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zwei

»Kommst du endlich?«

»Nur noch eine Szene.«

»Wie oft willst du mir das noch sagen?«

»Nur noch eine Szene!«

»Kindergarten! Ich esse jetzt!«

Tine stürmte aus dem Zimmer und machte sich geräuschvoll und mit anklagender Heftigkeit in der Küche zu schaffen. Theo achtete nicht auf sie und beschäftigte sich weiter mit seinem Bildschirm. Er schob farbige Rechtecke hin und her und beobachtete die Ergebnisse seiner Aktionen. Es dauerte lange, bis er zufrieden war, immer wieder verschob er ein Element und sah die anderen sich an seine Änderung anpassen, dann wieder löschte er einen Block und zog andere aus einer langen Leiste auf das Spielfeld. Manche Blöcke bestanden wiederum aus kleineren Elementen und waren in mühsamer Kleinarbeit von ihm zusammengesetzt worden, andere waren fertige Elemente und einfarbig dargestellt. Immer gab es etwas auszusetzen, eine Kleinigkeit, die das Auge störte, immer musste noch etwas geändert, verschoben, angepasst werden, bis das Gesamtbild stimmte. Auch die Rückmeldungen, die er vom Computer erhielt, veranlassten ihn zu weiteren Änderungen, manche Blöcke konnten nicht in Kombination mit anderen gesetzt werden, färbten sich nach einiger Zeit schwarz und zerfielen, worauf sie entweder den Platz freigaben oder die benachbarten Blöcke nachrücken ließen. Die Kombinationen waren schier unendlich, und so verbrachte Theo jede Minute seiner freien und leider auch die seiner nicht freien Zeit mit diesem Spiel.

Als er endlich in der Küche auftauchte, war Tine schon fertig mit ihrer Mahlzeit, stand schmollend am Fenster und trank Kaffee.

»Tut mir leid.«

»Lass dir was Neues einfallen.«

»Tut mir echt leid.«

»Halt die Klappe.«

Theo setzte sich an den Tisch, sichtete die Reste an Brot und Aufschnitt und machte sich etwas zu essen. Er hatte kein Bedürfnis, über seine Leidenschaft zu reden, die Tine bereits als Sucht bezeichnete. Sie waren schließlich nicht verheiratet, hatten keine Kinder, jeder hatte seinen Job und seinen Freundeskreis. Sie gingen immer noch zusammen ins Kino und teilten das Bett, da durfte er sich doch seine Freizeit einteilen, wie er wollte, oder etwa nicht?

»Wie lange soll das noch so weitergehen?«

»Was?«

»Stell dich nicht blöd. Wie lange spielst du hier noch das Versuchskaninchen?«

»Keine Ahnung.«

»Keine Ahnung reicht mir nicht.«

»Ich weiß es wirklich nicht. Die Tests sind wichtig.«

»Wichtiger als ich?«

»Erzähl nicht so einen Unsinn.«

»Pff.«

Tine nahm einen Schluck und sah ihn nicht an. Sie blickte aus dem Fenster, aber da gab es nichts zu sehen außer einer grauen Wand, Regen, Nebel und mehr Grau. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Diskussion führten, und sie würde sich wieder beruhigen, wusste Theo, so viel war klar.

»Ich will, dass wir am Wochenende wegfahren.«

»Das geht nicht.«

»Sag jetzt nicht, du musst ›testen‹!«

Sie zischte das Wort, und Theo blieb stumm. Natürlich musste er »testen«, aber er spürte, dass ihr Streit eine andere Qualität bekam, so langsam wurde es ernst, und er musste sich etwas überlegen, um die Wogen zu glätten. Ein Wochenende. Zweimal vierundzwanzig Stunden. Dafür hätte er dann die nächste Woche mitsamt dem Wochenende Ruhe, konnte machen, was er wollte, konnte »testen«, wie sie es nannte. Natürlich hatte sie recht, es war ein Test, das Spiel war noch nicht ausgereift, noch nicht auf dem Markt, er testete die Software nur. Aber wenn er es tat, war er bei der Sache, als ginge es um sein Leben.

»Okay, lass uns wegfahren. Aber das Wochenende danach gehört mir.«

»Mach, was du willst.«

»Okay.«

Das war natürlich nicht die beste aller Möglichkeiten, aber wenigstens für den Moment war Ruhe, alles Weitere würde sich geben. So hoffte er.

Zwei Stunden später saß Theo wieder vor seinem Rechner, Tine arbeitete in der Spätschicht, und er hatte sich den Tag freigenommen, sodass er ungestört spielen konnte. Das Telefon klingelte, aber er zuckte nur abwehrend mit einer Augenbraue und konzentrierte sich auf seinen nächsten Spielzug. Er hatte sich alles sorgfältig zurechtgelegt und gerade die Rückmeldung erhalten, dass sein Spielzug so nicht übernommen werden könne. Sein mühevoll zusammengesetzter Block löste sich vor seinen Augen in Nichts auf. Verärgert blickte er auf das Telefon, das immer noch ungeduldig klingelte, erkannte die Nummer und hob ab.

»Ich habe gerade Arbeit von einer Stunde verloren!«

»Wovon redest du?«, wollte Ferdi am anderen Ende wissen.

»Was denkst du, wovon ich rede? Ich bastle hier seit einer Stunde an einem Biografieschnipsel, und die blöde Maschine erzählt mir, dass der Zug nicht gültig ist!«

»Wie war die Fehlermeldung?«

»Drohende Angstzustände oder so was.«

»Oder so was?«

»Keine Ahnung, mehr habe ich nicht gesehen, war zu schnell wieder weg.«

»Toll.«

»Ja, toll! Wieso kann ein Block, den ich mir zusammenbaue, eigentlich nicht in eine Art Ablage wandern, wenn der abgelehnt wird, nur weil ein kleines Teilchen nicht passt? Das nervt echt, wenn man die ganze Arbeit noch mal machen muss. Sofern man noch weiß, was man überhaupt gemacht hat in der ganzen Zeit …«

»Guter Punkt.«

»Natürlich.«

»Gebe ich weiter.«

Theo hatte sich etwas beruhigt.

»Danke. Was gibt’s sonst?«

»Wir werden am Wochenende eine neue Version des Kerns aufspielen und brauchen jede Minute zum Testen, die wir kriegen können. Ich hoffe, du hast noch nichts vor.«

Eine vage Erinnerung an ein Gespräch, das vor nicht allzu langer Zeit an diesem Tag stattgefunden hatte, schlich sich in Theos Kopf. Ausgerechnet dieses Wochenende. Eine neue Version des Kerns! Das würde neue Möglichkeiten in der Gestaltung bedeuten, neue Spielelemente, die man verwenden und deren Kombinationsmöglichkeiten man erforschen konnte. Und er sollte dabei sein. Und würde nicht können.

»Mist.«

»Was?«

»Ich habe eben mit Tine das Wochenende verplant, wir sind die ganze Zeit nicht da.«

»Mist.«

»Sage ich doch.«

»Kannst du das nicht auf das nächste Wochenende verschieben? Wir brauchen echt alle.«

»Könnt ihr das Update nicht auf das nächste Wochenende verschieben?«

»Keine Chance, wir kriegen seit Monaten schon Druck, dass es Zeit für ein Update wird, wir müssen abliefern, sonst sind wir geliefert.«

»Mist. Aber ich bin auch geliefert, wenn ich am Wochenende nicht parat stehe. Es gibt keine Möglichkeit, da noch auszuweichen, Tine ist schon am Limit.«

»Okay.«

»Glaub mir, ich brenne auf die neuen Sachen, ich will unbedingt dabeibleiben.«

»Ich weiß, ich mache dir keinen Vorwurf, Theo. Du hast uns schon echt so viel geholfen, das werde ich auch irgendwann wiedergutmachen, versprochen.«

»Was gibt’s denn da wiedergutzumachen?«

»Danke.«

Mit diesem Wort legte Ferdi auf, aber trotz seines Lobes wusste Theo, dass sein Freund sehr enttäuscht war. Ferdi hatte ihm schon vor Monaten von ihren Geldgebern erzählt und wie sich die Situation darstellte, welchem Druck sie ausgesetzt waren. Nachdem sie vor fast zwei Jahren das große Los gezogen und die Zusage für die Fördergelder erhalten hatten, mussten sie feststellen, dass die Bedingungen, an die die Auszahlung geknüpft war, nicht von Pappe waren. Ferdi hatte nicht mit vielen Einzelheiten herausgerückt, aber was er erzählt hatte, hatte gereicht, um Theo die Haare zu Berge stehen zu lassen. Zum einen war Finally Development zugesichert worden, dass sie machen konnten, was sie wollten, zum anderen war unmissverständlich klar geworden, dass sie genau das besser lassen sollten, wenn sie nicht umgehend wieder in ihren feuchten Backsteinbau ziehen wollten. Auf der einen Seite bekamen sie ein schickes neues Büro nahe dem Stadtzentrum, auf der anderen Seite nahm man ihnen viele Entscheidungen ab. So hatte sich Clemens gerade noch das Recht erstritten, bei Einstellungsgesprächen dabei sein zu dürfen, um den Bewerbern auf den Zahn fühlen zu können, die Vorauswahl aber trafen andere. So bestand Finally Development mittlerweile aus über fünfzig Angestellten, von den ursprünglichen Mitarbeitern waren nur noch Stefan und Tim übrig, Johann und zwei andere hatten nach Streitigkeiten, über die Theo nicht im Detail informiert worden war, gekündigt. Theo kannte Johann, wie auch Ferdi und Clemens, aus dem Studium und hatte ihn später noch einmal getroffen. Auf Nachfragen, was in der Firma passierte und wie sie vorankämen, hatte Johann nur ausweichend geantwortet und davon gesprochen, dass das Projekt strengster Geheimhaltung unterliege. Auch auf Theos Hinweis hin, dass er Tester sei, war ihm nichts mehr zu entlocken gewesen, kurze Zeit später hatte er die Firma verlassen.

Theo lehnte sich in seinem Stuhl zurück, griff sich seine Tasse und nahm einen kleinen Schluck des mittlerweile kalten Kaffees. Angeekelt setzte er die Tasse wieder ab und ging in die Küche, um neuen aufzusetzen. Ausgerechnet dieses Wochenende. Vielleicht konnte er Tine noch umstimmen! Aber allein die Vorstellung, wie sie reagieren würde, wenn er versuchte, sie noch einmal hinzuhalten, löste schon Gänsehaut bei ihm aus. Besser nicht. Während er auf den Kaffee wartete, stand er am Fenster, seine Finger spielten gedankenverloren mit dem Vorhang, draußen gab es nichts von Interesse zu sehen, es war immer noch feucht und neblig, ein perfekter Tag, um Lifelines zu spielen. Das war auch noch so ein Punkt, wie er sich jetzt erinnerte: Die erste Änderung, die die Geldgeber vorgenommen hatten, war die Anpassung des Spieletitels. Er wusste, dass gerade Clemens viel an dem ursprünglichen Titel gelegen hatte, sie hatten stundenlang darüber diskutiert, wie er lauten sollte und was er bedeuten konnte, aber diejenigen, die das Geld in der Hand hielten und damit jetzt auch den Ton angaben, hatten sämtliche Bedenken mit Hinweis auf den Markt beiseite gewischt. »Wie wollen Sie ein Spiel verkaufen, das nach Einsamkeit klingt, nach Zwang? Da geht schon vor dem Kauf bei den Spielern jegliche Kreativität den Bach runter.« So hatte es geheißen, und dann wurde eine Art Kommission eingesetzt, eine Gruppe von Kreativen, die sich wahrscheinlich ein paar Wochen mit einer unüberschaubaren Menge von Drogen im Keller eingeschlossen hatte und dann irgendwann, bärtig, verdreckt, aber mit einem seligen Lächeln auf den ausgezehrten Gesichtern wieder ans Tageslicht kam und den neuen Namen des Spiels verkündete. So jedenfalls hatte Ferdi es ihnen ausgemalt, und selbst Clemens musste lachen. Das letzte Gespräch zu diesem Thema, bei denen Clemens sich noch einmal für seinen Einfall eingesetzt hatte, musste in etwa so verlaufen sein:

»Lifelines versteht jeder, das ist positiv, das weckt Neugier und Kreativität.«

»Warum nennen Sie es dann nicht Lebenslinien? Das versteht jeder.«

»Wollen Sie sich auf den deutschen Markt beschränken? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das in Ihrem Interesse liegt.«

Und damit war das Thema erledigt.

Den Rest des Tages verbrachte Theo damit, seinen Spielzug zu rekonstruieren, den er am Vormittag zusammengesetzt hatte. Irgendetwas musste er übersehen haben, eine Kleinigkeit, die nicht ins Bild passte. Er konnte sich nicht mehr an alles erinnern, was er ausgeführt hatte, und probierte ein ums andere Mal kleinere Blöcke aus, setzte sie zusammen, bildete größere Blöcke, verschob sie aufs Spielfeld und beobachtete die Reaktion der Muster. Was wurde abgelehnt, was wurde angenommen, womit kam er weiter, was wurde sofort zurückgewiesen? Er sah auf die Uhr und merkte, dass er schon mehrere Stunden gespielt hatte, ohne dass ihm aufgefallen war, wie die Zeit verging. Innerhalb der nächsten Stunde musste Tine nach Hause kommen. Um die Wogen ein wenig zu glätten, sollte er dann vielleicht nicht mehr am Computer sitzen und immer noch spielen. Er loggte sich aus und veranlasste damit das Spiel, seinen momentanen Spielstand zu speichern. Er lehnte sich zurück, streckte die Arme über den Kopf, verschränkte die Finger und ließ die Gelenke knacken. Lange starrte er auf das Telefon, bis er sich endlich entschloss und Ferdis Nummer wählte.

»Hi, was machst du?«, fragte der.

»Was glaubst du wohl?«

»Wieder den ganzen Tag gespielt?«

»Genau. Sag mal, was kommt mit dem Update am Wochenende? Was gibt’s Neues?«

»Keine Ahnung.«

»Verarsch mich nicht.«

»Ich verarsche dich nicht. Clemens hat irgendwas zusammengebaut und verrät nichts. Er meinte nur, dass er das Spiel komplett umgekrempelt hätte, er hat anscheinend elementare Teile des Kerns neu gebaut und erzählt irgendwas von Wagnisfaktoren und so.«

»Wenn er das baut, was mir fehlt, will ich nie mehr schlafen!«

»Wovon redest du?«

»Deswegen rufe ich an: Ich habe gerade versucht, meinen Spielzug von heute Morgen nachzubauen, habe es aber nicht hinbekommen. Auf jeden Fall habe ich so ziemlich jede mögliche Kombination der Blöcke ausprobiert, die ich verwendet hatte. Irgendwann wird das langweilig.«

»Kann ich mir vorstellen.«

»Ja, aber ich meine nicht nur das Nachbauen von etwas, was man schon gebaut hat, sondern das Spiel an sich. Irgendwie passiert immer dasselbe, man puzzelt rum und merkt dann, dass man immer nur bestimmte Kombinationen zusammenstellen kann, man kann nichts riskieren.«

»Riskieren?«

»Riskieren.«

»Was meinst du?«

»Ich nehme zum Beispiel einen Block für ›im Alter von fünf Jahren Prügel bezogen‹ oder so was, mit dem Block komme ich aber nie weiter, irgendwann wird jede Kombination mit der Episode immer abgelehnt, irgendwann kommt immer raus, dass der Block nicht passt. Warum habe ich den dann aber überhaupt zur Auswahl?«

»Weil es sonst langweilig wäre.«

»Klar, aber wenn ich den gar nicht verwenden kann, ist es zuerst frustrierend und dann langweilig.«

Ferdi brummte zustimmend.

»Verstehe«, sagte er dann.

»Ich hoffe, dass Clemens genau das meint, dass man Risikoblöcke einbauen kann, die eigentlich nicht passen dürfen, die sich aber unter gewissen Umständen doch durchsetzen können.«

»Okay.«

»Mein Nummer Eins-Wunsch ist dadurch natürlich nicht hinten angestellt.«

»Ich weiß, ich weiß, Clemens ist im Bild, er überlegt sich was. Deine Idee mit der Ablage wird er übrigens bauen, danke dafür.«

»Kein Problem. Aber baut mir Blöcke, die ich von Grund auf selber schreiben kann, und ihr werdet mich nie mehr los.«

»Ich weiß, hör mal, ich muss noch was für das Update vorbereiten, war’s das?«

»Das war’s, muss eh Schluss machen, Tine kommt gleich.«

»Okay, mach’s gut.«

»Mach’s gut.«

Das Wochenende verlief gut aber langweilig. Theo war nie ganz bei der Sache, dachte immer an das Spiel und welche Neuerungen Clemens sich ausgedacht haben mochte. Zur gleichen Zeit ging ihm Ferdi nicht aus dem Kopf, er hatte besorgt geklungen und irgendwie gehetzt. Zu der Zeit, als sie sich im Studium kennengelernt hatten, war er eigentlich ein eher ruhiger Typ, den so schnell nichts aus der Ruhe brachte, er hätte eher fünf gerade sein lassen, als nervös zu werden. Aber seit er sich mit Clemens zusammengetan und sie das Geld für ihre Firma bewilligt bekommen hatten, hatten sich die Dinge verändert. In den Anfangstagen von Finally Development hatte die ganze Sache etwas von Spielerei, von einem netten Zeitvertreib, mit dem man sich über einen gewissen Zeitraum beschäftigte, den man aber auch wieder fallen ließ, sobald sich etwas Besseres bot. Und etwas Besseres war eigentlich jeder X-beliebige Job, der einem über den Weg lief. Damals gab es viele Kommilitonen, die sich in den Boomtagen des Internets mit Agenturen selbstständig machten, und kaum jemand überlebte, für alle war es eine interessante, für die meisten aber auch eine anstrengende Zeit, die Nackenschläge austeilte und nur einen Bruchteil überleben ließ. Finally Development gehörte zu diesem Bruchteil, aber den Preis, den Ferdi und Clemens dafür bezahlt hatten, war hoch, fand Theo. Aus der fröhlichen Feiergesellschaft, die die Nächte durchmachte, um einen Auftrag fertigzustellen, und dabei Bier in Strömen fließen ließ, war eine ernsthafte Unternehmung geworden, eine Firma, deren Angestellte er kaum noch kannte. Während Clemens immer noch trotzig seinen Look zur Schau stellte, den man wohlwollend als »etwas vernachlässigt« bezeichnen konnte, kamen die neuen Angestellten zu einem großen Teil im Anzug zur Arbeit. Und der Begriff »Ernsthaftigkeit« war wahrscheinlich noch nicht einmal zutreffend für die Veränderungen, die seine Freunde zeigten. Wenn sich Theo das letzte Gespräch mit Ferdi ins Gedächtnis rief, passte der Ausdruck »Verbissenheit« besser, gepaart mit einer guten Portion »Verzweiflung«. Besonders der Umstand, dass Clemens nicht mit Details über seine Änderungen herausrückte, war seltsam, denn sonst war er es gewesen, der sofort mit Plänen und Ideen aufwartete und die Nächte damit verbrachte, sie mit seinen Freunden zu diskutieren. Oder vielmehr: sie vor seinen Freunden zu verteidigen, denn was immer er ausheckte, hatte Hand und Fuß und musste höchstens an der Oberfläche poliert werden, das, was darunter schlummerte, war meist nahezu perfekt, die anderen mussten das nur erst erkennen.

»Hey, wo bist du gerade?«

Tine saß ihm beim Frühstück im Hotel gegenüber und hatte mit den Fingern vor seinen Augen geschnippt, um ihn in die Realität zurückzuholen, der er offensichtlich schon seit geraumer Zeit entrückt war.

»Bei Ferdi«, gab er zu, bereute aber schon im nächsten Moment seine Ehrlichkeit.

»Mein Gott, verfolgt uns der Typ jetzt schon an unserem gemeinsamen Wochenende? Ich wette, du denkst die ganze Zeit über das Spiel nach, habe ich recht? Du willst lieber jetzt als gleich zurück an deinen Computer.«

Theo blickte über den Tisch und sah in Tines Gesicht, das durch die einzelne Rose inmitten des »Wohlfühlfrühstücks«, das das Hotel bot, halb verdeckt war. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, blickte in ihre braunen Augen und sah eine rötliche Strähne darüber fallen. Ihre Stirn war in Falten gelegt, aber er meinte zu wissen, dass ihr Ärger nur gespielt war. Schließlich war er hier mit ihr und nicht zu Hause geblieben. Trotzdem war seine geistige Abwesenheit natürlich eine Beleidigung ihres Wochenendes, an dem er nur ihr gehören sollte. Er lächelte, atmete tief ein und vernahm den schwachen Duft der Rose. Er reichte über den Tisch und legte seine Hand auf ihre.

»Ich habe nur darüber nachgedacht, wie sich Clemens und Ferdi verändert haben, seit sie dieses ganze Geld haben und machen können, was sie wollen.«

»Eben nicht.«

»Ja, genau, eben nicht. Ich habe vorgestern noch mal mit Ferdi telefoniert, und er war irgendwie komisch. Nicht kurz angebunden, auch nicht unfreundlich, aber irgendwie anders. Er wirkte gehetzt, unter Druck, in Eile, irgendwie so was.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Clemens habe ich schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Mit ihm war ich zwar auch nie so befreundet wie mit Ferdi, aber trotzdem kenne ich ihn auch schon Jahre. Er hat sich immer etwas zurückgezogen und viel nur für sich gemacht, nie eine Freundin gehabt und so. Aber Ferdi meinte, er sei jetzt richtig verschlossen und …«

»Was?«

»Ich weiß nicht, Ferdi wusste es auch nicht.«

»Unglücklich?«

»Wahrscheinlich. Aber egal, das soll uns jetzt nicht kümmern. Bestellen wir uns Sekt?«

»Klar!«

Sie ließen sich eine Flasche Sekt aufs Zimmer bringen, verbrachten den halben Tag im Bett und unternahmen dann einen langen Spaziergang in der frischen Luft des herbstlichen Sonnenuntergangs. Ferdi und sein Befinden waren für den Moment vergessen, und Theo war froh, dass Tine sich wieder etwas beruhigt hatte.

So sehr Theo das Wochenende und die Versöhnung mit Tine genossen hatte, stellte sich sofort die Nervosität ein, kaum dass sie am Sonntagabend wieder zurück waren. Sie aßen zu Abend, und er musste sich beherrschen, um nicht ständig zu seinem Computer herüberzuschielen. Tine beobachtete ihn argwöhnisch, aber sie grinste verschmitzt, als sie anordnete: »Na, geh schon!«

Er bedankte sich, verließ den Tisch, schaltete den Rechner ein und wartete darauf, dass sich das Update installieren würde. Jetzt, wo er wieder an seinem Platz saß, konnte er kaum erwarten zu sehen, was Clemens sich ausgedacht hatte. Die Minuten zogen sich quälend dahin, er stand mehrmals auf und setzte sich sofort darauf wieder hin, aber nichts hielt ihn auf seinem Stuhl. Schließlich schnappte er sich das Telefon und versuchte, Ferdi zu erreichen, aber der ging nicht ran. »Verdammt.« Er schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Nun mach schon!«

Tine sah sich das Schauspiel eine Zeit lang an, schüttelte den Kopf über das Spielkind und ging irgendwann ins Bett, während Theo gebannt vor dem Bildschirm hockte, seine Bausteine verschob und Tine nicht einmal bemerkte.

Er erreichte Ferdi auch am nächsten Tag nicht und rief in der Firma an, um sich durchstellen zu lassen. Eine freundliche und vor allem weibliche Stimme wies ihn darauf hin, dass Herr Arend zurzeit nicht zu sprechen sei. Etwas irritiert legte Theo wieder auf und fragte sich, seit wann die Firma eine Empfangsdame beschäftigte. Ihm blieb allerdings keine Zeit, sich weiter darum zu kümmern, denn auch er musste an diesem Tag wieder arbeiten.

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