für den ganzen Müll, der sich so ansammelt, was brauchen wir mehr?«

»Und wo kommt das Kind hin?«, rief Wiebke von der anderen Seite des Raumes herüber, was einen allgemeinen Heiterkeitsausbruch und einige affenähnliche Grunzlaute zur Folge hatte.

»Ins Arbeitszimmer, und der Schreibtisch dann in unser Schlafzimmer, da ist Platz genug, wenn wir etwas umstellen. Oder in den Keller, das würde auch gehen«, erklärte Karoline.

»Und das zweite Kind?«

»Das werden wir dann sehen. In das Arbeits-Kinderzimmer passen auch zwei Betten.«

»Genau, das ist eh viel besser, wenn Kinder zusammen in einem Zimmer schlafen, Sozialverhalten und so, weißt du?«, wusste Pawel plötzlich zu bemerken.

»Du warst doch derjenige, der meinte, dass es hier zu klein ist«, tadelte jetzt Karoline scherzhaft und stieß Pawel in die Seite.

»Aua. Hör mir doch einfach nicht zu!«

Es wurde noch viel mehr geredet, gelacht und später vereinzelt auch noch gesungen, da sich einige Gäste darüber beschwerten, dass noch keine Gelegenheit geschaffen worden war, Musik abzuspielen. Irgendwann verabschiedeten sich Karoline und Richard allerdings innerlich von der Gesellschaft, sie saßen still herum, nahmen nur noch einsilbig an den Unterhaltungen teil und schickten sich quer durch das Zimmer müde, aber sehr verliebte Blicke zu. Das ging so lange, bis auch die Gäste müde wurde und sich nach und nach verabschiedeten, nur Adam weigerte sich hartnäckig, sein letzter Zug war schon lange weg, und niemand der anderen wohnte in seiner Nähe. Nur Wiebke erkannte die Situation und zerrte ihn aus dem Haus. »Lass die beiden mal«, sagte sie, »ich setze dich in der Stadt ab, von da kannst du ein Taxi nehmen.« Sie zwinkerte den Gastgebern zu, die sich mit Gesten für ihre Fürsorge bedankten. Trotzdem schlossen sie die Tür nicht sofort, als alle verschwunden waren, sie standen noch eine Weile auf ihrer Türschwelle, betrachteten den Platz in der Mitte der Siedlung und den Himmel über ihnen.

»Wahnsinn, so etwas sieht man in der Stadt nicht«, meinte Richard. Karoline nickte nur stumm. In der Ferne war ein leicht dunstiger Schimmer zu sehen, der ständig über der Stadt lag und den Blick auf die Sterne verwehrte, all ihr Licht wurde dort einfach geschluckt, selbst mitten in der Nacht.

»Das ist mir nie so aufgefallen«, flüsterte Karoline irgendwann.

»Wie auch? Wenn etwas nie da ist, wie kann man es dann vermissen?«

»Doch schon. Zum Beispiel im Urlaub, da haben wir schon mal einen ähnlich tollen Sternenhimmel gesehen.«

»Vielleicht ist man im Alltag einfach zu beschäftigt, um sich den Himmel anzusehen«, meinte Richard nachdenklich. Das würde allerdings bedeuten, dass sie, sobald sie der Alltag hier wieder eingeholt hatte, auch diesen Himmel nicht mehr betrachten würden. Aber zumindest wäre er da und stünde zur Verfügung, dachte er, wusste aber nicht, was ihm das bedeuten sollte.

»Gehen wir rein?«, fragte Karoline irgendwann zitternd und drehte sich um, ohne eine Antwort abzuwarten. »Wissen wir eigentlich, wo die Heizung angeht?«, rief sie aus dem Flur nach draußen und holte Richard damit endgültig aus seinen Träumereien zurück.

»Keine Ahnung, mal im Keller nachsehen. Aber heute nicht mehr, oder?«

»Ne, einfach nur so, es wird ja irgendwann noch kälter.«

»Bestimmt.«

Damit schloss sich die Tür hinter Richard, aber zur Ruhe kam er nicht. Die Gespräche der Freunde drehten sich noch lange in seinem Kopf. Einige seiner eigenen Einwände waren angesprochen worden und hatten diesen wieder etwas Relevanz verliehen. Seine Gedanken wirbelten durcheinander und trübten sich immer mehr, wie ein ruhiger Bach durch starke Regenfälle plötzlich alle möglichen Dinge mitreißt, nachdem er zuvor ganz klar dahinfloss. Aber sie hatten doch alles besprochen oder bedacht? Selbst wenn sie zwei Kinder bekommen sollten, bestand noch immer die Möglichkeit, den Dachboden auszubauen, das hatte ihm sein Onkel Leo, seines Zeichens Schreinermeister, mehr als einmal versichert.

»So was mache ich den ganzen Tag, kein Problem, zwischen die Balken kommt eine Dämmung, dann wird das ganze zugemacht, unter die Schrägen können wir Schränke ziehen, was glaubst du, was du da alles reinkriegst? Und dann hier in die Mitte ein großes Bett, das reicht doch für euch. Guck mal hier, unter dem Giebel kannst du locker stehen, das Dach ist hoch genug, das machen wir schon, wenn es so weit ist.«

Damit sollte das Thema eigentlich erledigt sein, trotzdem konnte Richard lange nicht schlafen, und er wusste noch nicht einmal, warum eigentlich. Es gab noch etwas anderes, was einer der Gäste gesagt hatte und das ihm jetzt Probleme bereitete, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, was es war. Das lag zum einen an der späten Stunde, an den Anstrengungen, die sie den ganzen Tag über durchgestanden hatten, an den vielen ungewohnten Eindrücken, die sie durch ihre neuen Nachbarn gewonnen hatten, und nicht zuletzt an der wahrscheinlich nicht unbeträchtlichen Menge Wein, mit der der erfolgreich abgeschlossene Umzug begossen worden war. Viel später fiel er in einen unruhigen Schlaf, und am nächsten Morgen zeugten nur seine übervolle Blase und ein leichter Kater von diesen leichten Verstimmungen am Vorabend.

Beim Frühstück redeten die beiden fast gar nicht. Sie saßen sich stumm gegenüber, lächelten von Zeit zu Zeit wissend und kauten schweigend ihre Brote. Der Tag versprach schön zu werden, draußen schien bereits die Sonne, und es war einiges los auf dem Platz, Kinder spielten und schrien, einige Mütter saßen auf den Bänken und unterhielten sich. Irgendwann kam Max vorbeigelaufen und winkte kurz durch ihr Küchenfenster, aber sie waren zu träge, um zurückzuwinken, und da war er auch schon wieder verschwunden.

»Kinderlärm ist irgendwie gar kein Krach, oder?«, fragte Karoline nach einiger Zeit unvermittelt.

»Wie meinst du das?«, fragte Richard und saugte an seiner Tasse, die er beidhändig festhielt.

»Ich weiß nicht, wenn der Lärm draußen jetzt von einem Rasenmäher käme oder vom Verkehr auf der Straße, dann würde einem das viel nerviger vorkommen, oder?«

»Keine Ahnung, ich höre jetzt noch nicht mal viel.«

»Siehst du?«, lachte sie und sah wieder aus dem Fenster. Richard folgte ihrem Blick und überlegte sich, wie viel Zeit er hier im Haus verbringen würde, wenn er erst einmal wieder anfing, richtig zu arbeiten. Dabei fiel ihm ein, dass er Mirko, seinem Chef, versprochen hatte, spätestens am Ende des Tages noch einige Übersetzungen zu liefern, was ihm einen leichten Stich in die Magengegend versetzte.

»Ich werde schon sehen, ob mich das stört, ich sitze ja die meiste Zeit am Fenster zum Platz. Beim Schlafen hinten raus hört man ja nichts«, sagte er. »Dabei fällt mir ein, dass ich Mirko Sachen schicken muss. Bis heute Abend.«

Karoline sah ihn an, als hätte er ihr verkündet, dass er den Umzug bis zum Mittagessen wieder rückgängig gemacht haben wollte.

»Das ist nicht dein Ernst.«

»Doch, habe ich doch gestern gesagt, der wartet auf den Kram.«

»Du hast Urlaub!«, protestierte Karoline, aber ihr Einwand verpuffte ohne eine Wirkung, Richard stand auf und begann, das Geschirr zusammenzuräumen und zur Spüle zu tragen, was seine Frau mit einem gackernden Lachen begleitete.

»Was ist?«, fragte er und drehte sich verärgert um, konnte aber seine zumindest zum Teil gespielte Wut angesichts ihrer Heiterkeit nicht aufrechterhalten und fing ebenfalls an zu grinsen. »Was ist denn?«

»Wir haben jetzt eine Spülmaschine, schon vergessen?«

»Stimmt ja … wie großartig ist das denn?«

Er nahm die Teller wieder aus der Spüle und verstaute sie in der Maschine.

»Weißt du, wie das Ding angeht?«

»Nein, aber ich weiß, dass man es erst anmacht, wenn es voll ist.«

»Jaaaa, ich meinte ja auch nur …«

Karoline stand jetzt ebenfalls auf, packte den Aufschnitt zusammen und verstaute ihn im Kühlschrank. Dann kam sie zu Richard herüber und baute sich drohend vor ihm auf.

»Also, wie lange brauchst du für deine Texte?«

Richard zuckte die Schultern und zog die Mundwinkel herunter. »Keine Ahnung, zwei Stunden, drei vielleicht. Die Hauptarbeit wird sein, hier endlich den Internetanschluss auf die Reihe zu kriegen, damit ich den Kram auch rausschicken kann.«

»Kannst du das nicht über dein Handy machen?«

Er überlegte kurz und wunderte sich dann, dass ihm diese so nahe liegende Lösung nicht schon selbst eingefallen war. »Klar«, begann er zögernd, »das würde gehen …«

»Okay, dann setz dich mal ran, ich fahre so lange einkaufen, was brauchen wir?«

Sie stellten eine Liste zusammen, Richard ging in den ersten Stock an seinen improvisierten Schreibtisch, und Karoline nahm sich die Zeichnung vor, die Harry am Vortag bei ihnen gelassen hatte und die jetzt mit einem Magneten befestigt an einer Pinnwand hing. Sie studierte den Zettel und versuchte, sich einzuprägen, wohin sie fahren musste, schließlich packte sie das Papier zusammen mit ihrer Einkaufsliste in die Tasche und verließ das Haus. Empfangen wurde sie von einer schneidenden Kälte, wobei sie sich wunderte, wie man bei diesem Wetter stundenlang auf einer Parkbank sitzen konnte, wie es die beiden – wie waren noch mal ihre Namen? – taten, die sie gestern dort schon gesehen hatte. Kaum war die Tür zugefallen, drehten diese sich um und winkten ihr überschwänglich zu. Karoline fühlte sich irgendwie verpflichtet, sich ein wenig zu unterhalten und sich noch einmal für die vielen Dinge zu bedanken, die sie gestern bekommen hatten, also überquerte sie die Straße, schlängelte sich durch die Metallabsperrung und ging auf die Bank zu. Petra hieß die eine, das wusste sie gerade noch, und die andere, die gestern nach ihrem Kind gesucht hatte, wie hieß die? Mit einem schüchternen Lächeln kam sie an der Bank an.

»Entschuldigung«, begann sie, »ich weiß eure Namen nicht mehr.« Sie zeigte auf Petra und nannte ihren Namen. »Richtig?«, fragte sie und stand unbeholfen vor den beiden, nicht wissend, was sie mit ihren Händen machen sollte.

»Petra und Chris«, lachte jetzt die Blonde und zeigte zuerst auf die kleinere mit der Brille und dann auf sich. »Und hier im Wagen liegt Fritz, der glücklicherweise gerade schläft, und da hinten versucht Emma mal wieder, ob der Sand heute besser schmeckt als gestern. Emma! Bah! Nicht den Sand essen!«, rief sie plötzlich so laut, dass Karoline leicht zusammenzuckte.

»So viele Namen …«, sagte sie entschuldigend und breitete die Arme aus.

»Kein Problem, geht allen so, das kommt mit der Zeit«, sagte Chris freundlich. »Möchtest du auch einen Kaffee?«, fragte sie weiter und griff neben die Bank, wo eine große Thermosflasche stand.

»Nein, danke, wir haben eben erst gefrühstückt, ich wollte auch gerade zum Einkaufen fahren«, wehrte Karoline ab, die von der Freundlichkeit der beiden beinahe etwas irritiert war, selbst aber nicht wusste, warum sie so empfand.

»Oh, da kommt Harry«, bemerkte Petra flüsternd und fuhr dann lauter fort, als Harry schon in Hörweite war, »Oh nein, da ist Harry, in Deckung!« Chris schlug sich kichernd die Hand vor den Mund und starrte angestrengt in den Baum, als hätte sie dort mit einem Mal etwas Seltsames entdeckt, was ihre Aufmerksamkeit unbedingt fesselte. In der Zwischenzeit war Harry bis zur Bank gekommen, in seiner Hand hatte er die Papiertüte einer Bäckerei, die dampfte und einen verführerischen Duft von frischen Brötchen verströmte.

»Mmh, Brötchen für uns? Das wäre nicht nötig gewesen«, spielte Petra weiter und streckte ihre Hände nach der Tüte aus.

»Nicht? Dann werde ich sie wohl selbst essen«, meinte jetzt Harry, lachte und wollte schon weitergehen, aber Chris hielt ihn zurück.

»Sag mal Harry, hast du nicht etwas vergessen?«

»Mal sehen. Brötchen? Hier. Kinder? Zu Hause. Ne, alles da.«

»Und was ist mit der Grillparty?«, trumpfte Petra auf, wohl wissend, dass ihm dieser wichtige Punkt gestern durchgegangen war, aber Harry ließ sich nicht darauf ein.

»Was soll damit sein?«, fragte er mit einem schelmischen Grinsen und einem Seitenblick auf Karoline.

»Na ja, Karoline will gerade einkaufen fahren, vielleicht sagst du ihr mal langsam Bescheid, sonst muss sie nachher noch mal los.«

Hatte Karoline den Neckereien bisher nur oberflächlich zugehört, war sie jetzt ganz Ohr, denn auf irgendeine Weise, die sie im Augenblick noch nicht verstand, ging diese Unterhaltung nun auch sie etwas an. Sie drehte sich zu Harry, der jetzt angestrengt überlegte, und wandte ihren Blick dann wieder Chris und Petra auf der Bank zu, die aber auch nur Harry anstarrten und warteten, dass dieser endlich seiner Pflicht nachkäme.

»Was denn, Harry? Du bist doch sonst nicht um Worte verlegen, schließlich bist du Pate, jetzt rück raus mit der Sprache, oder willst du Karo zweimal fahren lassen?« Fast erschreckt blickte Chris daraufhin Karoline an. »Entschuldige, ist das okay, wenn ich dich Karo nenne?«

»Ja, ja, gerne«, antwortete die, »alle meine Freunde nennen mich so.« Direkt, nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte, überlegte sie sich, ob das richtig gewesen war, aber sie konnte das Gesagte nicht mehr zurücknehmen. Alle ihre Freunde, überlegte sie, aber sie waren gerade erst eingezogen, sie hatten noch keine Freunde hier. Nun war es zu spät, dachte sie, mochten die drei es als Angebot nehmen, sich als zukünftige Freunde zu betrachten, oder auch nicht, sie wusste es nicht mehr und spürte jetzt, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg.

»Oh, toll, das ist schön«, antwortete jetzt Chris, sichtlich erleichtert, dass Karoline ihr diese vielleicht etwas vorschnelle Annäherung nicht übel nahm. »Ich bin Chris, und nicht etwa Christiane«, lachte sie, wie um sich zu entschuldigen.

»Oder Christine, oder wie heißt du noch mal in echt?«, fragte jetzt Petra lachend.

»Chris. Punkt«, sagte Chris und tat so, als weigerte sie sich, ein schmutziges Geheimnis zu verraten, von dem aber jeder wusste, sodass es auf diese Art nur noch schmutziger wurde. Karoline hingegen war froh, dass ihre Äußerung offenbar nicht überbewertet wurde, ihre Freunde nannten sie tatsächlich alle Karo, warum sollte sie hier eine künstliche Distanz dadurch schaffen, dass sie darauf bestand, mit ihrem vollen Namen angeredet zu werden? Zumal sich hier eh alle mit Du anredeten, wie viel weniger Distanz gab es denn da noch? Aber dann fiel ihr etwas ein: »Aber nennt Richard bloß nicht Richie!«, warnte sie die anderen. »Das kann der gar nicht leiden.«

Chris und Petra tauschten einen vielsagenden Blick, der Karoline irritierte, dann sahen die beiden Harry an, und Petra schnappte triumphierend in seine Richtung: »Siehst du, was habe ich dir gesagt?«

Karoline wusste nicht, worum es ging und war einigermaßen irritiert angesichts dieser unverständlichen Anspielung, aber sie beruhigte sich schnell wieder. Natürlich, sie waren die Neuen, sie waren zugezogen und eingedrungen in diese fest gefügte Gemeinschaft, in der jeder jeden kannte, jeder, wenn auch nicht alles, so doch vieles vom anderen wusste, da war es nur natürlich, dass man sich über die Neuen Gedanken machte, dass man über sie sprach, Vermutungen anstellte und diese erst nach und nach an der Realität messen konnte. Was war näherliegend, als bei den Namen anzufangen und sich zu überlegen, welche Kurzformen angemessen oder akzeptabel wären? Chris fühlte sich genötigt, die Situation zu erklären, und meinte fast entschuldigend zu Karoline, dass Harry gestern von »Karo und Richie« geredet habe und sie ihn schon gewarnt hätten, sie bloß nicht so anzusprechen. Karoline nickte verständig und wiederholte noch einmal, dass sie gewohnt sei, Karo genannt zu werden, aber dass ihr Mann es nicht leiden könne, mit Richie angesprochen zu werden, und damit war das Thema erledigt. Aber noch lange nicht geklärt war der Umstand, dass eine Grillparty anstand, daher fühlte Harry sich jetzt verpflichtet, Karoline einen kurzen Stand der Dinge zu vermitteln.

»Also, wir wollten heute Abend eine Grillparty veranstalten, also nein, eigentlich wolltet ihr das tun, ihr wisst es nur noch nicht. Haha. Ähm, nein, wir machen das eigentlich immer so, dass wir eine kleine Feier ausrichten, wenn jemand Neues einzieht, damit sich alle mal kennenlernen und man auch die Gesichter gesehen hat und weiß, wo jeder hingehört. Keine Angst, wir teilen jetzt keine Schilder aus, die man sich anklebt und wo »Hallo, mein Name ist Hans« draufsteht. Und es gibt auch keine Spielchen, wo man sich Bälle zuwirft und sagt »Mein rechter, rechter Platz ist frei« oder so, wir wollen nur …«

»Harry, ich glaube, sie hat es verstanden«, unterbrach Petra ungeduldig und stieß Chris in die Seite, die verstohlen kicherte.

»Okay, ja, also es ist Usus, dass wir alle etwas mitbringen, Brot und Salate oder so. Ich habe einen großen Grill, Kohle und alles, das würde ich dann vorher aufbauen. Und ihr könntet euch dann überlegen, was ihr grillen wollt und welche Getränke ihr so bevorzugt, also, überrascht uns einfach. Also, zum Beispiel, als die Ulrichs hier eingezogen sind, seine Eltern kommen aus dem Elsass, da gab es ganz besondere Würste, die man sonst nur da bekommt, und die hatten auch irgendein Getränk von dort besorgt, irgendein besonderes Bier und Cidre und so. Na ja, egal, ihr werdet schon wissen.« Er verdrehte kurz die Augen und schien angestrengt zu überlegen, was er Wichtiges vergessen haben könnte, aber ihm fiel nichts ein. »Das war es eigentlich, sollen wir am späten Nachmittag schon starten? Weil, einige haben kleine Kinder, die würden sonst das Beste verpassen. Unsere gehen am Wochenende so um acht, halb neun ins Bett, dann haben die auch noch was von der Feier, was meint ihr?«

Karoline fühlte sich völlig überfahren von dem Redeschwall und der Ankündigung, die ihr gerade gemacht worden war. Sie hatte verstanden, dass eine Feier zu Ehren ihres Einzugs stattfinden sollte, auch hatte sie mitbekommen, dass gegrillt werden sollte und dass Kinder anwesend sein würden, aber ein entscheidendes Detail war an ihr vorbeigegangen: Sie hatte nicht verstanden, wer jetzt was organisieren sollte, und bekam das ungute Gefühl, dass Harry ihr noch nicht einmal durch die Blume beigebracht hatte, dass Richard und sie für Essen und Trinken zu sorgen hatten, am besten sollten auch noch Spezialitäten aufgefahren werden – oder hatte sie das falsch interpretiert? Sie sah die Drei an, die aber ihrerseits erwartungsvoll zurückstarrten, und Karoline merkte, dass eine Antwort erwartet wurde, nicht erst heute Nachmittag, wenn sie sich genügend Gedanken darüber gemacht hatte, sondern jetzt, sofort. Aber hatte Harry ihr tatsächlich gesagt, dass sie Getränke und Grillgut für – wie viele? dreißig, vierzig Leute? – organisieren sollte? Er hatte ausdrücklich erwähnt, dass die anderen Brot und Salate mitbringen würden und dass es bisher Besonderheiten aus der Heimat der Zugezogenen gegeben habe, aber sie waren doch hier zu Hause … Je länger sie nachdachte, desto verwirrter wurde sie. Passte ihnen heute Abend überhaupt? Sie musste Zeit gewinnen, wusste aber nicht wie, sie musste mit Richard sprechen, aber was würde das ändern?

»Ja, alles klar«, begann sie zögerlich und wusste nicht, wie sie weitermachen sollte. »Ähm, mit wie vielen rechnen wir denn?«

Jetzt war es an den anderen, kurz zu überlegen. Sie legten die Stirn in Falten und rechneten angestrengt.

»Mmh«, machte Harry, »gute Frage. Also im Urlaub ist gerade keiner, es sind zweiundzwanzig Häuser, keine Ahnung … wenn alle kommen, könnten es gut fünfzig Leute werden, Kinder allerdings eingeschlossen, mehr werden es bestimmt nicht.«

Chris und Petra sahen sich an und nickten. »Das könnte hinkommen«, meinte Chris, »aber mach dir keinen Stress, wir sind anspruchslos«, fügte sie hinzu und lachte gewinnend. Vielen Dank, dachte Karoline, das macht die Sache bedeutend einfacher. Sie hatte jetzt nur noch den dringenden Wunsch, sich dieser Situation möglichst schnell zu entziehen und wandte sich zum Gehen.

»Okay, dann mache ich mich mal auf den Weg …«

Die anderen schienen ihre Verlegenheit nicht zu bemerken oder zumindest geflissentlich zu ignorieren.

»Alles klar, bis später dann, wir freuen uns!«, rief Petra und winkte noch einmal, was Karoline erwiderte, dann war sie auf dem Weg und wusste gar nicht, wohin eigentlich.

Einige Zeit später kam Karoline nach Hause und schlich in den ersten Stock zu Richard, der mit Kopfhörern rücklings zu ihr vor seinem Laptop saß. Sie wusste, dass er es hasste, erschreckt zu werden, holte ihr Telefon heraus und rief ihn an. Es klingelte, er blickte zur Seite, wo seins wiederum leise über den Tisch vibrierte und dabei leuchtete, nahm den Kopfhörer ab und beantwortete den Anruf.

»Hallo?«

»Dreh dich mal um.«

Es dauerte einen kurzen Moment, bis er verstanden hatte, dann kam er der Aufforderung nach und blickte in ihr völlig abgekämpftes Gesicht.

»Karo, was ist denn los?«, fragte er besorgt.

»Ich kann nicht mehr, ich habe achthundert Kilo Würstchen geschleppt und kastenweise Bier«, gab sie zurück und machte eine hilflose Geste.

»Wofür das denn?«

»Für die Grillparty, die wir heute Abend geben.«

»Wieso geben wir eine Grillparty?«

»Frag Harry.«

»Was soll das?«

Karoline zuckte mit den Schultern und blickte an Richard vorbei auf den Platz, über den der Wind eilig ein paar Blätter wehte, die von einem Mann, der einen alten Hut und einen schäbigen Mantel trug, gebändigt zu werden suchten, was nur leidlich gelang. Sie sah ihm dabei zu und meinte halblaut, das müsse Herr Pesch sein, oder wie der hieße. Richard hatte sie angesehen und blickte jetzt ebenfalls aus dem Fenster.

»Ja, wahrscheinlich, der rennt jetzt schon eine ganze Stunde da draußen rum und sammelt jedes Blatt einzeln auf. Ich glaube, der kehrt auch die Katzenscheiße aus dem Sandkasten.«

»Mmh, lecker.«

»Was war das jetzt mit der Grillparty?«

Karoline seufzte und ließ sich noch eine Weile Zeit, dann begann sie von der Unterhaltung zu berichten, die sie kurz vor ihrem Einkauf im Park erlebt hatte, oder vielmehr, die ihr zugestoßen war, so empfand sie es jetzt rückblickend.

»Haben wir irgendetwas übersehen? Stand in dem Kaufvertrag irgendwo, dass man fünfzig Leute verköstigen muss, wenn man hier einzieht?«

»Nicht, dass ich wüsste«, meinte Richard nachdenklich und überlegte, wie er selbst in der Situation reagiert hätte. Wäre es überhaupt klug gewesen, die Feier abzulehnen? Wie hätten sie dagestanden, wenn sie sich geweigert hätten? Sie waren jetzt Teil einer kleinen Gemeinschaft, ob sie wollten oder nicht, die Nachbarn sahen es auf jeden Fall so, aber dass sie sofort am ersten Tag derart in die Pflicht genommen wurden, kam ihm etwas seltsam vor.

»Die Party nicht zu bezahlen, wäre wahrscheinlich kein schlauer Schachzug gewesen, was?«

»Und dann als die Geizhälse der Siedlung dastehen? Auf keinen Fall, deswegen bin ich ja auch sofort losgefahren.«

»Was hast du denn geholt?«

»Weiß ich nicht mehr, aber sechs Kästen Bier, fünfzig Würstchen, verschiedene Sorten, noch mal so viele Steaks, Speck und alles, was die Tiefkühltheke so hergab, ich hatte den ganzen Wagen voll. Die haben bestimmt gedacht, ich habe zu Hause einen Käfig voller Raubkatzen, oder so.« Sie lachte bei der Vorstellung kurz verstimmt auf, schwieg dann aber sofort wieder.

»Was hast du bezahlt?«

»So an die zweihundert Euro werden es wohl gewesen sein«, gab sie zu und sah ihren Mann entschuldigend an. Sie hob die Hände und atmete hörbar aus. »Was hätte ich denn machen sollen?«

»Nichts, da müssen wir wohl durch«, beschwichtigte er sie. »Lass uns das als Investition in unseren Frieden mit den Nachbarn ansehen. Solange die nicht jede Woche mit so einer Aktion kommen, soll mir das recht sein.«

Sie lächelte ihn dankbar an. Und er fuhr fort, ihr schlechtes Gewissen zu erleichtern: »Kein Problem, ist doch nicht die Welt, setz dich mal ins Wohnzimmer und hol dir einen Kaffee, ich räume den Wagen aus … oder sollen wir die Sachen einfach drin lassen und nachher direkt zum Platz bringen? Draußen ist es wahrscheinlich kälter als in unserem Kühlschrank.«

»Bestimmt«, nickte Karoline und gab ihm einen Kuss. »Ich dachte, du würdest sauer sein, weil ich dich nicht vorher gefragt habe …«

»Und was hätte das geändert?«

»Weiß ich nicht, aber ich hätte fragen können.«

»Dann frag beim nächsten Mal.«

»Okay. Brauchst du noch lange?«

»Vielleicht eine Stunde. Wann soll die Feier steigen?«

»Harry meinte irgendetwas vom späten Nachmittag, also so um vier oder fünf?«

Richard sah auf einen kleinen Reisewecker, der neben seinem Computer stand, und rechnete nach.

»Das sind noch ein paar Stunden, sollen wir vorher noch etwas spazieren gehen und uns die Umgebung ansehen? Also, mal näher, nicht nur mit dem Auto durchfahren, so wie bisher.«

»Au ja, dann mach mal schnell fertig.«

»Okay.« Er schob sie sanft von seinem Schoß, setzte die Kopfhörer wieder auf und widmete sich seiner Arbeit. Karoline ging leichten Herzens nach unten und hätte sich gerne auf ihr Sofa gelegt, aber das war vollgestellt mit allerhand Dingen, und sie hatte keine Lust, es freizuräumen, daher setzte sie sich mit einer Tasse Kaffee auf die Arbeitsplatte der Küche und sah nach draußen. Dabei betrachtete sie nichts Bestimmtes, sie starrte einfach vor sich hin, bemerkte nicht den Hausmeister, der seine Beute an Blättern in einem großen Sack hinter sich herzog und im Müllcontainer versenkte, nicht den alten Mann, der wie in Zeitlupe vorbeischlich, und nicht die Vögel, die der Kälte zum Trotz der Sonne entgegenträllerten. Sie war einfach zufrieden und wartete.

Zunächst gingen Karoline und Richard nebeneinander her, irgendwann suchte seine Hand die ihre und fand sie, sie rückten näher aneinander und schlenderten durch den alten Stadtteil, der ihre neue Heimat sein sollte. Viele Straßen hatten noch Kopfsteinpflaster, es gab etliche enge Gassen und Einbahnstraßen, kleine Eckkneipen und ein gedrungenes Backsteingebäude, das jeden Moment in sich zusammenzustürzen drohte und ein Restaurant beherbergte. Sie beschlossen, hier eines Tages essen zu gehen, entfernten sich dann langsam vom alten Kern des Viertels und gelangten über einen Feldweg, der an einem kleinen Bachlauf entlangführte, zum Neubaugebiet, das gegenüber dem Rest des Viertels wie ein Fremdkörper wirkte. Sie zählten die Kräne und kamen bis zwanzig, bis dreißig. Überall gab es Schotterwege, Lehm klebte auf den Straßen, und obwohl es Samstag war, machte das Viertel nicht den Eindruck, als ob es bald zur Ruhe kommen würde. An jeder Ecke wurde gebaut, Laster fuhren herum, Erdreich wurde bewegt und Dächer gedeckt. Es gab ein Einkaufszentrum und eine Schule sowie einen Kindergarten, sie sahen Hinweisschilder, die zum Sportplatz zeigten, dessen Flutlichtmasten sie hinter einem kleinen Wall erkennen konnten, und ein Bürogebäude, in dem sich auch einige Ärzte niedergelassen hatten, wie die zahlreichen Schilder verkündeten, die dort angebracht waren. Und über all den Gebäuden schwebte der Eindruck dessen, was Karoline bei ihrer letzten Besichtigung eines Hauses in einem ähnlichen Viertel schon bedrückt hatte: Alles war neu, zu neu und wirkte dadurch irgendwie unbelebt und seltsam. Es gab einige Alleen, die Gärten der bewohnten Häuser waren bereits bepflanzt, aber all dem fehlte es an Kraft, Fülle und dem Charme des Alters. Die Bäume der Alleen waren nicht mehr als Schösslinge, die Hecken der Häuser gerade einmal hüfthoch, man sah nichts als Häuser, Gebäude weit und breit. Karoline dachte daran, wir ihr Haus einmal ausgesehen haben mochte und dass auch ihre kleine Siedlung einmal neu gewesen war, die Kastanie auf dem Platz kleiner und unscheinbarer und die Gärten für jeden einzusehen, nur getrennt durch Zäune und noch nicht geschützt durch Hecken und Büsche, die Jahrzehnte gehabt hatten, um sich auszubreiten und der Siedlung etwas Grünes, Lebendiges zu schenken, was diesem neuen Viertel noch für lange, lange Jahre abgehen würde. Dann wunderte sie sich, wie schnell sie von der Siedlung innerlich als »ihre« gesprochen hatte, nach welch kurzer Zeit sie sich offenbar bereits dort wohlfühlte. Sie überlegte, wie lange sie gesucht, wie lange sie sich die verschiedensten Häuser angesehen hatten, um endlich das Richtige zu finden, das, was zu ihnen passen würde, für eine sehr, sehr lange Zeit. Sie hatten viele Wohnungen und Häuser gesehen, ein kahles Kellerloch, vollständig in Weiß gefliest wie ein Schwimmbad, eine Wohnung, deren Balkon direkt auf eine Autobahnbrücke zeigte, Hochhäuser, bei deren bloßem Anblick sie schon wieder kehrtgemacht hatten, ohne sich weiter umzusehen, und schließlich eine endlos scheinende Reihe von Häusern, bei denen sie sich teilweise wundern mussten, wer hier jemals wohnen sollte. Sie hatten Neubauten gesehen, aber auch Gebäude, bei denen der Rohbau gerade einmal abgeschlossen war, ihnen der Makler aber vollmundig versprach, dass man innerhalb eines Monats einziehen könne. Sie hatten ein Haus bestaunt, in dem es einen Lastenaufzug gab, aber leider auch eine Fabrikbelegschaft, die das Wegerecht besaß, durch ihren Garten zur Arbeit zu gehen. Sie hatten sich baufällige Schuppen zeigen lassen und tolle Häuser, die nur den kleinen Nachteil aufwiesen, dass die Straßenbahnlinie beinahe direkt durch ihr zukünftiges Wohnzimmer führte. Und schließlich hatte es dieses Haus gegeben, ein kleines, altes Backsteinhaus mit Fensterrahmen aus Holz, kleinen Fenstern zum Platz hinaus und einem spitzen Dach, in das sie sich fast unmittelbar verliebt hatte. Bei Richard hatte es etwas länger gedauert, er war eher von ihrer Begeisterung begeistert, als vom Haus selbst, aber am Ende kam es auf dasselbe hinaus, sie hatten sich frohen Herzens und mit einem guten Gefühl im Bauch dafür entschieden. Und angesichts des Kontrasts, der sich jetzt wieder vor ihnen zeigte, war Karoline dazu geneigt, bereits von ihrem Zuhause zu sprechen. Sie machte eine unbestimmte Bewegung in Richtung der riesigen Baustelle, fand dann aber keine Worte.

»Schlimm, oder?«, fragte Richard, als hätte er ihre Gedanken erraten können, und sie nickte nur, mit Tränen in den Augen, die sie vor ihm zu verbergen suchte, sie selbst wusste den Grund nicht.

»Ich meine, für junge Familien vielleicht wirklich ideal, oder? Du wächst hier auf, die Kinder haben Gleichaltrige an jeder Ecke, sie gehen zusammen zum Kindergarten, zur Schule, und so weiter. Das ist schon nicht schlecht.« Jedoch Richard klang nicht überzeugt und Karoline gab zu bedenken, dass man sich dafür aber auch verstehen müsse. Was wäre denn, wenn der Nachbar, mit dem man sich den Garten teilte, plötzlich nicht mehr so freundlich war? Und was wäre, wenn die Kinder das Haus verließen, würden dann alle umziehen? Die Häuser seien doch schließlich zu groß für zwei Personen. Was wäre mit den ganzen Schulen? Würde man die dann wieder abreißen? Richard machte ein erstauntes Gesicht und sah sie an.

»Vielleicht macht man dann ein Altersheim draus. Und dass man sich mit den Nachbarn nicht versteht, kann uns auch passieren.«

»Mal den Teufel nicht an die Wand!«, rügte Karoline scherzhaft und sah ihn kurz darauf verträumt an.

»Das ist schon toll. Unser Haus, meine ich.«

Richard nickte, sie blieben noch eine Weile stehen und betrachteten einige zerfaserte Wolken, die langsam über den Himmel zogen, aber das Wetter würde wohl schön bleiben. Ein Geruch von frisch gemähtem Gras lag in der Luft, der sich von Zeit zu Zeit mit unangenehmen Schwaden vermischte, die von Heizöl stammten oder vom Diesel eines leckgeschlagenen Lasters, der Erde von hier nach dort karrte, um Platz für eine weitere Reihe Häuser zu schaffen. Sie drehten um und gingen zurück, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Das Wetter hielt sich, und als sie von ihrem Spaziergang zurückkamen, hatten die Vorbereitungen für das Fest schon begonnen. Harry hatte seinen besonderen Grill für größere Anlässe bereits errichtet, er bestand aus einem der Länge nach halbierten Ölfass, über das ein massives Gitter gelegt war. Eine Unmenge an Kohlen war bereits im Fass verteilt, und Harry wedelte mit einem Föhn herum, der aussah, als wäre er an vergangenen Grillfesten schon zur Hälfte eingeschmolzen worden. Als die beiden unfreiwilligen Gastgeber entdeckt worden waren, gab es verhaltenen Applaus auf dem Platz, was ihnen die Schamröte ins Gesicht trieb.

»Ja, dann holen wir mal was zu essen …«, meinte Karoline und war froh darüber, der Gesellschaft, deren Augen jetzt alle auf sie gerichtet waren, noch für eine Weile entkommen zu können. Richard beeilte sich, ihr zuzustimmen, und ging ebenfalls zu ihrem Wagen, dessen Rücksitze voller Bierkästen standen, der Kofferraum sah kaum besser aus. Mehrere Nachbarn folgten ihnen und boten ihre Hilfe an, und in Kürze waren die Unmengen an Fleisch und Bier auf den Platz geschafft worden, wo sie beinahe ungeduldig erwartet wurden. Die Aufregung bei den Gästen legte sich etwas, sie wandten ihre Blicke und ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Gesprächspartnern und ihren Unterhaltungen zu, bei den Gastgebern allerdings blieb alles beim Alten, sie hätten sich am liebsten schnell wieder zurückgezogen, ihnen beiden lag es überhaupt nicht, im Mittelpunkt zu stehen.

»Müssen wir jetzt eine Ansprache halten?«, raunte Richard Karoline verstohlen zu, aber die zuckte nur mit den Schultern und starrte angestrengt in die langsam sich regende Glut in dem Ungetüm von Grill, hinter dem Harry immer noch um sein Leben föhnte.

»Geht gleich los«, meinte dieser und riss damit das Gespräch an sich, was Karoline mehr als recht war. »Wir sind ja noch lange nicht vollzählig, aber ich sehe schon, verhungern muss hier heute keiner, haha. Sollen wir denn schon mal was trinken? Also ich könnte eine Flasche vertragen. Oder auch zwei, auf einem Bein kann man nicht stehen, oder?«

Richard nahm die Anregung sofort dankbar auf, ging zu dem kleinen Turm aus Bierkästen neben der Kastanie, holte ein paar Flaschen heraus und wollte gerade in die Runde rufen, wer sich bereits für ein kaltes Getränk erwärmen wollte, da merkte er, dass ihm seine Stimme beinahe versagte. Er räusperte sich lautstark und tat das noch einmal, nachdem er schon erneut angesetzt hatte, aber endlich gelang es ihm.

»Wem darf ich denn schon mal eine Flasche Bier aufmachen?«

Karoline hatte seinen Kampf bemerkt und fühlte mit ihm, ihr wäre es nicht anders ergangen, sie kannten hier die wenigsten, und da eine Ansprache zu halten, war ihr mehr als unangenehm. Es war vielleicht keine Angst, die sie spürte, aber doch ein drohendes Unbehagen, das sich ihrer bemächtigt hatte und dessen sie sich nicht entledigen konnte. Sie wünschte sich Richard an ihrer Seite und nicht diese wenigen Meter entfernt und Bierflaschen öffnend. Sie hätte jetzt in diesem Moment auch gerne eine Aufgabe gehabt, statt hier einfach nur herumstehen zu müssen wie unnützes Beiwerk, eine Dekoration.

»Hier, ich helfe dir«, rief sie und fragte sich, ob sie vielleicht zu hektisch geklungen hatte. Standen sie beide hier nicht auf dem Prüfstand? Wurde nicht alles, was sie heute sagten und taten, sofort auf die Goldwaage gelegt? Wären sie bereits »unten durch«, wenn die Getränke nicht reichten? Hätte sie doch die teureren Würste kaufen sollen und nicht die Mittelklassepackungen? Sie hatte sich schon extra für eine Marke entschieden, die nicht bereits von Weitem als die billigste enttarnt werden würde. Hätte sie noch andere Dinge besorgen sollen? Brennend heiß fiel ihr ein, dass sie kaum etwas Antialkoholisches mitgebracht hatte und keine Süßigkeiten für die Kinder! Sie wusste noch nicht einmal, was Kinder am liebsten mochten, Schokolade, klar, aber musste es eine bestimmte Sorte sein, eine bestimmte Marke, mit Aufklebern vielleicht? Sie griff in den Bierkasten, den Richard schon beinahe halb geleert hatte, nahm sich eine Flasche und sah sich hilflos um, wie sie diese wohl öffnen sollte, während Richard kurzerhand eine zweite zur Hilfe nahm, aber sie hatte nie gelernt, wie man dabei vorzugehen hatte, damit sich nicht der falsche Kronkorken verabschiedete. Sie kam sich seltsam überflüssig vor und wäre am liebsten ins Haus gegangen, um sich einfach hinzulegen, auf ein Sofa, das immer noch übersät war von unnützem Zeug, oder direkt ins Bett, um zu schlafen, in Ruhe gelassen zu werden, unbelästigt von Verpflichtungen. »Reiß dich zusammen«, sagte sie zu sich selbst und nahm Richard eine Flasche aus der Hand, die er gerade für den alleinstehenden alten Herren geöffnet hatte, der etwas irritiert zusah, wie sie sie an sich riss und beinahe in einem Zug zur Hälfte leerte.

»Entschuldigung«, sagte sie verzweifelt lächelnd, »aber ich hatte was im Hals, das musste ich mal eben runterspülen.«

»Kein Problem, junge Frau«, lachte ihr der Mann mit Zähnen entgegen, die so makellos und gleichmäßig waren, dass es sich nur um ein Gebiss handeln konnte, wobei sich Karoline fragte, warum sie darauf achtete und warum ihr so etwas überhaupt auffiel. »Ist ja noch genug da.« Richard hatte ihm bereits die nächste Flasche in die Hand gedrückt, konnte aber jetzt nur mit den Schultern zucken, als dieser nach einem Glas fragte.

»Tut mir leid, die haben wir noch nicht rausgeholt, Karo, würdest du?«, fragte er sie mit einem Seitenblick.

»Natürlich, warten Sie kurz«, sagte sie etwas übereilt – würde man ihr die Nervosität ansehen? Und wenn, war das schlimm, wäre nicht jeder in dieser Situation aufgeregt? Sie hastete zum Haus, fand in der Aufregung den Schlüssel nicht sofort und stolperte im Flur fast über einen Karton, den irgendein Idiot hier hingestellt hatte. Sie beruhigte sich etwas und erinnerte sich, dass sie dieser Idiot gewesen war. Sie gab ein kurzes Geräusch von sich, das einem Lachen ähnelte, ging in die Küche, fand kein Tablett und begann, Gläser in eine leere Apfelsinenkiste zu räumen, um sie nach draußen zu bringen. Dort wurde sie von Richard erwartet, der seinen Kellnerpflichten nachgekommen war und jetzt verzweifelt versuchte, sich unsichtbar zu machen. Karoline bemerkte seine schüchternen Gesten und empfand tiefe Zuneigung zu diesem netten, lieben Menschen, dem es, genau wie ihr, etwas ausmachte, in eine fremde Menschenmenge einzutauchen, der nicht so abgebrüht war, dass ihm das nichts anhaben konnte. Man hätte auch sagen können, dass er nicht sehr selbstsicher war, aber das wollte sie nicht, sie ging zu ihm herüber, gab ihm einen Kuss und lehnte sich an ihn.

»Lass uns einen schönen Abend haben, okay?«, fragte sie so leise, dass nur er es hören konnte. Er sagte nichts, nickte aber, was sie nicht sehen konnte, aber sie spürte die Bewegung und verstand.

Sie standen einige Zeit herum, wurden von allen begrüßt und teilten Getränke aus. Die Namen rauschten an ihnen vorbei wie ein zu schneller Zug, es war unmöglich, sich alle Gesichter zu merken, dafür ging alles viel zu rasch, und die Informationen waren zu zahlreich. Die Familie Stupp stellte sich erneut vor, Frank, ein Mittvierziger mit grauen Schläfen und kleinem Mund, wie Karoline auffiel, machte sie mit seiner Frau Steffi bekannt, wahrscheinlich deutlich jünger, aber mit einem müden Gesicht, was Richard bemerkte, und ihr Sohn Jakob, ein quirliger, frecher Junge, der die beiden direkt fragte, wie sie hießen. Sofort wurden die Eindrücke aber weggewischt von der nächsten Familie, Johannes und Elke Ulrich, die ihnen ebenfalls schon mit einer Flasche Riesling und selbst gemachter Marmelade mit Rum ihre Aufwartung gemacht hatten. Sie schätzten die beiden auf Anfang, Mitte fünfzig, ihrer sportlichen Kleidung nach zu urteilen, hätten sie aber auch zehn Jahre jünger sein können. Ihre bereits erwachsenen Kinder Ulrike und Björn gaben sich deutlich gelangweilt, sie verstanden es, ihre Meinung über diese für ihr Alter deutlich zu öde Feier ohne Worte Ausdruck zu verleihen. Björn schielte gierig nach der Flasche Bier, die Richard seinem Vater reichte, und sein Gesicht erhellte sich für einen kurzen Moment, als ihm dieser ebenfalls eine entgegenstreckte. Ulrike schüttelte nur missmutig den Kopf und maulte, dass sie nicht dürfe, aber diese Aussage wurde nicht weiter ausgeführt oder erklärt. Später sollte Karoline verschwörerisch grinsen und den ahnungslosen Richard fragen, ob er denn nicht gesehen habe, was mit ihr los sei. Es brauchte noch zwei weitere Andeutungen, bis Richard verstand, welche biologischen Voraussetzungen man zu erfüllen hatte, um sich für einige Zeit mehr oder weniger freiwillig vom Alkohol fernhalten zu müssen. »So alt sah die gar nicht aus«, meinte er, aber seine Frau gab ihm zu verstehen, dass es durchaus möglich sei, dass man schon im Alter von weit unter zwanzig in der Lage sein könne, ein Kind zu bekommen, außerdem sei Ulrike bestimmt schon Mitte zwanzig, was Richard wiederum bezweifelte. Mit jedem der neu Angekommenen wechselten die beiden ein paar Sätze, der alte Herr Fassbender hielt eine kleine Rede über das Wetter, sein weibliches Pendant, Frau Christochowitz, erging sich in einer langen Reihe von Erklärungen, wer alles schon in ihrem Haus gewohnt habe, wie die Kinder geheißen hatten und welche Umbauten vorgenommen worden waren. Das ging so lange, bis sie von ihrer Tochter gestoppt werden musste, weil sich schon eine Schlange hinter ihr gebildet hatte. Die Tochter lächelte entschuldigend, führte ihre Mutter zu einem Stuhl neben dem Buffet und kümmerte sich darum, ihr etwas zu essen zu besorgen. Richard war ihr mit den Augen gefolgt und hätte auch gerne etwas gegessen, da er bereits begann, das Bier zu spüren, aber es waren noch zu viele Hände zu schütteln, bevor es so weit sein sollte.

Irgendwann schaltete er einfach ab, nickte nur freundlich, öffnete Flaschen und beobachtete Harry hinter seinem monströsen Grill. Er beneidete ihn auf eine eigenartige Weise, vor allem wegen seiner Fähigkeit, ständig reden zu können. Richard war eher ein stiller, zurückgezogener Typ, der erst einmal abwartete und auftauen musste, bevor er sich in Gesellschaft anderer wohlfühlte – deswegen war ihm diese Veranstaltung auch eigentlich etwas zuwider, zumal Karoline und er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit standen. Für Harry schien das nicht zu gelten, er redete unablässig und mit jedem, wusste auf alles eine Antwort und lachte in einer Tour. Sprach ihn einer auf das Wetter an, war er sofort Feuer und Flamme, kam der Nächste mit einer Bemerkung zum Fußballspiel am letzten Wochenende vorbei, hatte er auch hier eine schlagfertige Antwort parat und zeigte Fachwissen. Richard beruhigte sich etwas mit der Vorstellung, dass Harry wahrscheinlich schon lange hier wohnte, sich erst im Laufe der Jahre diese Fähigkeit angeeignet hatte und sich zudem sicher fühlen konnte, da er jeden hier kannte und keine Überraschungen lauerten, wenn er etwas Unbedachtes sagte, aber er konnte sich trotzdem nicht vorstellen, dass er selbst einmal so locker mit so vielen Menschen umgehen könnte, sogar wenn er sein ganzes Leben hier verbringen würde. Dieser Gedanke beschäftigte ihn eine Weile, wieso »würde«? Genau das war doch ihr Plan, sie wollten nie mehr umziehen, hatten sie gesagt, sie hatten die Größe des Hauses genau danach ausgesucht, damit sie als Familie wachsen konnten, aber trotzdem nachher nicht vor einer Unmenge an leeren Zimmern stehen würden, wenn die Kinder einmal aus dem Haus waren. Ihn hatte es geschüttelt bei dem Gedanken daran, denn dieser Zeitpunkt würde ja wahrscheinlich erst in zwanzig Jahren eintreten, dann wären sie beide Mitte fünfzig. Es war auch Karoline gewesen, die auf den Umzug gedrängt hatte, aber ihre Argumente waren schlüssig, und er war verliebt genug, um ihr zu folgen, denn das fröhliche Gesicht, das sie machte, wenn sie von ihrem zukünftigen, gemeinsamen Haus mit Garten sprach, mochte er am liebsten jeden Tag sehen und dann auch den ganzen Tag, wenn das möglich war.

Er widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Schlange von Nachbarn, die sie nun beinahe abgearbeitet hatten und an deren Spitze jetzt Eva und Sebastian standen, die ebenfalls schon vorstellig geworden waren, und an die sich Karoline und Richard noch erinnerten. Sie hatten nach den Begrüßungen der Nachbarn über die beiden gesprochen und waren sich einig, dass irgendetwas an ihnen seltsam war. Eva war eine freundliche Person, dabei aber auch sehr laut, sie lachte beinahe aufdringlich und kam bei Unterhaltungen ihrem Gegenüber manchmal sehr nah, was besonders Richard fast unangenehm, Karoline wiederum aber äußerst sympathisch fand. Sebastian hingegen schien das reine Gegenteil zu sein, er war zurückhaltend, beinahe schüchtern und fühlte sich auf der Feier offenbar überhaupt nicht wohl, es hatte den Anschein, als dächte er die ganze Zeit daran, dass er lieber woanders wäre. Auch zwischen den beiden bestand eine merkwürdige Beziehung: Während Eva von einer Gruppe zur anderen lief und sich an den Gesprächen beteiligte, dackelte Sebastian oft nur hinter ihr her, blieb dann aber zeitweilig allein stehen und aß schweigend von einem Pappteller. Dann wieder gingen sie gemeinsam herum, lachten sogar zusammen und zeigten ein sehr inniges Verhältnis, worauf sie ihn nur Minuten später wieder vergessen zu haben schien und ihn einfach stehen ließ.

Eine endlos scheinende Zeit später waren die Begrüßungen endlich abgeschlossen, es trafen zwar vereinzelt immer noch Nachbarn ein, aber diese mischten sich einfach in die Menge und kamen nur kurz vorbei, um die Neuankömmlinge und Gastgeber zu begrüßen, diese standen aber nicht mehr auf dem Präsentierteller, sondern waren in der Zwischenzeit ebenfalls in Unterhaltungen verwickelt, was ihnen sehr recht war, da die Aufmerksamkeit jetzt etwas von ihnen abrückte. Sie verbrachten eine Zeit lang bei Harry am Grill und ließen diesen einfach reden, um sich ein wenig zu entspannen und passiv herumzustehen, eine Kleinigkeit zu essen und sich in das Gefüge ihrer zukünftigen Heimat einzufühlen, was mit steigender Anzahl geleerter Flaschen auch besser und leichter gelang. Karoline sah ihren Mann irgendwann an und flüsterte ihm zu »Du lächelst ja«, was dieser sehr erstaunt aufnahm und erst nach einem kurzen Moment mit einem noch breiteren Lächeln quittierte, als ihm auffiel, dass sie recht hatte und er sich tatsächlich wohlfühlte und allen Grund hatte, das auch nach außen zu zeigen. Sie schraken beide zusammen, als Harry mitten aus einer Erzählung heraus plötzlich laut wurde und quer über den Platz brüllte.

»So, sind jetzt alle da? Fehlen noch welche? Hey, kommt ihr mal alle rüber?«

Karoline und Richard befürchteten das Schlimmste und wappneten sich innerlich bereits, um auf alles vorbereitet zu sein. Würde es eine Aufnahmeprüfung geben? Mussten sie irgendwelche Tests bestehen, peinliche Fragen beantworten oder dämliche Spiele aufführen? Würde man sie nötigen, eine Antrittsrede zu halten, sich auf die Bank zu stellen, damit jeder sie begaffen könnte wie eine Kuriosität auf einer Kirmes? Würde man sie anfassen, begutachten, sie Prüfungen unterziehen, um feststellen zu können, ob diese Neuen, die ohne um Erlaubnis zu fragen in die fest gefügte Gemeinschaft eingedrungen waren, zu ihnen passten? Wie schlimm würde es werden, wie stark mussten sie bluten? Richard fing an zu schwitzen und suchte Karolines Hand, fand sie und drückte sie heftig. Sie streichelte seinen Handrücken mit ihrem Daumen und nickte ihm ermutigend zu, obwohl sich ähnliche Gedanken auch in ihrem Kopf jagten. Gemeinsam schafften sie es, das Unbehagen und ihre Unsicherheit auf ein erträgliches Maß zu reduzieren und sich dem zu stellen, was da kommen mochte.

»Nachbarn!«, rief jetzt Harry, »Freunde!« Er machte eine dramatische Pause. »Alle da? Gut. Also, ich bin kein großer Redner«, begann er, wurde aber sofort von allgemeinem Gelächter unterbrochen, sodass er beschwichtigend die Hände heben und einige Zeit warten musste, bis wieder Ruhe eingekehrt war. Er grinste selbst über beide Ohren und fuhr fort: »Okay, ich bin ein Redner, zugegeben, aber kein großer. So, Ruhe jetzt!« Er lachte noch einmal kurz auf, sah seine Opfer an und redete dann weiter. »Ich will es auch kurz machen, ihr habt alle Hunger und Durst, und was die beiden hier aufgetischt haben, ist ja fast unglaublich, damit können wir noch zwei oder drei weitere Feste veranstalten. Haha. Vielen Dank schon mal dafür«, wendete er sich kurz an die beiden und sprach dann wieder in die Menge: »Ihr kennt die Prozedur, hier vorne am Grill steht das Sparschwein, gebt viel, gebt reichlich, wir wollen uns hier nicht lumpen lassen, oder?« Es gab zustimmendes Gemurmel. »Das dachte ich mir, ich mache direkt mal den Anfang.« Karoline und Richard wussten nicht, worum es ging, und sahen sich fragend an, während Harry in seine Gesäßtasche griff, ein Portemonnaie herausholte und mit einer dramatischen Mimik darin herumsuchte. Schließlich förderte er einen Fünfzigeuroschein zutage, wedelte damit herum, damit jeder ihn sehen konnte, und faltete ihn dann umständlich zusammen. Er griff hinter sich und holte ein bemerkenswert hässliches Porzellanschwein hervor, in das er den Schein stopfte. »So, Leute, nachmachen!«, befahl er und reichte das Schwein dem Erstbesten, der in seiner Nähe stand, und bedeutete diesem, sein Geld zutage zu fördern, indem er Daumen und Zeigefinger in einer eindeutigen Geste aneinander rieb. Dann wendete er sich Karoline und Richard zu, die nicht glauben konnten, wessen sie hier Zeuge wurden. Besonders Richard schämte sich innerlich für seine Gedanken, die er noch kurz vor der Feier gehabt hatte. Er hatte es als reichlich unverschämt empfunden, dass ihnen diese Grillfeier praktisch aufgezwungen worden war und sogar kurz mit dem Gedanken gespielt, diese abzusagen und Harry zur Rede zu stellen, wie er es sich einfallen lassen konnte, sie zu verpflichten, alle Nachbarn einzuladen. Er bereute, dass er an das Geld gedacht hatte, das sie diese Feier kostete, besonders jetzt, da allein Harry ihnen schon einen guten Teil davon zurückbezahlt hatte. Er wusste nicht, was er sagen sollte, und sah Karoline verstohlen an, die ihm aber nur gütig zulächelte. Doch auch sie war erstaunt von der Freigiebigkeit der Nachbarn und erinnerte sich nur zu gut an ihr Unbehagen, als Harry sie genötigt hatte, für alle einzukaufen, aber vielleicht war auch gerade das seine Absicht, vielleicht war auch genau das das Spiel, das sie spielen wollten. Sie musste sich eingestehen, dass es wunderbar funktioniert hatte, denn die Überraschung, dass sie die Nachbarn mehr als entschädigten, verwandelte den anfänglichen Ärger über den Zwang in mehr als Bereuen über ihren Widerwillen und resultierte in zutiefst freundschaftliche Gefühle für diese überaus netten Menschen. Hätte Harry einfach gesagt, dass sie eine Feier veranstalten wollten und jeder das mitbrächte, was er gerne aß, hätte die Unmittelbarkeit gefehlt, es wäre zwanglos gewesen, sie wären zwar weiterhin der Mittelpunkt und Anlass der Feier gewesen, aber diese direkte Verbindung des freundschaftlichen Zwangs hätte gefehlt. Hätte Harry ihnen vorher gesagt, dass für ihre Aufwände entschädigt würden, wären sie nur Ausführende gewesen, die für die anderen eingekauft hätten, wohl wissend, dass sie selbst nichts investieren mussten. Karoline war sehr zufrieden mit diesem Spiel, das sie als reinen Spaß empfand, während Richard sich unwohler fühlte, je länger er darüber nachdachte. Es stimmte, dass so die Freude über die Spenden der Nachbarn viel größer war, aber waren sie nicht dennoch einer Prüfung unterzogen worden, hatte man sie nicht trotzdem getestet? Was wäre passiert, wenn sie zu wenig eingekauft hätten oder zu billig? Trotz aller Freundlichkeit und obwohl sie offenbar »bestanden« hatten, fühlte er sich auf dem Prüfstand, und das gefiel ihm nicht wirklich. In der Zwischenzeit war das Sparschwein herumgegangen und wieder bei Harry gelandet, der es jetzt hochhielt.

»Vielen Dank! Ich stelle das Schweinchen hier an den Grill, wer noch nicht reichlich gespendet hat, möge das im Laufe des hoffentlich langen Abends noch nachholen. So, und jetzt zum Schlusswort, endlich, oder? Haha. Also, ich als Pate heiße euch beide, Karo und Ritsch … haha, kleiner Scherz, Richard, herzlich willkommen hier bei uns. Möge es euch gefallen, ähm, seid fruchtbar und mehret euch, was weiß ich, also, ihr wisst schon.«

Karoline hätte nicht gedacht, dass jemand wie Harry einmal in Verlegenheit kommen würde und nach Worten ringen musste. Sie sah Richard an, aber der starrte nur ins Leere, er war immer noch bei dem Moment, in dem Harry ihn beinahe mit seinem verhassten Kosenamen angeredet hatte. Woher stammte diese Information? Woher wusste Harry, dass er diesen Namen nicht ausstehen konnte? Und warum brachte er das hier aufs Tapet? Aber er kam nicht weiter mit seinen Überlegungen, denn Harry trat jetzt hinter seinem Grill hervor, zwängte sich zwischen die beiden und hatte noch einen Satz in petto.

»So, also, eins noch, ich würde sagen, wir – und ihr natürlich auch – haben jetzt hier den Himmel auf Erden! Haha.« Einige Stimmen wurden laut, Harry wurde zur Ruhe gerufen, jemand meinte, nun reiche es aber, und jetzt kam auch seine Frau Nicole aus der Menge und berührte ihn am Arm, als müsste sie ihn aus einer anderen Sphäre zurückholen. »Alles klar, Harry, fertig jetzt, oder?«, sagte sie bestimmt aber mit einem Lachen. Der nickte nur müde, als hätte er gerade eine schwere sportliche Leistung hinter sich gebracht und sich völlig verausgabt. Richard war froh, dass die Situation vorbei war und sich jeder wieder um etwas anderes kümmern konnte und sie nicht – schon wieder – im Mittelpunkt standen. Er winkte dankend zu Harry herüber und wandte sich dann Karoline zu, deren Ausdruck ihn im ersten Moment erschrak. »Was ist …«, begann er, aber dann wusste er es. In ihren Augen standen Tränen, sie blickte zu Boden, um es niemanden sehen zu lassen, und umarmte dann ihren Mann, ihr Gesicht in seine Jacke vergrabend. Er legte ihr den Arm um die Schulter und streichelte sie sanft über das Haar. »Schon gut«, murmelte er, mehr zu sich selbst, wie um sich zu beruhigen und sich aus der Situation zu entlassen, sich zu erlösen von dem Sturm der Emotionen, die ihn in den letzten Minuten überschwemmt hatten. Alles war gut, sagte er sich, alles würde gut sein.

Es dauerte einige Minuten, bis Karoline sich wieder von ihm löste, und glücklicherweise war es dunkel genug, sodass niemand ihr Gesicht näher betrachten konnte. Sie hatten vergessen, wo sie ihre Getränke hingestellt hatten, und holten sich neue. Richard fragte, ob sie noch etwas essen wolle, aber sie schüttelte nur schweigend den Kopf. Er gab ihr einen Kuss und griff dann nach einem sauberen Pappteller, um sich etwas vom Buffet zu holen. Als er zurückkam, war Karoline in eine Unterhaltung mit Nicole verwickelt, die ihr vertraut die Hand auf den Arm legte. Hatte sie ihre Tränen gesehen? Richard konnte es nicht beurteilen und wurde in diesem Moment von Sebastian angestoßen, der von ein paar Kindern gejagt wurde und sich rückwärts durch die Menge schob.

»Hey, Entschuldigung«, meinte er im Vorübergehen und blieb dann stehen. Richard hatte seinen Namen natürlich schon wieder vergessen, was ihm peinlich war, aber er war schon betrunken genug, dass es ihm nicht zu unangenehm war, noch einmal nachzufragen.

»Ich weiß, du hast dich schon vorgestellt …«, begann er, wurde aber sofort unterbrochen.

»Sebastian, Haus Nummer Zehn, direkt neben euch. Ich weiß, das ist alles zu viel auf einmal, was? Ich habe auch Monate gebraucht, bis ich die Namen halbwegs auf der Reihe hatte.«

Richard blickte ihn dankbar an.

»Kein Bier für dich?«, erkundigte er sich und hielt seine Flasche hoch, als müsste er die Frage erklären.

»Nein, leider. Ich arbeite im Außendienst und bin ständig mit dem Auto unterwegs. Eigentlich müsste ich schon im Bett sein, in sechs Stunden muss ich schon hinterm Steuer sitzen.«

»Oh. Am Wochenende?«

»Leider, ja. Morgen Anreise, dann Vorbereitungen, ich muss noch ins Lager und Sachen abholen, dann übermorgen Kundentermin in aller Frühe …«

Er machte eine ausholende Handbewegung, als wäre damit alles gesagt, und blickte Richard entschuldigend an. Der wusste auch nichts weiter zu sagen und überbrückte die peinliche Pause damit, Sebastian zuzuprosten und einen weiteren Schluck aus seiner Flasche zu nehmen.

»Na ja, das wird ja nicht die letzte Feier sein. Harry grillt eigentlich ständig, für den gibt es so etwas wie Jahreszeiten nicht. Einmal hat er hier im Park einen Pavillon aufgebaut, um im Herbst bei strömendem Regen grillen zu können. Leider war das Dach nicht hitzebeständig.« Er lachte ein fast lautloses Lachen und sah sich dabei nervös um, fand aber offenbar nicht das, wonach er suchte.

»Was verkaufst du denn?«, fragte Richard jetzt, weniger aus wirklichem Interesse, sondern einfach nur, um irgendetwas zu sagen, aber Sebastian war ebenfalls nicht bei der Sache oder wollte keine umfassende Auskunft geben.

»Was? Ach so, Prototypen für die Industrie, Fräsmaschinen und so etwas, ziemlich langweiliges Zeug, wenn man nicht damit arbeiten muss.«

»Und diese Dinger präsentierst du dann in irgendwelchen Firmen?«

»Auch, ja, manchmal nur Zeichnungen, manchmal Prototypen, oft stehe ich mir auch auf Messen die Beine in den Bauch und warte darauf, dass irgendjemand genau das sucht, was wir herstellen. Dabei trinke ich dann zu viel Kaffee, esse zu wenig und schlafe fast gar nicht.«

»Hört sich spannend an«, meinte Richard und empfand das tatsächlich so. Aber er merkte selbst, dass sich der Satz sehr ironisch anhören musste, was ihm leidtat, denn Sebastian schien eigentlich ein sehr netter Typ zu sein, den er nicht verletzen wollte.

»Na ja, manche Dinge sind schon nicht schlecht. Und man kommt viel herum, sonst ist es wahrscheinlich ein Job wie jeder andere. Was machst du so?«

Richard war auf dieses schnelle Umschalten nicht gefasst und musste sich erst einmal ein wenig sammeln, um zu wissen, was er machte. Was war das noch?

»Übersetzungen«, sagte er und zögerte zu lange, um noch eine Erklärung folgen zu lassen, sodass Sebastian nachhaken musste, dabei aber immer noch den Blick schweifen ließ, um das Gesuchte endlich zu finden, das sich offensichtlich einfach nicht zeigen wollte.

»Und was? Bücher?«

Richard nickte eifrig, er hatte den Faden wiedergefunden.

»Ja, manchmal auch das, aber sonst Broschüren oder einfach Texte für internationale Webseiten, zum Beispiel Firmen, die ins Ausland expandieren und ihre Seite jetzt auch auf Französisch brauchen.«

»Also übersetzt du Französisch?«

»Auch, aber nur juristisch Irrelevantes, sonst englisch.«

Sebastian hatte seine Suche aufgegeben und sah Richard jetzt direkt an, trotzdem klang seine nächste Frage merkwürdig desinteressiert.

»Was ist denn juristisch Irrelevantes?«

»Einfache Texte, die nichts mit Verträgen zu tun haben. Wenn du irgendwelche Verträge übersetzt oder allgemeine Geschäftsbedingungen, dann ist das juristisch relevant. Wenn du Sachen hast wie ›Klicken Sie bitte hier‹, dann nicht.« Er lächelte, es kam ihm vor wie eine Entschuldigung für minderwertige Leistung. Sebastian erwiderte die Geste abwesend.

»Verstehe. Und englisch? Da machst du dann auch Verträge?«

»Zum Teil, ja, in Zusammenarbeit mit spezialisierten Anwälten. Aber eigentlich übersetze ich am liebsten Bücher, da hat man mehr mit Sprache zu tun, da gibt es so etwas wie Melodie, das kommt in Verträgen leider überhaupt nicht vor.«

Sebastian nickte und schien angestrengt über etwas nachzudenken, so sehr, dass Richard ihn nicht unterbrechen mochte.

»Vielleicht komme ich mal auf dich zurück«, sagte Sebastian schließlich, »wir haben auch manchmal Dinge, die übersetzt werden müssen, Dokumente und Anleitungen, relativ technisch – machst du so etwas auch?«

»Nur teilweise, aber die Firma, für die ich arbeite, auf jeden Fall. Ich kann dir ja mal meine Karte geben, beim nächsten Mal, ich war jetzt gerade nicht auf Geschäftskontakte gefasst.«

Sebastian nickte, blickte noch einmal in die Runde und verabschiedete sich dann. »Hör mal, es tut mir leid, aber mir wird das zu spät hier, okay?«

»Ja, klar, kein Problem, schön, dass du trotzdem da warst«, beeilte sich Richard zu sagen und fand dann seine Antwort etwas überschwänglich, konnte sie aber jetzt nicht mehr zurücknehmen. Doch Sebastian war nichts aufgefallen, er streckte Richard die Hand hin, schüttelte sie und drehte sich ohne ein weiteres Wort um. Richard suchte nach Karoline und fand sie nach einer Weile in eine Unterhaltung mit zwei Nachbarinnen verwickelt, deren Namen er schon wieder vergessen hatte. Er wollte nicht stören, also schlenderte er zu den Biervorräten und nahm sich eine weitere Flasche. Aus der Ferne beobachtete er seine Frau und erinnerte sich an ihre Regung, die Rührung, die sie angesichts Harrys Wortspiel gezeigt hatte. Ein Scherz, meinte Richard, den er selbst gar nicht so gelungen fand, aber er ermahnte sich zu weniger Strenge. Harry hatte es nett gemeint, er war sehr freundlich gewesen, hatte seine Rede persönlich gestaltet und was das Wichtigste war: Er hatte Karoline erreicht.

Nach und nach verabschiedeten sich die Familien, die mit Kindern auf die Feier gekommen waren, und dankten ihnen für die gelungene Veranstaltung. Richard wusste damit nicht viel anzufangen, schließlich hatten die Nachbarn die Feier bezahlt und, wenn alle so freigiebig gewesen waren wie Harry, sogar noch um ein Vielfaches darüber hinaus. Er wusste mit diesem Umstand nicht umzugehen, fand es aber auch seltsam, sich für die Spende zu bedanken, also sagte er nur, dass er sich freue, dass sie gekommen waren und bis bald und ähnliche Dinge. Es war schon spät in der Nacht, als ein paar tapfere Gestalten der Kälte weiterhin trotzten. Harry war noch da und grillte unermüdlich weitere Würstchen, die weiß Gott wer alle essen sollte. Nicole war nach kurzer Abwesenheit, in der sie die Kinder ins Bett gebracht hatte, ebenfalls wieder da und trank erstaunliche Mengen von Bier, wie Karoline leise bemerkte. Eva stand mit Max und Herrn Fassbender herum und lachte lautstark über deren Erzählungen, von denen sie aus der Entfernung nichts mitbekamen. Dann gab es noch zwei, drei weitere Personen, dessen Namen Richard entfallen waren, und die Nachbarin mit dem müden Gesicht, die auf einer Parkbank eingeschlafen war, einen Pappteller mit einem Haufen Kartoffelsalat auf ihrem Schoß. Als die letzten Gespräche langsam versiegten und selbst Harry ruhiger wurde, räumten sie das Buffet ab und warfen Pappteller, Plastikbestecke und zerbrochene Flaschen in riesige blaue Müllsäcke.

»Lassen wir die Schüsseln einfach hier stehen«, meinte Harry, »die werden morgen schon abgeholt, schlecht wird bei der Kälte ja nichts.«

»Sollen wir die Sachen nicht besser mit zu uns nehmen?«, fragte Nicole und schielte dabei ein bisschen, vielleicht wäre es besser, sie keine schweren Dinge mehr tragen zu lassen, dachte Richard, wollte sich aber aus der Planung lieber heraushalten.

»Und dann?«, fragte Harry.

»Nur so, dann kommt kein Ungeziefer dran.«

»Ungeziefer? Bei Bodenfrost? Außerdem haben die Schüsseln fast alle einen Deckel.«

Nicole zuckte mit den Schultern und entfernte sich ohne ein weiteres Wort in Richtung ihres Hauses.

»So, ich bin dann auch weg«, sagte Harry, der ihr nachblickte. »Bei uns ist die Nacht um sechs Uhr zu Ende, ob wir wollen oder nicht. Wir haben da so zwei Wecker zu Hause, die lassen sich nicht abstellen und gehen ständig vor. Haha.«

Richard brauchte einen Moment, bis er verstanden hatte, und auch Karoline guckte etwas ratlos aus der Wäsche, aber da niemand mehr antwortete, war das wohl auch in Ordnung.

Erst als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, merkten sie, wie müde sie eigentlich waren. Und wie betrunken. Sie gingen in die Küche und teilten sich eine Flasche Wasser, gerne hätten sie sich noch etwas auf ihr Sofa gesetzt, aber das war immer noch unmöglich. Richard holte einen Zettel heraus, schrieb »Sofa aufräumen« darauf, dazu eine Unmenge an Ausrufezeichen und klebte ihn an den Kühlschrank. Als er sich wieder herumdrehte, liefen seiner Frau Tränen über das Gesicht.

»Karo, was ist denn?«, fragte Richard erschrocken. Sie starrte ihn an und sagte nichts, aber sie lächelte dabei, daher entspannte sich Richard wieder ein bisschen.

»Was ist denn los?«

Karoline ruderte mit den Armen, verzog das Gesicht und antwortete nicht. Sie griff nach einer Box mit Taschentüchern, aber die war leer, also wischte sie sich Augen und Nase an ihrem Ärmel ab. Richard stand geduldig vor ihr und wartete.

»Wir sind zu Hause«, schluchzte sie, und die Tränen liefen erneut. Richard nahm sie in den Arm, und so standen sie noch lange, jeder in seine Gedanken versunken, aber glücklich.

Nachbarn

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