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drei

Es dauerte Wochen, bis Theo Ferdi wieder traf, und als es endlich so weit war, verabredeten sie sich in der Stadt und beschlossen, Essen zu gehen. Spontan, wie Theo meinte. Ferdi war wie verwandelt, er strahlte bis über beide Ohren, war außer sich, sprang herum, machte Witze und lachte in einem fort.

»Was ist los, hast du irgendwas eingenommen?«

»Warte, ich erzähle dir gleich alles.«

Ferdi winkte ein Taxi heran und zog Theo mit sich. Im Wagen kurbelte er das Fenster herunter und hängte seinen Kopf in den Fahrtwind. Er ließ sich nicht dazu überreden, mit der Sprache herauszurücken, lachte nur, forderte den Fahrer auf, laute Musik zu spielen und wedelte mit einem großen Schein, als der sich zunächst zierte.

»Sag mal, ist alles klar?«

»Bestens. Bestens!«

Er hatte dem Fahrer eine Adresse genannt, vor der sie kurze Zeit später hielten. Theo staunte nicht schlecht, denn sie standen vor einem noblen Hotel, die Tür des Taxis öffnete sich direkt vor dem roten Teppich, der zur Eingangshalle führte. Quer über dem Teppich waren schmutzige Fußspuren sichtbar, die in Richtung des Bürgersteigs verliefen. Sie aber schritten geradewegs darüber hinweg und betraten die üppige Halle, von der zu beiden Seiten eine Treppe im Halbkreis in die nächste Etage führte. An der Decke hing ein monströser Lüster von der Größe eines Kleinwagens. Zunächst hielt Theo die Sache für einen Witz und wollte Ferdi schon zurückhalten, bevor der Schwindel auffiel, aber als dieser dem Concierge seinen Namen nannte und bat, an den reservierten Tisch geführt zu werden, ging ihm auf, dass es sich mitnichten um einen Scherz handelte. Zumindest eine Reservierung gab es, aber in einem Haus wie diesem, in dem man wahrscheinlich für ein Glas Wasser mehr bezahlen musste, als Theo an einem Tag verdiente, rechnete er schon damit, dass sie später entweder Teller abwaschen oder einen guten Fluchtweg ausspähen mussten. Sie wurden an den Tisch geführt, ein Kellner schob ihnen die Stühle zurecht, und ein anderer war schon dabei, Wasser in zwei der Unmengen von Gläsern zu füllen, die im Rund um ihre Plätze angeordnet waren.

»Was geht hier vor sich? Hast du im Lotto gewonnen?«

»Entspann dich, wir bestellen erst mal was zu trinken.«

»Das können wir uns nie leisten, lass uns woanders hingehen!«

»Kein Problem, zahlt alles die Firma, bleib ruhig.«

»Die Firma?«

»Geschäftsessen unter Geschäftspartnern, klar?«

Ferdi zwinkerte und war zu keiner weiteren Aussage zu bewegen, bis der Kellner die Karte gebracht hatte. Ferdi bestellte mit Kennermiene Menüs und verschiedene Weine, Theo sah nur sprachlos zu und konnte nicht aufhören, sich zu wundern. Wieso Geschäftsessen? Es war Ferdis Geschäft, also zahlte letztendlich er selbst. Und warum sollte er Geschäftspartner sein? Er war Tester, bekam dafür aber nichts, das war schließlich reiner Freundschaftsdienst.

»Okay, es reicht, was ist los?«

»Hältst es nicht aus, was?«

»Nein, lass hören.«

»Okay, warte.«

Ferdi ließ sich eine Flasche Wein zeigen, nickte das Etikett ab und probierte einen kleinen Schluck. Wohlwollend bestätigte er die Auswahl und grinste Theo unverschämt an, als sich der Kellner wieder entfernt hatte.

»Wie hat dir das Update gefallen?«

»Schleppst du mich deswegen hierhin? Um mich das zu fragen?«

»Hat’s dir nicht gefallen?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Also?«

»Es ist großartig!«

Ferdi nickte, grinste und stürzte den Wein herunter.

»Klasse, oder?«

»Auf jeden Fall. Ich wünschte, mein Tag hätte vierzig Stunden oder mehr. Diese Level, oder wie auch immer ihr das nennt, sind der Knüller. Jeden Abend nehme ich mir vor: ›Nur noch einen‹, und dann hänge ich doch wieder die ganze Nacht dran. Diese … unfertigen Geschichten sind um Längen besser, als immer wieder von vorne anfangen zu müssen. Echt gut.«

»Clemens.«

»Dachte ich mir, der Kerl ist Gold wert.«

»Kannst du laut sagen.«

»Auf Clemens.«

Sie prosteten sich zu und schwiegen eine Weile. Theo ließ den Blick schweifen, sie waren die einzigen Gäste und saßen an einem Tisch mitten in einem riesigen Raum. Alle anderen Tische waren zwar ebenfalls gedeckt, voll ausgestattet mit Garnituren von Gläsern und Besteck, Platztellern, Kerzen, Dekoration, Blumen und allem, was dazugehörte, nur die Leute fehlten. Er fühlte sich ein bisschen erinnert an den Film »Shining«, an den leeren Speisesaal des Hotels »Overlook« und an Jack Nicholson, wie er langsam durchdrehte und sich in Gesellschaft von Schemen, Geistern, imaginären Gästen an der Theke betrank. Ihn schauderte, und er nahm einen weiteren Schluck.

»Guter Stoff«, nickte er anerkennend.

»Sollte er, für hundertfünfzig Schleifen die Flasche.«

Theo blieb der Wein fast im Hals stecken.

»Bist du wahnsinnig?«

»Ich habe dir gesagt, du sollst dich beruhigen. Ich bin gerade dabei, eine hoch qualifizierte Fachkraft zu einem Geschäftsessen einzuladen, um sie davon zu überzeugen, uns in Zukunft mehr ihrer kostbaren Zeit zur Verfügung zu stellen. Die Firma wird davon sehr profitieren, wir sehen es als eine Investition in unsere geschäftliche Zukunft.«

»Wovon redest du?«

»Du hast doch gerade gesagt, du hättest gern einen Tag mit vierzig Stunden. Warum? Weil du dann mehr spielen könntest. Was hindert dich denn daran, den ganzen Tag zu spielen? Tine!«

Er lachte.

»Nein, das Geld. Du musst deine Miete bezahlen, du musst was zu Essen kaufen, Benzin für dein Auto, und so weiter und so weiter. Also, wie können wir dieses Dilemma auflösen? Klare Sache: Du schmeißt deinen Job hin …«

Er gebot Theo zu schweigen, als dieser schon antworten wollte.

»… und nimmst einen neuen Job an. Zufälligerweise bin ich darüber informiert, dass ein aufstrebendes Softwareunternehmen hoch bezahlte Stellen für qualifizierte Fachkräfte zu vergeben hat, die den ganzen Tag nichts anderes tun, als am Computer rumzuspielen und sich vielleicht ab und zu dazu bewegen lassen, über das, was sie da machen, das ein oder andere Wort zu verlieren. Also, bist du dabei? Ja oder ja?«

»Was?«

»Also ja.«

»Moment mal. Ich soll meinen Job hinschmeißen und bei euch arbeiten? Spielen?«

»Genau das.«

»Wie stellst du dir das vor?«

»Ganz einfach.«

»Ja, toll.«

»Wo ist das Problem? Was machst du jetzt gerade für eine Arbeit? Wie viel Geld verdienst du noch mal? Ist der Job einmalig? Ist dein Chef dein bester Freund?«

»Nein …«

»Alles klar, du hast wahrscheinlich eine gewisse Kündigungsfrist, dazu kommt Resturlaub, ein paar Tage wirst du plötzlich noch krank, das heißt, du fängst nächsten Monat bei uns an …«

Er sah auf die Uhr.

»… also in knapp drei Wochen.«

Theo starrte Ferdi nur ungläubig an, griff sich die Weinflasche, schenkte sich großzügig ein und kleckerte dabei ebenso großzügig auf die Tischdecke, woraufhin er sofort rot anlief und hilflos versuchte, den Fleck zu kaschieren.

»Kein Problem«, kommentierte Ferdi, »ist im Preis inbegriffen.«

Er grinste, wurde aber direkt wieder ernst.

»Jetzt mal Butter bei die Fische. Ich hätte dich gern dabei. Du warst von Anfang an Teil der Sache, wir haben mittlerweile einen riesigen Stab von Testern, ich weiß noch nicht mal die Namen der meisten Leute, die jetzt dabei sind. Du kennst dich mit der Nummer aus wie kein anderer, du hast die meiste praktische Erfahrung damit, wahrscheinlich mehr als wir selbst. Du hast gute Ideen, bist clever und zuverlässig, kannst dich ausdrücken, siehst gut aus …«

»Hey, was war noch mal genau meine Aufgabe? Soll ich dir mit nacktem Oberkörper Luft zufächeln?«

»Darüber könnte man sprechen …«

Jetzt lachten sie beide, und Theo merkte, dass Ferdi sein Angebot ernst meinte. Er überlegte und musste feststellen, dass er tatsächlich in einem Job arbeitete, den er lieber heute als morgen hinschmeißen würde, wenn er das Geld nicht bräuchte. Und die Aussicht, für Finally Development zu arbeiten und den ganzen Tag mit einer Tätigkeit zu verbringen, der er sowieso liebend gern ausschließlich nachgehen würde, schien ihm fast zu schön, um wahr zu sein.

»Weißt du, was passiert, wenn man Menschen Geld dafür zahlt, dass sie etwas tun, woran sie Spaß haben und was sie auch ohne Bezahlung sowieso schon machen?«, fragte er. Es war ein letztes Aufbäumen.

»Was?«

»Die Motivation sinkt.«

»Kein Witz?«

»Kein Witz.«

»Kein Problem, dann zahlen wir dir halt nichts.«

»Ist das wirklich euer Ernst? Das mit dem Angebot?«

»Würde ich sonst mit dir hier sitzen und dich sündhaft teuren Traubensaft aufs Tischtuch schütten lassen? Klar ist das unser Ernst, meiner zumindest, die anderen wissen noch nichts davon. Clemens gegenüber habe ich es kurz erwähnt, der wird sich den Arsch abfreuen, wenn du mitmachst, und bei deinen Referenzen kann sonst niemand was dagegen haben. Der Rest ist Formalität, glaub mir.«

Theo sah seinem Freund in die Augen und meinte, ihn noch nie wirklich angesehen zu haben. Er hatte sich verändert, war gereift und erwachsen geworden. Theo spielte Computerspiele, aber Ferdi machte sie, verkaufte sie und war dabei, einen Markt zu erobern, zielstrebig und unbeirrbar im Glauben an seine Sache. Theo beneidete ihn um seinen Willen und seinen Ehrgeiz, allerdings nicht um den Preis, den er dafür zahlen musste. Innerhalb des letzten Jahres war er nicht nur reifer, sondern auch sichtbar älter geworden, unter seinen Augen zeichneten sich Ringe ab, die nicht nur von ein paar wenigen durchwachten Nächten herzurühren schienen, sondern die er sich über einen längeren Zeitraum hinweg erarbeitet haben musste. Aber wenn er sich die gute Laune ansah, die Ferdi versprühte, hätte er selbst dafür bestimmt auch ein paar Augenringe riskiert.

Er sah sich noch einmal um, als wollte er sich von der Umgebung, von etwas Wohlbekanntem verabschieden und aufbrechen zu etwas Neuem. Er ließ den Blick schweifen und beendete die Runde wieder bei den erwartungsvollen Augen seines Freundes. Er nickte langsam.

»Ich denke, ich bin dabei.«

»Super, das freut mich. Echt.«

Sie stießen mit dem Wein an, das Essen kam, und es gab nichts mehr zu besprechen.

Es war schon spät, als Theo nach Hause stolperte, weinselig und froh. An jeder zweiten Straßenlaterne machte er kurz Pause, um zu verschnaufen und sich den Tag noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Sie hatten gespeist wie die Könige, bevor der Abend langsam undurchsichtig wurde und im Schleier viel zu teuren Weins versank. Er erinnerte sich nicht mehr an Details, aber es hatte auch einige unschöne Szenen gegeben, zumindest für Hotel und Personal, Ferdi und er waren glimpflich und übermütig lachend davongekommen. Was im Einzelnen passiert war, würden sie wahrscheinlich erst mit der astronomisch hohen Rechnung erfahren.

An der Wohnungstür stocherte er eine Zeit lang mit dem Schlüssel am Schloss herum, bevor er merkte, dass er versuchte, mit seinem Autoschlüssel in die Wohnung zu gelangen. Bevor er den richtigen Schlüssel heraussuchen konnte, öffnete sich die Tür schon, und Tine stand im Nachthemd vor ihm. Ihr Gesichtsausdruck verriet nichts Gutes.

»Sag mir, dass dir dein Handy geklaut wurde.«

»Was?«

»Ich habe dich ungefähr zweitausend Mal angerufen.«

»Warum?«

Tine antwortete nicht, drehte sich auf der nackten Ferse herum und verschwand in der Küche. Theo stolperte in die Wohnung, machte die Tür lauter zu, als er beabsichtigt hatte, und schlich ihr nach.

»Was war los?«

»Nichts weiter. Wir waren nur mit meiner Mutter zum Essen verabredet. War nicht so wichtig, nur ihr Geburtstag, du erinnerst dich vielleicht nicht, aber es gibt auch noch andere Termine und Verbindlichkeiten abseits von deinen Computerspielen und Besäufnissen oder was auch immer du gemacht hast. Ich habe dir die Decke aufs Sofa gelegt.«

Theo stand wie ein begossener Pudel im Türrahmen, Tine drückte ihn beiseite und ging ins Schlafzimmer. Vor seinen Augen drehte sich alles, und er merkte, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas Seltsames ging hier vor. Das Essen mit ihrer Mutter, verdammt! War das nicht erst morgen? Instinktiv wusste er, dass er handeln musste, aber er hatte keine Idee, wie er es anstellen sollte. Der Bonus vom Wochenende war verspielt, so viel war klar. Er schlich zum Schlafzimmer und klopfte zart an die Tür, zumindest war das sein Plan gewesen, denn im Tran schätzte er den Abstand falsch ein und wischte einmal kurz an der Tür vorbei, bevor er mit seinem ganzen Gewicht dagegen fiel.

»Tine …«

»Verschwinde.«

»Ich war mit Ferdi unterwegs …«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Ich habe einen neuen Job.«

»Das ist ja toll. Willst du dir auch gleich eine neue Wohnung suchen?

»Was?«

»Komm endlich rein, oder willst du dich die ganze Nacht durch die Tür unterhalten, du Idiot?«

Er drückte die Klinke und stapfte ins dunkle Zimmer. Es dauerte eine Weile, bis er den Lichtschalter gefunden hatte, das grelle Licht blendete ihn, und er hob die Hand, um seine Augen zu schützen.

»Du verstehst das falsch …«

»Was genau verstehe ich falsch? Dass du uns versetzt hast? Dass meine Mutter sauer auf dich ist? Dass ich sauer auf dich bin? Dass du ein unzuverlässiger Arsch bist, der mir total auf den Sack gehen würde, wenn ich einen hätte?«

Theo wusste, dass es die wahrscheinlich unpassendste Reaktion war, in dieser Situation über diesen lächerlichen Witz zu kichern, aber er konnte sich dennoch nicht beherrschen.

»Blödmann.«

»Ich kündige meinen Job. Ferdi hat … Ich fange bei Ferdi an. Er … Sie brauchen Leute, die sich mit dem Spiel auskennen. Ich verdiene viel mehr als vorher. Und … Ich kriege dann Geld fürs Spielen, stell dir das vor. Dann brauche ich zu Hause nicht mehr zu spielen, das mache ich dann tagsüber, also in der Firma, für Geld.«

»Du verarschst mich.«

»Ruf Ferdi an, wenn du mir nicht glaubst. Wir waren in einem Hotel essen, riesig, das Ding … teuren Wein gab’s auch. Und Essen. Auf Firmenkosten.«

»Wir reden morgen.«

»Tut mir leid, dass ich nicht angerufen …«

»Wir reden morgen! Und meine Mutter rufst du auch an, sie hatte Geburtstag.«

»Scheiße …«

Er wankte aus dem Zimmer, holte sich eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, stellte sie vor das Sofa auf den Boden und vergaß sie sofort. Er ließ sich vornüber in die Kissen fallen und war im nächsten Moment eingeschlafen.

Der nächste Morgen war genau so, wie Ferdi ihn vorhergesagt hatte: »Du wirst glauben, dass alles nur ein Traum war«, hatte er prophezeit, »du wirst meinen, dir das alles im Tran nur ausgedacht zu haben, und dein Schädel wird dir recht geben, weil er alles daran setzen wird, zu platzen. Ich habe dir gleich gesagt: Zwei Gläser Wasser auf ein Glas Wein, dann wird alles gut. Der Wein kann noch so gut sein, wenn du dir ein paar Liter davon reingekippt hast, wird der Kater nicht lange auf sich warten lassen.«

Jedes einzelne Wort stimmte, das wusste Theo nicht erst jetzt, aber gestern Nacht hatte er es natürlich nicht wahrhaben wollen. Er rutschte vom Sofa, fiel über die Wasserflasche, schleppte sich ins Badezimmer und würgte seinen Mageninhalt in die Schüssel. Er trabte zurück ins Wohnzimmer, suchte seine Jacke und durchstöberte die Taschen. Da war er, der Zettel. »Es ist wahr!«, stand darauf, in Ferdis Handschrift, der man den Alkoholgehalt auch bereits deutlich anmerkte. Theo gab es schnell auf, lächeln zu wollen, das Verziehen seiner Gesichtsmuskeln verursachte eindeutig zu viele Schmerzen. Er ging wieder ins Badezimmer, besah sich im Spiegel und hatte den Eindruck, dass er jetzt der Gealterte war. Er sah grausam aus und in etwa so, wie er gestern Ferdi vor sich gesehen hatte, nicht verbraucht, aber angestrengt, nicht alt, aber gealtert. Aber das klang viel zu poetisch, er sah einfach scheiße aus. Und er malte sich aus, wie Ferdi sich in diesem Moment vor dem Spiegel betrachtete, wie musste der mit seinen Augenringen erst aussehen!

Theo öffnete den Kaltwasserhahn und fluchte nicht zum ersten Mal darüber, dass sie in einen Altbau gezogen waren, dessen Waschbecken noch nicht mit Mischbatterien ausgestattet waren. So »toll nostalgisch« wie sie die Wohnung bei der Besichtigung gefunden hatten, hatte er jetzt nur die Wahl zwischen kaltem Wasser, das binnen Sekunden kochend heiß wurde, oder eiskaltem Wasser, das direkt aus einem Gletscher zu stammen schien, seine Temperatur aber wenigstens nicht unvorhergesehen änderte. Er schöpfte sich eine Handvoll Eis ins Gesicht und rubbelte sich mit einem Handtuch ab, das sich wie ein Reibeisen anfühlte. Das machte die Sache nicht besser, jetzt brannte auch noch seine Haut. Die letzte Amtshandlung im Badezimmer bestand darin, den Vorrat an Schmerzmitteln im metallenen Medizinschrank zu sichten, der in Reichweite neben dem Spiegel hing. Er nahm sich direkt zwei Tabletten, verließ das Badezimmer, hob die Wasserflasche vom Boden, öffnete sie und spülte die Tabletten herunter. Jetzt blieb nur noch eins: warten. Er ließ sich aufs Sofa fallen und hoffte, dass die Wirkung des Medikaments möglichst rasant einsetzen würde.

Während er wartete, wanderte sein Blick durch das Zimmer. Dabei fiel ihm auf, dass seine Sachen nirgendwo herumlagen. Erst jetzt merkte er, dass er vollständig bekleidet geschlafen hatte, selbst seine Schuhe hatte er noch an. Kein Wunder, dass seine Füße schmerzten. Er streifte sie ab, und sein Blick fiel auf die Uhr. Er zuckte in einer kurzen Schrecksekunde zusammen, denn es war fast Mittag. Schuldbewusst tasteten sich seine Augen bis zum Anrufbeantworter vor, der neben dem Fernseher auf einer kleinen Anrichte thronte und unschuldig blinkte. Aber die Entspannung ließ nicht lange auf sich warten, er musste nur noch einmal kurz auf Ferdis Zettel blicken und sich vergewissern, dass es wirklich stimmte. Und so war es. Jetzt konnte er völlig gelassen seinen Chef anrufen und sich krankmelden.

»Ich weiß auch nicht, irgendwas mit dem Magen, ich habe die halbe Nacht abwechselnd auf dem Klo gesessen und reingekotzt.«

Er grinste unbeholfen und stellte sich das Gesicht seines Chefs vor, wie er sich angeekelt vom Hörer abwenden würde, so als könnte er das eben Erfahrene ungehört machen. Niemand brauchte derartig viele Informationen dieser Art. Morgen ginge es Theo wieder besser, er würde zur Arbeit gehen, mit einem stolzen Lächeln beim Chef vorsprechen und sich seine Papiere geben lassen. Ferdi hatte recht: Was hatte er zu verlieren? Er saß den ganzen Tag vor dem Computer, sortierte irgendwelche Nachrichten in Sparten ein, damit diese nachher von anderen Firmen gekauft und weiter verkauft werden konnten. Den Sinn der Arbeit hatte Theo nie so richtig verstanden, aber wenn er ehrlich war, und dieser Moment schien eine gute Gelegenheit genau dafür zu sein, hatte er sich auch nie Mühe gegeben, es zu verstehen. Tatsache war, dass er Jobs dieser Art an jeder Ecke bekommen konnte, und selbst wenn er bei Finally Development nur ein kurzes Gastspiel geben würde, hing seine Zukunft nicht davon ab, dass er diesen Job jetzt hinschmiss. Aber hinschmeißen würde er ihn, das stand fest!

Theo verbrachte den Rest des Tages im Bett und bemitleidete sich und seinen Kater. Er rührte den Computer nicht an, fast war es, als hätte das Versprechen, dass er von nun an sogar dafür bezahlt werden würde, den Reiz aus der Sache genommen. Er erinnerte sich an seinen eigenen Einwand, dass die Motivation nachlassen würde, wenn man für etwas bezahlt wurde, was man ohnehin gern tat, und hoffte, dass das nicht zutraf, zumindest nicht auf ihn. Aber er wusste auch, dass er, sobald sein Kopf eine normale Größe angenommen und der Arbeitsalltag wieder Einzug in sein Leben gehalten hatte, sich nicht vom Bildschirm würde fernhalten können. Ein Spiel, das nie zu Ende ging und das trotzdem nie langweilig wurde, was hatten Clemens und Ferdi sich da für eine teuflische Sache ausgedacht! Und er sollte Teil dieser Sache werden, mehr als jetzt schon, offiziell und gegen Bezahlung. Dieser Gedanke vermochte Theo am frühen Abend so weit aufzurichten, dass er es schaffte, in die Stadt zu gehen und einen angeberisch großen Blumenstrauß zu kaufen, den er auf dem Esstisch im Wohnzimmer platzierte. Auch telefonierte er mit Tines Mutter und erklärte ihr die Umstände und warum er dem gestrigen Abendessen ferngeblieben war. Nein, natürlich sei es nicht zu entschuldigen, aber vielleicht zu erklären, er habe ein Jobangebot erhalten, das er wahrscheinlich nur einmal im Leben bekomme, er werde viel mehr Geld verdienen, einer richtigen Arbeit nachgehen, ja, das werde ihm auch viel mehr Spaß machen, und er habe, um diese Chance zu ergreifen, mit dem Geschäftsführer essen gehen müssen. Ja, müssen, eigentlich habe er natürlich viel lieber mit ihr und ihrer bezaubernden Tochter ausgehen wollen, aber es ging ja nicht. Ja, er habe anrufen und Bescheid geben müssen, aber sie wisse ja, wie das ist, wenn man die Zeit vergaß … So ging das eine Weile, und am Schluss dieser Tirade war Hilde besänftigt, und Theo fühlte sich ein wenig schmutzig. Hatte er tatsächlich »bezaubernd« gesagt? Aber es war gut, dass das Thema erledigt war, Hilde war eine patente Frau, die er mochte, deswegen wollte er sie unter keinen Umständen verärgern.

Der Blumenstrauß verfehlte seine Wirkung ebenso wenig wie das Gespräch mit Hilde. Nachdem Tine erfahren hatte, dass ihre Mutter Theo ebenfalls schon verziehen hatte, glätteten sich die Wogen. Sie zündeten Kerzen an und saßen lange am Tisch, unterhielten sich, und Theo musste wieder und wieder erzählen, wie es im Hotel zugegangen war, was sie gegessen und getrunken hatten. Wo seine Erinnerung ihn im Stich ließ und die Bilder im Weinnebel verloren gingen, schmückte er aus, machte den Kronleuchter etwas größer und glitzernder, die Kellner etwas unterwürfiger, den Saal ausladender und die Dekoration üppiger.

»Und du willst wirklich acht Stunden am Tag am Computer spielen?«

»Mache ich doch eh schon.«

Theo grinste, hatte sich dieselbe Frage aber ebenfalls schon gestellt und auch Ferdi seine Bedenken vorgetragen. Tine lachte.

»Ferdi meinte, es sei auch viel Planung dabei, Meetings und so was. Die Berufsbezeichnung wird ›Produktmanager‹ heißen, oder was anderes Schickes, was sie sich noch ausdenken. Aber ich soll auf jeden Fall nicht nur spielen, sondern auch bei Entscheidungen dabei sein, wie sich die Software weiter entwickeln soll, welche neuen Sachen eingebaut werden, oder welche nicht. Je nachdem, wie ich mich anstelle, kann ich vielleicht auch anderen die Software zeigen und neue Tester einweisen, die mir dann zuarbeiten. Oder so.«

»Und wie lange soll das gehen?«

»Keine Ahnung.«

»Keine Ahnung? Also vielleicht nur eine oder zwei Wochen?«

»Nein, eher so ein oder zwei Jahre. Ferdi hat mir nur kurz erzählt, was noch alles geplant ist. Die Geldgeber sind wohl richtig heiß auf das Programm und drängen die ganze Zeit, die Belegschaft zu vergrößern, um die Entwicklung zu beschleunigen. Sie wollen sogar eine eigene Abteilung nur für die App-Entwicklung aufmachen. Es ist wohl auch die Rede davon, eine Partnerschaft mit einem großen Softwarehaus zu schließen, die ihre Finger im weltweiten Markt haben. Die würden dann zum Beispiel das Marketing übernehmen, Übersetzungen organisieren und dafür sorgen, dass selbst der letzte Bauer im japanischen Hinterland das Spiel kaufen kann und will.«

»Das ist rassistisch!«

»Nein, nur diskriminierend.«

Sie lachten beide und sahen sich eine Zeit lang schweigend an. Je länger Theo über seinen neuen Job sprach, den er noch gar nicht ausübte, desto besser gefiel ihm die Idee und desto verliebter sah ihn Tine an. Zumindest bildete er sich das ein, aber das konnte auch an dem Wein liegen, den sie zusammen tranken und worauf sie bestanden hatte. Eigentlich wollte er sich heute enthalten, aber sie hatte insistiert, dass er sich nicht nur mit seinen Freunden betrinken könne, sondern auch mit ihr, und einen Grund zu feiern hätten sie ja nun. Dem hatte er nicht lange etwas entgegenzusetzen gehabt.

Als sie später zusammen im Bett lagen und Tine schon eingeschlafen war, dachte Theo über die überraschende Wendung nach, die sein Leben nehmen sollte. Beinahe fühlte er sich versucht, seine Mutter anzurufen, um ihr über die neuesten Entwicklungen zu berichten, und wunderte sich selbst über diese Anwandlung, aber ein schneller Blick auf die Uhr belehrte ihn eines Besseren. Er konnte das Gefühl nicht bezeichnen, das ihn beim Gedanken an seine Zukunft ergriff, war es Hoffnung? Zuversicht? Das war vielleicht etwas zu stark, aber es war ein gutes, ein positives Gefühl, es bescherte ihm auf eine angenehme Art Freude darüber, eine Perspektive zu haben. Vielleicht war es das, was ihm bisher gefehlt hatte. Mittelmäßiger Schüler, mittelmäßiger Student, das Studium kurz vor Abschluss abgebrochen und sich dann mit Jobs über Wasser gehalten. Obwohl »über Wasser gehalten« auch ein Schlagwort war, das auf ihn nicht zutraf. Schlecht war es ihm nie gegangen, er hatte sich nicht durchschlagen müssen, hatte viel Glück gehabt und immer schnell einen Job gefunden, der ihm zumindest nicht so sehr zuwider war, als dass er ihn sofort wieder geschmissen hätte. Er hatte keine schmutzige, keine Drecksarbeit machen müssen, hatte sich weder verkaufen noch prostituieren müssen und war immer über die Runden gekommen. Das war zum Teil auch Tine geschuldet, die ebenfalls immer gearbeitet hatte und fleißig war, sodass sie sich zusammen diese Wohnung leisten konnten, den Lebensstil pflegen, den sie genossen, und nicht jeden Pfennig zweimal umdrehen mussten. Vielleicht war es das, was ihn jetzt ein bisschen mit Stolz erfüllte, mit Zuversicht. Er hatte eine Gelegenheit, etwas mehr aus seinem und auch aus Tines Leben zu machen. Ferdi hatte ihm noch keine Zahlen genannt, der Vertrag sollte erst in den nächsten Tagen aufgesetzt werden, zunächst hatte er Theos Zusage gebraucht. Aber Ferdi hatte ihm in Aussicht gestellt, dass er verdienen werde »wie noch nie in seinem Leben«. Theo konnte sich darunter eine ganze Menge vorstellen, aber sobald er sich eine konkrete Zahl vor Augen hielt, die durch dieses Versprechen abgedeckt sein konnte, wurde ihm schwindelig. Sie konnten reisen, sie konnten sich ein Auto kaufen, das nicht drohte, alle naselang liegenzubleiben, und ihn schon seit Monaten veranlasste, lieber den Bus zu nehmen. Sie konnten sich eine größere Wohnung leisten, teuren Wein kaufen, mehr elektronisches Spielzeug, eins von diesen Angeberhandys, eine neue Küche. Und fast erschreckte er bei dem nächsten Gedanken: Sie konnten spießig werden, ruhiger, gesetzter, weil sie eine Sicherheit hatten. Sie konnten eine Familie gründen. Was sie bisher beide auf eine unbestimmte Zukunft verschoben hatten, konnte vielleicht Wirklichkeit werden. Aber Theo war noch nicht betrunken genug, um die Planung seiner Vaterschaft sofort in Angriff nehmen zu wollen, aber zu betrunken, um sie in Angriff nehmen zu können. So vertagte er weitere Planungen auf die nicht mehr ganz so unbestimmte Zukunft, küsste seine schlafende Gefährtin und ließ sich aus den Wachträumen in die der Nacht hinübergleiten.

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