Читать книгу Nachbarn - Jan Holmes - Страница 9

Оглавление

Kapitel Vier – Familie

Am nächsten Tag wurden sie durch ausdauerndes Klingeln an ihrer Haustür geweckt. Zunächst meinten sie, jemand müsse sich vertan haben, oder die Kinder würden sich einen Streich erlauben, aber es hörte einfach nicht auf, deswegen schlich Richard mit schwerem Kopf ins Erdgeschoss und öffnete. Vor der Tür stand der Typ mit dem kleinen Mund – wie hieß der doch gleich? – er trug einen Jogginganzug und einen Fußball unter dem Arm. Richard war von der Sonne geblendet, blinzelte an ihm vorbei und sah noch eine Handvoll ähnlich gekleideter Nachbarn auf dem Spielplatz warten.

»Was ist los? Kater?«, lachte der Kerl. »Das Beste dagegen ist ein bisschen Sport, wie sieht es aus?«

»Heute? Jetzt?« Richard konnte sich nicht vorstellen, sich in den nächsten Stunden überhaupt übermäßig zu bewegen, geschweige denn, Sport zu treiben.

»Ja klar. Wir spielen jeden Sonntag hinten auf dem Bolzplatz neben der Schule Fußball. Sei dabei!«

»Ist das euer Ernst?«

»Glaubst du, ich laufe zum Spaß so rum und führe den Ball hier Gassi?«

Richard schüttelte sich und sah seinem Gegenüber jetzt zum ersten Mal längere Zeit gerade ins Gesicht, so gerade, wie er es in seinem Zustand vermochte. Natürlich, er meinte es ernst. Er blickte die Straße entlang, so als könnte dort die Rettung auftauchen, die ihn aus dieser Situation befreien würde, aber nichts weiter passierte, es war eiskalt, die Sonne schien hell, zu hell, vermochte aber nicht, etwas Wärme zu verbreiten, schon fing Richard an zu zittern. Die Luft roch frisch, aber ihm war jetzt nicht danach, die Natur zu genießen, er wollte zurück in sein Bett, solange es noch warm war. Auf dem Platz sah er die anderen sich geduldig aufwärmen, Chris saß schon wieder auf ihrer Bank, von Petra war noch nichts zu sehen, vielleicht hatte auch sie sich gestern etwas übernommen, Richard konnte sich kaum daran erinnern, ob sie überhaupt auf der Feier gewesen war. Ihm war jetzt richtig kalt, und der Mann, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, wartete dringend auf eine Antwort, die Richard partout nicht einfallen wollte.

»Hör mal …«, fing er an, »heute nicht, okay? Beim nächsten Mal. Ich bin einfach noch nicht fit, um jetzt herumzurennen, ich glaube, ich würde nach zwei Metern zusammenbrechen.«

Er befürchtete, sich noch weiter rechtfertigen zu müssen, aber die Situation löste sich so schnell auf, wie sie gekommen war. Überrascht blieb Richard zurück, hielt sich am Türrahmen fest und wartete noch einige Sekunden ungläubig, bevor er wieder ins Haus ging.

»Okay, alles klar, kein Problem. Nächste Woche dann, wir haben den Platz immer von zehn bis elf.«

Und schon war er verschwunden.

Auf dem Weg zurück zum Schlafzimmer ärgerte sich Richard jetzt über seine Zusage. Er wollte überhaupt nicht Fußball spielen, diese Woche nicht, nächste nicht, überhaupt nicht. Er fuhr ganz gerne mal ein paar Kilometer mit dem Rad, aber für eine andere Sportart hatte er nicht viel übrig, noch nicht einmal passiv auf dem Sofa. Warum hatte er diesem … er musste unbedingt herausfinden, wie der Kerl hieß! Warum hatte er ihm nicht gesagt, dass er generell kein Interesse hatte? Er hatte für die nächste Woche zugesagt und brauchte dann wieder eine gute Entschuldigung oder musste zwangsläufig mitmachen. »So ein Mist!«, sagte er laut, als er zurück ins Bett kroch. Karoline setzte sich erstaunt auf.

»Was ist denn?«

»Ich habe gerade diesem Typen versprochen, dass ich nächste Woche mit ihnen Fußball spiele.«

»Welchem Typen?«

»Diesem … einen … der war gestern auch da.«

»Ach so, der …«, meinte Karoline mit hochgezogenen Augenbrauen und nicht verhohlenem Spott.

»Ja … du weißt schon, der mit der müden Frau und dem frechen Kind, keine Ahnung, wie der heißt.«

»Frank«, wusste Karoline.

»Echt? Na ja, egal, der war auf jeden Fall da, dazu noch ein paar andere, die spielen jeden Sonntag Fußball.«

Karoline ließ sich wieder in die Kissen fallen und starrte an die Decke.

»Ja und?«

»Wie, ja und?«

»Warum gehst du nicht mit?«

»Weil ich nicht will.«

»Und warum gehst du dann nächste Woche?«

»Weil ich mich … weiß ich nicht, ich wollte den nur loswerden und habe gesagt, ›heute nicht, das nächste Mal‹, oder so. Was man eben so sagt.«

Seine Frau brummte und zog sich die Decke über den Kopf, unter der sie zum ihm herüberkrabbelte und anfing, ihn am Bauch zu kitzeln.

»Hör auf.«

»Was ist denn?«

Jetzt brummte Richard und wusste nicht, was eigentlich mit ihm war, er ärgerte sich nur über sein Versprechen.

»Vielleicht ist das ganz nett«, tönte es dumpf unter der Decke hervor.

»Ja, ganz nett … vielleicht …«

»Och, Mann, was ist denn los? Wenn du nicht hin willst, dann sag’s ihm halt und gut.«

»Ja, vielleicht mache ich das.«

»Okay.«

»Aber erst mal brauche ich Kopfschmerztabletten, willst du auch eine?«

»Zwei.«

Er ging ins Badezimmer, um die Tabletten zu holen, hatte aber vergessen, dass hier immer noch ein unübersehbares Chaos herrschte, und fand nichts. Er fluchte laut, ging zurück ins Schlafzimmer, hatte jetzt aber die Lust verloren, sich noch einmal hinzulegen, und drehte sofort wieder um.

»Ich mache Frühstück«, kündigte er an und verschwand auf der Treppe.

»Kaffee!«, rief ihm Karoline hinterher und wickelte sich noch einmal in die Decken ein, aber die Wärme schien ihren Kater nur noch zu verstärken, also stand auch sie auf, zog sich den Pullover von gestern an und rümpfte die Nase, als ihr der Grillgeruch in die Nase stieg, aber sie hatte gerade nichts anderes da.

Sie saßen bei einem späten Frühstück, als es Karoline siedend heiß einfiel.

»Kommen heute nicht deine Eltern?«

Richard verzerrte das Gesicht wie unter plötzlichen Schmerzen und nickte gequält.

»Scheiße, das hatte ich vergessen, bei dem ganzen Grillparty-Heckmeck.«

»Ich auch …« Karoline blickte auf das Chaos um sie herum. »Können wir denen nicht absagen?«

Richard schüttelte zögerlich den Kopf.

»Ich glaube nicht, die sind wahrscheinlich schon unterwegs, die fahren doch fast drei Stunden bis hierhin. Außerdem hat meine Mutter bestimmt Kuchen gebacken oder anderen Aufwand betrieben. Und irgendwann kommen sie doch.«

»Aber ausgerechnet heute?«

»Ich weiß …«

Er stand auf, ging zur Kaffeemaschine, aber die Kanne war leer. Er schüttelte sie, als würde das etwas daran ändern, war aber zu faul, neuen aufzusetzen, und schüttete sich so nur etwas Milch in den Rest seines Kaffees. Er trank einen Schluck, stellte die Tasse dann aber angewidert weg.

»Sollen wir deine Eltern nicht auch noch einladen?«, fragte er schließlich. Karoline sah ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

»Sonst noch was?«

»Nein, im Ernst, dann haben wir das auch hinter uns, sonst müssen wir nächste Woche noch einen Termin machen. Außerdem können sich die vier dann ein bisschen miteinander beschäftigen, und wir müssen hier nicht den Alleinunterhalter spielen.«

Sie wog den Kopf hin und her, aber die Idee gefiel ihr gar nicht. Es war nicht so, als würden sie sich mit ihren Eltern nicht verstehen, aber trotz allem waren solche Besuche immer mit Stress verbunden, speziell ihre Mutter sah stets in alle Ecken, und seine musste ständig irgendetwas tun, aufräumen, putzen, organisieren oder umstellen, sodass man nachher seine Dinge kaum wiederfand. Aber das würde bei der grandiosen Unordnung hier auch kaum etwas ausmachen, dachte sie jetzt. Je länger sie darüber nachgrübelte, desto angenehmer wurde ihr die Vorstellung, zwei Besuche zusammenzulegen und die Verpflichtung dazu so für die nächste Zeit erledigt zu haben.

»Du hast wahrscheinlich recht«, sagte sie schließlich, »dann telefoniere ich wohl mal eben.«

Sie ging nach oben, um ihr Telefon zu suchen, Richard hörte sie anschließend kurz reden, dann kam sie wieder herunter. Er blickte ihr erwartungsvoll entgegen, konnte aber nicht warten, bis sie von selbst mit der Sprache herausrückte.

»Wie viel Zeit haben wir?«

»Zwei Stunden.«

»Scheiße. Dann los.«

»Was willst du machen?«

»Ordnung.«

»Das klappt doch eh nicht. Lassen wir einfach alles so, wie es ist, ob wir jetzt noch zwei oder drei Kisten mehr bewegt haben, fällt dann auch nicht auf. Lass uns lieber duschen.«

Richard sah ein, dass sie recht hatte, also räumten sie den Frühstückstisch auf und sorgten dafür, dass wenigstens sie selbst nicht mehr so zerstört aussahen wie das Haus.

Kaum waren sie damit fertig, in einer Zeit, die sich niemals nach zwei Stunden angefühlt hatte, sondern nur wie ein kleiner Bruchteil davon, klingelte es wieder an der Tür. Karoline und Richard sahen sich an, suchten nach einer Uhr an der Wand, aber da hing noch keine.

»Waren das zwei Stunden?«

»Im Leben nicht. Vielleicht wieder die Nachbarn.«

Aber noch bevor sie die Tür öffnen konnten, wurde ihre Vermutung widerlegt, denn Karoline hörte die raue und immer etwas zu laute Stimme ihres Vaters schon durch die Tür.

»Sie sind da«, sagte sie unnötigerweise über ihre Schulter zu Richard hin und öffnete.

»Hallo Mama, Hallo Papa«, rief sie, und es folgte ein ausgiebiges Umarmen, Küssen und Austauschen von Floskeln wie »Du siehst müde aus, Kind«, was Karoline peinlich berührt abzuwehren bestrebt war. Richard war versucht zu lachen, wusste aber, dass ihm dieselben Sprüche blühten, wenn seine Eltern erst einmal da waren.

»Jetzt kommt doch mal rein, es ist ja eiskalt«, sagte jetzt Karoline und schob ihre Eltern vor sich her in den Flur und Richard entgegen, der ebenfalls sofort in Beschlag genommen wurde und die übliche Prozedur geduldig über sich ergehen ließ.

»Hallo Loni, Hallo Heinz«, warf er zwischen die sich unablässig über ihn ergießenden Fragen ein, die er vorerst ignorierte. Wie denn der Umzug gewesen sei, wollte man wissen, in welcher Himmelsrichtung denn der Garten liege, ob sie schon die Nachbarn kennengelernt hätten, der Park sei ja wirklich toll, das sei ja eine richtige kleine Oase hier, mitten in der Stadt, dabei aber doch noch verkehrsgünstig gelegen, sie hätten jetzt keine Dreiviertelstunde gebraucht, ob man denn hier gut einkaufen könne und wie weit sie denn mit dem Einräumen seien, ob man etwas helfen solle oder schon einmal einen Kaffee bekommen könne, wo denn der Kühlschrank sei, man wolle doch den Sekt kalt stellen. Bei diesem Stichwort wurde Richard hellhörig, und sein Kopf, der durch die weiterhin mit Abwesenheit glänzenden Schmerztabletten fortgesetzt fröhlich vor sich hin pochte, war bereits in Alarmbereitschaft.

»Sekt?«, fragte er.

»Natürlich«, donnerte sein Schwiegervater fröhlich, »wir müssen doch auf euer Heim anstoßen. Also ich fahre heute nicht zurück. Oder, Loni?« Damit wandte er sich seiner Frau zu, die lachend die Augen verdrehte und so etwas wie »Wie immer« vor sich hinmurmelte, aber ihr Mann war schon weitergegangen und machte im Wohnzimmer erstaunt vor einem Turm von Kisten Halt.

»Da habt ihr ja noch was vor euch«, bemerkte er überflüssigerweise und begann, wahllos Sachen vom Sofa zu räumen und auf dem Boden wieder aufzustapeln. Innerhalb kurzer Zeit hatte er sich einen Sitzplatz geschaffen und ließ sich auf die Kissen fallen.

»Und wo sitze ich?«, fragte seine Frau, die es in der Zwischenzeit auch ins Zimmer geschafft hatte und die Kartons bereits missbilligend ansah, so als könnten diese jeden Moment über ihr zusammenstürzen und sie unter sich begraben. Heinz schob mit seinen breiten Händen einige Sachen beiseite und bedeutete ihr, sich doch neben ihn zu pressen, was sie dann auch tat.

»Kaffee?«, fragte Richard und verschwand schon in der Küche, froh darüber, sich noch einen Moment absetzen und Karoline das Feld überlassen zu können. Er blickte aus dem Fenster und sah ein ihm nur zu bekanntes Auto am Haus vorbeischleichen. »Das war es dann mit der Ruhe«, sagte er sich selbst und ging in den Flur, um das nächste Elternpaar hereinzulassen.

»Hallo«, begrüßte er die beiden, die kurz darauf freudestrahlend über den kleinen Weg kamen, der zum Haus führte, danach wiederholte sich das Fragen-ohne-Antwort-Spiel von vorhin noch einmal, und Richard ließ es lächelnd über sich ergehen. Er komplimentierte seine Eltern ebenfalls ins Wohnzimmer, wo sich Heinz aus dem Sofa wuchtete und Richards Eltern ein schallendes »Tag Ernst, Tag Inge, wie war die Fahrt?« entgegendonnerte.

Es war so, wie sie vermutet hatten, der Besuch beider Elternpaare zur gleichen Zeit entspannte die Lage ein wenig. Ihre Kinder liefen herum, sorgten für Kaffee und konnten sich zu einem guten Teil aus den Unterhaltungen heraushalten, die sich, wie so oft, um immer die gleichen Dinge drehten. Es wurde über die Großeltern geredet, die Nachbarn zu Hause, die Laufleistung des Autos und über Krankheiten und Todesfälle. Karoline und Richard saßen später träge herum und lächelten sich zwischendurch immer wieder erschöpft an, sie würden froh sein, wenn auch dieser Tag endlich vorbei und diese Pflichtübung geschafft war. Irgendwann holte Karolines Vater den Sekt aus dem Kühlschrank und nötigte auch ihnen jeweils ein Glas auf, um auf den gelungenen Umzug und den Start in ein neues Leben anzustoßen, und sie konnten sich nicht weigern. Widerwillig tranken sie mit und machten mit dumpfem Kopf eine gute Miene zu diesem Spiel. Es war bereits Nachmittag, als Richards Mutter plötzlich aufsprang und meinte, sie habe ja das Wichtigste vergessen. Sie holte sich den Autoschlüssel und verließ das Haus. Kurze Zeit später kam sie wieder und schleppte einen Blumenkasten vor sich her, den sie schnaufend im Wohnzimmer abstellte.

»Das ist nicht dein Ernst, oder Mama?«, fragte Richard und starrte mit Abscheu auf den dunkelgrünen Plastikkasten zu seinen Füßen, der mit Geranien bepflanzt war.

»Warte, kommt noch einer«, antwortete seine Mutter, seinen Einwand völlig ignorierend, und eine Minute später stellte sie voller Stolz einen weiteren Kasten vor ihm ab, selig lächelnd, als hätte sie ihm gerade das Geschenk seines Lebens gemacht.

»Was sollen wir denn damit? Wir haben doch noch nicht mal einen Balkon.«

»Aber ihr habt Fensterbänke, vorne im Kinderzimmer, das sieht doch bestimmt toll aus, ein bisschen Farbe ans Haus.«

»Arbeitszimmer«, korrigierte Richard, wurde aber nicht erhört. Er drehte sich zu Karoline herum, die aber nur mit den Schultern zuckte, sie würde seiner Mutter nicht widersprechen. Die beiden Väter unterhielten sich gerade über die Arbeit und nahmen keinerlei Anteil an der Situation, die Richard beinahe wie ein kleines Drama empfand.

»Mama, ich will die Dinger nicht«, sagte er jetzt bestimmt, aber seine Mutter hörte einfach nicht zu.

»Lass uns die doch mal auf die Fensterbänke stellen, nur mal so zum Gucken.«

»Mama, ich will keine Geranien, da muss ich auch nicht erst gucken!«

Richard wurde allmählich wütend und konnte sich nur schwer unter Kontrolle halten. Es war nicht so sehr der Umstand, dass seine Mutter Geranien mitgebracht hatte, sondern die Tatsache, dass sie seine Einwände völlig ignorierte. Er kam sich vor wie als kleines Kind beim Einkauf mit seiner Mutter, die ihn dazu nötigte, eine Hose nach der nächsten anzuprobieren, obwohl er lautstark protestierte, dass er die und die Farbe nicht ausstehen könne, das Anprobieren also völlig überflüssig sei, jedoch wurden seine Anstrengungen nur mit einem angedeuteten Lächeln abgetan. Und dieses Lächeln sah er auch jetzt, und obwohl er mittlerweile deutlich älter war, bedeutete es immer noch, dass er eben nur ein kleiner Junge blieb, der von seiner Mutter zu seinem Glück gezwungen werden musste. Schon packte diese sich jetzt einen Kasten und verließ das Wohnzimmer in Richtung des Treppenhauses, um ihre Dekorationspläne in die Tat umzusetzen.

»Mama, hör auf damit, nimm die Kästen wieder mit, ich will die Teile nicht haben!«, rief Richard ihr hinterher, erhielt aber natürlich keine Antwort. Karoline war zu Richard herübergegangen und legte ihm jetzt die Hand auf den Arm.

»Lass doch«, flüsterte sie, »wir können die Dinger immer noch wieder abbauen. Keinen Streit heute, okay?«

Richard sah sie an und vermutete, dass sie wahrscheinlich recht hatte, wenn es ihm auch äußerst schwerfiel, sich in dieser Situation zu beruhigen. Am liebsten hätte er seiner Mutter die Kästen aus der Hand gerissen und einfach vor die Tür geschleudert – und sie am besten direkt hinterher. Uralte Verletzungen heilen nie.

Schon kam seine Mutter wieder nach unten, sie atmete schwer, blieb vor ihm stehen und keuchte: »Hilf mir doch mal.« Richard wollte gerade aus der Haut fahren, aber Karoline hielt ihn zurück, nahm den zweiten Kasten auf und ging nach oben. Im Arbeitszimmer standen die Fenster offen, vor dem einen war bereits der erste Kasten auf der Fensterbank angebracht, an die zweite kamen sie erst heran, nachdem sie ein paar Kartons verschoben hatten, aber schließlich war auch dieser Kasten platziert und Inge entzückt.

»Das sieht doch gleich ganz anders aus, was meinst du?« Sie sah Karoline strahlend an. »Lass uns doch mal von unten gucken.« Und schon war sie verschwunden, Karoline fröstelte und schloss die Fenster, damit es nicht noch kälter wurde, dann folgte sie ihrer Schwiegermutter nach unten, die bereits vor dem Haus stand und vor Entzücken in die Hände klatschte.

»Jetzt noch ein paar Dinge im Vorgarten. Hier ein paar Blumen hin, winterfeste, da hast du dann auch keine Arbeit mit, das sieht viel freundlicher aus.« Dann neigte sie sich vertraulich zu Karoline herüber und sagte deutlich leiser, obwohl niemand in der Nähe war, der es hätte hören können, dass Richard sich schon wieder beruhigen werde, sie kenne ihn schließlich, er sei schon als Kind so bockig gewesen. Karoline dachte an die vielen kleinen Geschichten, die ihr Mann ihr über genau diese Situationen bereits erzählt hatte, und zog es vor, zu schweigen. Sie betrachtete die Fassade und musste zugeben, dass die Fenster mit den Blumen tatsächlich freundlicher aussahen als zuvor. Sie drehte sich herum und entdeckte an einigen der anderen Häuser ebenfalls Blumenkästen. Vielleicht hatte Richards Mutter recht, und er würde sich tatsächlich daran gewöhnen, dachte sie kurz, wusste aber im selben Moment, dass das nicht stimmte, dafür kannte sie Richard zu gut, er war einfach viel zu stur, um jetzt noch nachzugeben. Wenn er sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, dass er die Blumen nicht wollte, würde er davon nicht mehr abrücken und die Kästen entfernen, sobald seine Eltern wieder abgereist waren.

Die Kälte machte auch Inges Begeisterung irgendwann ein Ende, sodass sie nach ein paar Minuten wieder ins Haus gingen. Richard funkelte seine Mutter böse an, was diese übersah, Karoline lächelte ihm aufmunternd zu, aber auch das konnte seine Laune jetzt nicht mehr heben. Nun war es jedoch an Karoline, bittere Medizin zu schlucken, denn ihre Mutter hatte bereits das dritte Glas Sekt in der Hand, offenbar waren Heinz Pläne, dass sie zurückfahren sollte, nicht aufgegangen.

»Was ist denn jetzt mit dem Kinderzimmer?«, fragte sie Karoline, der sofort ihre roten Wangen auffielen, was sie direkt richtig als Warnsignal deutete, sie kannte ihre Mutter.

»Was denn für ein Kinderzimmer?«, gab sie genervt zurück, und selbst ein außenstehender Beobachter hätte gemerkt, mit welchem Widerwillen sie dieses Thema überhaupt aufnahm.

»Also Marie …«, begann ihre Mutter, aber das war für Karoline schon zu viel. »Hör mir auf mit Marie!«, sagte sie so laut, dass sie sich selbst beinahe ein wenig erschrak, so heftig hatte ihre Reaktion nicht sein sollen. Ihre Mutter war jedoch immun gegen jegliche Lautstärke, sie hatte eines ihrer Lieblingsthemen aufgenommen und würde nicht davon abgehen, bis sie losgeworden war, was sie zu sagen hatte. Ihr Mann witterte wie seine Tochter ebenfalls Gefahr und versuchte, die Wogen zu glätten, bevor der Sturm entfesselt war, aber er hatte den Mund noch nicht ganz geöffnet, als seine Frau schon weitersprach.

»Also, du weißt schon, dass ich gerne Großmutter …«, begann sie.

»Hör auf, Mama, hör auf! Ich will es nicht hören!« Karoline tobte jetzt, sah Richard hilflos an, aber der wusste auch nicht, wie er mit dieser Situation umgehen sollte, er war gedanklich immer noch bei den Blumenkästen und dabei, was ihre Freunde wohl darüber denken mochten. Hier saßen sie mit ihren Eltern, stritten sich um die immer gleichen Themen und wurden vielleicht gerade in diesem Moment von den Nachbarn schon als die Spießer mit den Blumenkästen abgestempelt, dabei hätten sie einfach nur ein wenig Ruhe gebraucht. Was war das für eine blöde Idee gewesen, die Eltern überhaupt einzuladen, vor allem so kurz nach dem Umzug! Hätten sie sich doch erst einmal eingerichtet, dann hätten die Eltern vor vollendeten Tatsachen gestanden, es hätte nichts mehr einzurichten gegeben, sämtliche Vorschläge, die in diese Richtung gegangen wären, hätten sofort abgewehrt werden können. Das hier ist unser Haus, hier bestimmen wir, wir richten es ein, wir statten es aus, wir wohnen hier! Er blickte auf und bemerkte, dass Karoline nicht mehr da war. Sie war in den Flur gerannt, hatte einige Momente herumgestanden und war dann auf der Gästetoilette verschwunden. Richard wusste nicht, was er zu tun hatte, sollte er hinter ihr hergehen oder die Gemüter der Eltern beruhigen? Schon kam Loni auf ihn zu und meinte in einem Tonfall, der Richard viel zu vertraulich war, dass Marie, Karolines Schwester, ja so bezaubernde Kinder habe und dass sie, Loni, so gerne noch einmal Großmutter werden würde, aber jetzt reichte es auch Richard.

»Ich weiß, Loni, ich weiß. Wenn es so weit ist, sagen wir dir als Erste Bescheid, okay? Jetzt lass uns erst einmal hier ankommen und unser Arbeitszimmer bis auf Weiteres auch zum Arbeiten nutzen.«

Seine Worte verhallten ungehört, die Väter hatten sich zur Vermeidung weiterer Komplikationen in der Zwischenzeit in die Küche begeben, öffneten und schlossen fachmännisch die Türen der Schränke und tauschten Allgemeinplätze über die Qualität der Ausführung aus. Richard sah etwas hilflos zu seiner Mutter herüber, aber die war nicht geneigt, ihm in dieser Situation beizustehen. Wahrscheinlich denkt sie genauso wie Loni, dachte Richard jetzt, besitzt aber wenigstens den Anstand, nicht ständig darüber zu reden.

»Arbeitszimmer«, schnaubte Loni jetzt fast verächtlich, »deine Übersetzungen kannst du auch hier machen, guck mal da«, sie zeigte auf das Fenster, das zum Garten hinausging, »hier kann doch auch ein Schreibtisch hin, dann habt ihr oben Platz genug für ein schönes Kinderzimmer. Wir waren letzte Woche noch bei Marie, die beiden sind so goldig, Marlon kann schon so toll sprechen, nächstes Jahr kommt er in den Kindergarten.«

»Ich weiß, Loni«, sagte Richard genervt, aber sie war jetzt einmal bei ihrem Thema und würde wahrscheinlich auch dann noch weiterreden, wenn er den Raum verließ, so wie ihre Tochter es bereits getan hatte.

»Und die kleine Jule, herrlich. Das wäre doch schön, wenn ihr auch Kinder hättet, meinst du nicht? Das ist ein echtes Geschenk, ich würde mich so freuen.«

»Ich weiß, Loni«, wiederholte Richard und ging jetzt tatsächlich in den Flur. Im Wohnzimmer hörte er seine Schwiegermutter weiter auf seine Mutter einreden, es war ihr offensichtlich egal, wer oder ob überhaupt jemand zuhörte. Richard klopfte vorsichtig an die Tür der Gästetoilette und bekam nur ein etwas zu lautes »Was ist?« zu hören. Die Stimme war brüchig, Karoline weinte augenscheinlich, was Richard ihr nicht verdenken konnte. Loni hatte das Kinderthema schon angesprochen, als er gerade ein paar Monate mit Karoline zusammen war, und es immer wieder auf den Tisch gebracht. Zuerst hatte er noch lächelnd abgewehrt und darauf verwiesen, dass sie sich ja erst eine kurze Zeit kannten, aber gegen Lonis Wunsch war kein Kraut gewachsen. Dass die beiden so gut zueinander passen würden, das sehe man doch sofort, warum warteten sie denn dann noch, sie würden ja auch nicht jünger, irgendwann sei es dann ja auch Zeit, sie wollten ihre Kinder doch nicht in einem Alter bekommen, in dem es beinahe zu spät sei, die Risiken nähmen ja ständig zu, man höre ja so viel, außerdem die anderen Eltern, wie würden sie sich das vorstellen, wenn sie im Kindergarten die Ältesten seien und die anderen Eltern ja schon fast ihre Kinder sein könnten. So ging das ewig und ewig weiter, irgendwann hatte bei Richard eine gewisse Resistenz eingesetzt, aber Karoline konnte ihrer Mutter die ständigen Fragen nicht nachsehen, sie sträubte sich innerlich dagegen, dass sie ihr immer Kontra geben musste, was regelmäßig in Geschrei endete und nicht selten zu vorzeitiger Abreise geführt hatte. Er klopfte noch einmal behutsam gegen die Tür, bekam aber nur ein lautes Schnäuzen zur Antwort, also ging er jetzt ebenfalls in die Küche, breitete entschuldigend die Arme aus und lächelte resigniert. Die Väter sahen ihn nur kurz an und unterhielten sich dann weiter über die Vorzüge eines Gasherds und den Umstand, dass Induktionsplatten gar nicht das hielten, was sie versprachen.

Der Nachmittag endete damit, dass Karoline die Toilette irgendwann verließ, sich aber weigerte, noch ein Wort mit ihrer Mutter zu sprechen. Richard stand auf verlorenem Posten, als er versuchte, zwischen den Parteien zu vermitteln, und hätte fast selbst noch einen Streit angefangen. Schließlich packte der Besuch seine Sachen zusammen und verließ das Haus, zurück blieben zwei verwirrte, ärgerliche und traurige Personen, die nicht wussten, warum es immer so enden musste.

Sie entschlossen sich, eine Pizza zu bestellen, und kauten lustlos darauf herum, die Ereignisse des Tages wirkten lange nach, keiner von beiden konnte die Auseinandersetzungen so einfach wegstecken und vergessen. Richard versuchte gar nicht erst, zu verstehen, warum Loni so sehr darauf beharrte, dass ihr Wunsch nach Enkeln erfüllt wurde. Das Einzige, was er sah, war ihre Respektlosigkeit. Es war, als würden Karolines und seine Wünsche überhaupt nicht existieren, als wären sie nur dafür da, ihrer Mutter und Schwiegermutter einen Wunsch zu erfüllen, ganz egal, was sie selbst eigentlich wollten. Der Grund für diese Haltung war Richard schlichtweg egal, auch interessierte ihn nicht, warum seine eigene Mutter sich so stur stellen konnte und einfach überhörte, was er ihr zu sagen hatte. Er hätte gerne gewusst, wie er in diesen Situationen reagieren sollte, wie er gelassener auftreten konnte und die Dinge nicht so an sich heranlassen würde, aber ihm fiel keine Lösung ein. Er blickte über den Tisch und sah in Karolines Gesicht, das immer noch ordentlich verquollen war, von ihr hatte er in dieser Hinsicht auch keine Hilfe zu erwarten. Er dachte, es sei vielleicht das Beste, die ganze Geschichte mit einem Witz abzutun und war kurz davor, sie zu fragen, wann sie denn ihre Nachkommenschaft angehen würden, bemerkte aber glücklicherweise selbst, dass dieser Scherz wohl nicht so gut ankommen würde. Daher saß er nur weiter herum und versuchte, sich zu merken, wie der Pizzaservice hieß, dessen Pizza ihm so überhaupt nicht schmeckte.

Karoline hatte ähnliche Gedanken, nur war sie noch tiefer verletzt als Richard. Ihr Empfinden wurzelte in dem ständigen Vergleich, dem sie ausgesetzt war. Egal worum es sich handelte, immer hieß es zuerst Marie, Marie und nochmals Marie. Als Karoline davon gesprochen hatte, ein Freiwilliges Soziales Jahr zu machen, hatte ihre Mutter auf Marie verwiesen, die sofort nach der Schule ihr Studium begonnen hatte. Als Karoline den Einfall hatte, einen Fabrikjob anzunehmen, um sich Geld für eine Weltreise zu verdienen, die sie später vielleicht nie mehr würde unternehmen können, war Marie das Beispiel dafür, wie man seine Zeit eben nicht an solche Dinge verschwendet. Sie war froh gewesen, endlich aus ihrem Elternhaus auszuziehen, und hatte sich angewöhnt, auf Durchzug zu schalten, sobald ihre Mutter wieder von ihrer Schwester und deren Heldentaten anfing, denen sie nie auch nur annähernd gerecht werden konnte. Und als Loni zum ersten und dann zum zweiten Mal Großmutter geworden war, gab es kein Halten mehr, die Kinder waren ja so putzig und so eine Freude und so ein Wunder, dass es kaum noch auszuhalten war. Ständig zeigte der Finger auf Karoline und ihren Freund, es wurde geredet, gewünscht, geweint und irgendwann auch gemunkelt. Vielleicht war ihr Mann gar nicht fähig dazu, die Wünsche seiner Schwiegermutter zu erfüllen? Diesen Gedanken hatte Karolines Mutter nur einmal geäußert, was in einem handfesten Streit, laut knallenden Türen und dem Abbruch des Kontakts für mehrere Monate geendet hatte. Aber trotzdem konnte sie es nicht lassen, Marie war das Maß aller Dinge, Marie war groß und mächtig, übermächtig in ihrer Funktion als Vorbild. Karoline dachte nach und schnaubte kurz, was Richard aufblicken ließ, aber sie sprach nicht, sondern dachte nur über ihre saubere Schwester nach. Wusste ihre Mutter denn, dass Maries erstes Kind ein Unfall gewesen war, war ihr bekannt, dass die beiden kurz vor der Trennung gestanden hatten und nur das Kind sie wieder zusammenschweißte? Aber wahrscheinlich hätte das die Meinung über Marie auch nicht geändert, sie hatte Kinder, Karoline nicht, Punkt.

Nach dem Essen blieben sie eine Weile sitzen und beschlossen dann jeder für sich, noch etwas im Haus zu tun. Karoline hatte nur noch zwei Tage frei, und auch auf Richard warteten am nächsten Tag neue Aufträge von seiner Firma. Also machte er sich daran, endlich das Internet zu installieren, sie räumte das Sofa auf und kümmerte sich dann um die Dinge, die unnötigerweise immer noch den Flur verstopften. Wenn sie sich zwischendurch dort begegneten, blickten sie nur kurz auf und schlichen dann ohne ein Wort aneinander vorbei. Viel später gingen sie ins Bett, jeder für sich nach wie vor mit seinen Gedanken beschäftigt, und trotz aller Müdigkeit fanden sie lange keinen Schlaf.

Nachbarn

Подняться наверх