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vier

Ferdi kam nach dem Abend im Hotel irgendwann am Vormittag zu sich. »Ein Glas Wein, zwei Glas Wasser«, murmelte er vor sich hin und behandelte seine Nachlässigkeit mit Schmerzmitteln. Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er zu spät kommen würde, aber die guten Nachrichten würden das mehr als ausgleichen. Er hatte einfach noch einen Termin gehabt. Bei diesem Gedanken stutzte er kurz. Wem war er denn überhaupt Rechenschaft schuldig? Den Geldgebern? Den Teilhabern, die sich aufspielten, als gehörte ihnen der Laden? Was hatten die schon getan? Nun, immerhin hatten sie das Projekt ermöglicht. Sein Vorsprechen in der Bank war fast zwei Jahre, sogar gefühlte Jahrzehnte her, und was hatte sich in dieser Zeit alles verändert … Kein Grund zur Undankbarkeit, ermahnte er sich, es war nur natürlich, dass er gewisse Aufgaben abgeben und von Profis erledigen lassen musste. Was wusste er schon von der Vermarktung von Software in einem globalen Zusammenhang? Bei den Gesprächen mit ihren Geldgebern hatten sie schnell feststellen müssen, dass sie eben doch nur Anfänger waren, Kinder mit einem großen Traum, dessen Konsequenzen sie nicht absehen konnten oder vielleicht auch nicht absehen wollten. Ihre Vision war ihr Baby, das Spiel, an dem sie jahrelang gearbeitet hatten, und natürlich wollten sie das Spiel vermarkten, wollten es weltweit gespielt sehen, wollten ihre Vision umsetzen, aber das bedeutete eben auch, dass man bestimmte Zugeständnisse machen musste. Das betraf nicht ihren Kleidungsstil, wie Clemens immer betonte, aber es betraf ihre Einstellung, ihre Professionalität. Wenn eine Untersuchung ergab, dass ein Spiel, das weltweit vernetzt eingesetzt werden sollte, besser ankam, wenn die Schaltflächen in Grün statt in Blau ausgeführt waren, dann nahm man eben Grün. Ferdi hatte seinen Kleidungsstil der angenommenen Größe und Tragweite ihres Projektes angepasst, hatte sich ein paar feine Anzüge fertigen lassen, trug Hemden und ab und zu sogar Krawatten. Aber er repräsentierte die Idee auch nach außen und konnte sich nicht in seinem Keller einschließen, so wie Clemens es tat. Das war nun auch nicht sein Ding, er flocht lieber die Fäden zusammen, knüpfte Kontakte, kontrollierte und verkaufte, während Clemens der einsame Grübler war, genial auf seinem Gebiet, aber eben nicht dazu zu gebrauchen, einem Banker klarzumachen, dass er ihm möglichst schnell eine möglichst große Menge Geld geben musste. Ferdi fühlte sich nicht wohl bei diesen Gedanken, so als übte er Verrat an seinem Freund, als täte er ihm Unrecht. Trotzdem musste er bei der Vorstellung von Clemens in einem Anzug lächeln.

»Er ist dabei«, rief er Clemens zu, als er es irgendwann geschafft hatte, im Büro aufzutauchen.

»Was? Wer?«

»Theo. Er ist dabei.«

»Gut. Gut.«

»Gut? Ist das alles? Es war ein hartes Stück Arbeit, ihn zu überzeugen, da erwarte ich ein bisschen mehr Begeisterung.«

»Wie hart das Stück Arbeit war, sehen wir bestimmt auf der Spesenrechnung von gestern, oder? Wo wart ihr? Im Hilton?«

»Excelsior.«

Clemens pfiff durch die Zähne, und Ferdi fühlte sich ertappt. Trotzdem ließ er sich seine Freude darüber, Theo überzeugt zu haben, nicht so schnell nehmen.

»Was hältst du von ›Produktmanager‹?«

»Was soll das sein?«

»Theos Berufsbezeichnung.«

»Von mir aus.«

»Sag mal, was ist los?«

»Was soll sein?«

»Hast du schlecht geschlafen oder so was? Ich komme hier rein, um dir zu erzählen, dass nicht irgendwer, sondern Theo mitmacht und dass wir auf ihn zählen können, und du muffelst hier rum. Theo ist einer von uns, vergessen?«

Clemens lachte kurz auf, es hörte sich so an, als würde er verächtlich nach Luft schnappen. Er verdrehte die Augen und sah Ferdi schief an.

»Einer von uns. Sehr gut.«

»Was soll das?«

»Was das soll? Ich kann dir sagen, was das soll!«

Mit diesen Worten knallte er seine Handfläche auf den Tisch und stand auf. Im nächsten Moment schien ihm dieser Gefühlsausbruch, der so gar nicht zu ihm passte, auch schon leidzutun. Er setzte sich wieder hin und stützte die Stirn in seine Hände.

»Tut mir leid, aber siehst du nicht, was hier los ist? Seit Monaten reißen wir uns den Arsch auf, aber es ist nie genug. Immer kommt so ein … Klaus? … rein und will irgendwas.«

»Dietmar?«

»Mir egal, wer das ist, für mich heißen die alle Klaus!«

»Und was wollte er?«

»Irgendwas! Keine Ahnung, ständig Änderungen, Clemens hier, Clemens da, können wir nicht, sollten wir nicht? Wie wäre es hiermit? Es wäre aber besser, wenn so und nicht anders. Der Markt sagt aber. Ich scheiße auf den Markt!«

»Der Markt zahlt unsere Gehälter …«

»Das ist doch Kacke! Der Markt zahlt überhaupt nichts, der Markt will nur, immer will er irgendwas! Unsere Gehälter werden von unseren Ideen bezahlt, von dem, was hier drin ist!«

Dabei tippte er sich mit dem Finger an den Kopf und sah irgendwie grotesk aus, fast meinte Ferdi, ein irres Blitzen in seinen Augen ausmachen zu können, dann aber erkannte er, dass Clemens einfach nur völlig überarbeitet war. Er musste in der letzten Zeit ständig hier gehockt und gebastelt haben. Wenn man sich die Ergebnisse ansah, die er produzierte, schien es fast unmenschlich, dass ein einziger Kopf sich solche Sachen ausdenken konnte. Und besonders schwer fiel es Clemens, Sachen abzugeben, er erledigte die Dinge lieber selbst. Sie hatten mittlerweile eine ganze Horde von bestimmt außergewöhnlich talentierten Programmierern eingestellt, aber Clemens ließ sie nicht an das Herzstück heran, machte alles selbst, was den Kern der Software betraf und überließ den anderen »Kleinkram«, wie er sagte, unwichtiges Zeug, das jeder, der mit irgendeinem beliebigen Körperteil eine Tastatur traf, irgendwie zusammenstümpern konnte.

»Das ist doch Unsinn, Clemens. Niemand zahlt dir dein Essen und deine Miete, nur weil du tolle Ideen hast, du musst sie auch verkaufen, und der Markt sagt dir nun mal, was du einstreichen kannst.«

»Falsch, der Markt sagt mir, was ich für Ideen haben soll. Der Markt weiß angeblich, was die Leute wollen und das sollen wir liefern!«

»Aber irgendeinen Kompromiss …«

»Jaja, einen Kompromiss … einen faulen Kompromiss! Wir hätten Exil …«

»Lifelines«

»Ja, Scheiße, genau, Lifelines, so ein weich gespülter Kackname! Exil heißt das, was ich hier mache, ich kann noch nicht mal mehr bestimmen, wie das Ding heißen soll! Wir hätten Exil allein fertig machen und dann auf den Markt werfen sollen. Dann hätte sich der Scheißmarkt dran verschlucken können. Hier! Friss oder stirb! Dann hätten wir ein fertiges Produkt gehabt, und da hätte auch keine Armee von Kläusen mit Umfragen und anderem Mist kommen können, weil: Wir wären einfach fertig gewesen. Und die Leute hätten es uns aus den Händen gerissen.«

»Das hätten wir nie allein geschafft, und das weißt du.«

»Jaja, ich weiß«, schnaubte Clemens. »Finanzierung hier, Sponsoring da, Venture-Scheiße hier, Capital-Kacke da.«

»Hör auf jetzt, wir waren am Ende, wir hatten nichts mehr, wir hätten noch ein oder zwei Wochen weitermachen können, dann wäre Schluss gewesen. Und Exil hättest du einstampfen oder die Idee an einen der Großen verkaufen könne. Selbst wenn das geklappt hätte, wärst du dein Baby losgeworden und hättest nichts, aber auch gar nichts mehr daran ändern können. Sie hätten es ›Barbies rosa Wunderland‹ nennen und als kostenlose Dreingabe für ein Pfund Mett raushauen können, und du hättest hier gesessen, und es wäre auch nicht richtig gewesen! Scheiße, Mann!«

»Ja genau, Scheiße, Mann! Ich will einfach mein Leben zurück, verstehst du das nicht?«

So emotional hatte Clemens noch nie geredet, und Ferdi fiel es schwer, damit umzugehen, vor allem, da er sehr gut nachvollziehen konnte, wie Clemens sich fühlte. Ihm selbst war der Wandel in ihrem Leben auch nicht leicht gefallen, aber im Gegensatz zu Clemens haderte er nicht mit der Veränderung, sondern hatte sie als etwas Notwendiges akzeptiert. Er war überrascht, dass es Clemens so schwer fiel, das hinzunehmen, was sie eigentlich die ganze Zeit gewollt hatten. Oder war genau das das Problem? Hatten sie eben nicht das bekommen, was sie wollten? Waren sie von der Entwicklung überrollt worden, ausgenutzt und jetzt in eine Ecke gedrängt, aus der es kein Entkommen gab? Er trat an Clemens heran und legte ihm die Hand auf die Schulter. Diese plötzliche Nähe, die sich wie ein tonnenschweres Gewicht auf ihm niederließ, schien in Clemens einen Damm brechen zu lassen.

»Mann, Ferdi, weißt du noch, wie wir angefangen haben? Bei meinen Eltern unterm Dach. Ein Tisch, ein Stuhl, ein Klappstuhl, und du hast auf der alten Matratze gesessen. Den Malblock von meinem kleinen Bruder haben wir als Flipchart aufgestellt und wilde Diagramme gemalt. Wir haben gesoffen und rumgesponnen und Pläne gemacht und geträumt und wussten, alles würde total geil werden und super und abgefahren, und wir würden Millionen machen.«

»Wir werden Millionen machen.«

»Ja, weil wir unseren Arsch dafür hinhalten.«

»Übertreib nicht.«

Clemens sah Ferdi traurig an und legte seine Hand unvermittelt auf Ferdis, die noch immer auf seiner Schulter ruhte. Bei der plötzlichen Berührung zuckte Ferdi unwillkürlich kurz zusammen. Clemens hatte seine Regung bemerkt, die Ferdi dadurch noch peinlicher wurde.

»Was ist? Habe ich mich so verändert? Sehe ich so scheiße aus?«

»Ehrlich gesagt … Ja.«

Ferdi lächelte dabei, und Clemens tat es ihm gleich.

»Danke, Mann.«

»Sag mal, nimmst du irgendwas?«

»Du nicht? Erzähl mir nichts.«

Ferdi schwieg. Jeder meinte natürlich, dass er sich jederzeit unter Kontrolle hatte, da bildete er keine Ausnahme und auch Clemens offenbar nicht.

»Ich will einfach wieder was träumen, ich will einfach ein bisschen länger schlafen und rumhängen, wenn mir nicht nach Arbeit zumute ist. Ich will nicht, dass hier so ein Klaus reinkommt und mir sagt, was ich zu tun habe. Ich weiß, dass wir es allein nie geschafft hätten, tut mir leid, da hast du recht. Ich bin zu idealistisch, aber ich will eben nicht nur nach dem Markt leben, ich will selbst bestimmen, wo es hingeht, was als Nächstes kommt und wie das Kind heißt.«

Er machte eine lange Pause, seufzte mehrfach und fuhr dann fort, langsam, zögerlich, so als müsste er sich jedes Wort vorher dreimal zurechtlegen.

»Du kennst den Umfang der Geschichte gar nicht, Ferdi. Die Kläuse haben noch ganz andere Pläne, die wollen irgendwas Großes veranstalten, eine Riesenschau, die wir uns noch gar nicht vorstellen können. Du nicht, ich auch nicht. Die Ideen, die die einbringen, sind toll, keine Frage, aber ich will nicht wissen, warum die mit diesen Ideen kommen. Scheiße, klar will ich’s wissen, ich bin verdammt neugierig, aber irgendwie auch nicht.«

»Wovon redest du?«

»Ich weiß es selbst nicht. Die wollen Datenformate und Schnittstellen, die einfach nicht nötig wären, ich habe keine Ahnung, wo die mit Exil hinwollen. Natürlich gibt es immer eine plausible Erklärung, aber manchmal ist die einfach zu plausibel. Ich frage die, warum wir Schnittstellen brauchen, um Daten von außen einspielen zu können, die antworten, dass man das Ganze in einem größeren Kontext sehen müsse. Wir erzeugen Daten, wir importieren keine! Was soll das?«

»Ich werde da mal nachfragen …«

»Den Teufel wirst du, lass die ihr Ding machen, ich mache meins. Und ich sage dir eins: Sobald Exil fertig und auf dem Markt ist, bin ich hier raus. Hier drin gibt es noch mehr Ideen, die reichen für ›Finally Development II‹, und dann machen wir alles richtig, denn ich hoffe, du bist dabei, mein Freund.«

Ferdi war gerührt von einer derart persönlichen Ansprache, und so entschlossen sie sich kurzerhand, an diesem Abend Arbeit Arbeit und Überstunden Überstunden sein zu lassen und einen trinken zu gehen »wie in alten Zeiten«.

Kaum dass Ferdi seinen alten Freund umarmt hatte und auf den Flur getreten war, lief er Dietmar über den Weg, den Verantwortlichen des Projekts, den die Geldgeber eingesetzt hatten. Warum jemand anderes für das Projekt verantwortlich sein sollte als Clemens und er selbst, war Ferdi bis heute nicht ganz klar geworden, denn die eigentliche Entwicklungsarbeit machte nicht Dietmar. Auf der anderen Seite konnte er nicht leugnen, dass Dietmar Kontakte geknüpft hatte, an die die ursprüngliche Besetzung von Finally Development niemals gekommen wäre.

Ferdi juckte es, aber er hatte Clemens sein Wort gegeben. Trotzdem … ein vorsichtiges Nachfragen konnte nicht schaden.

»Dietmar?«

»Ferdi.«

»Sag mal, gibt es eigentlich schon einen aktualisierten Projektplan?«

»Noch nicht.«

»Der letzte ist schon ein bisschen her …«

»Ich weiß, aber es gibt momentan so viele Änderungen, da wollen wir uns doch lieber um das Wesentliche kümmern, anstatt irgendwelche Zettel vollzumalen, oder?«

Er grinste blöd, klopfte Ferdi kurz auf die Schulter und wollte schon weitergehen, aber Ferdi hakte nach. Besonders diese herablassend kumpelhafte Berührung dieses … Klaus … konnte er nicht gut ertragen. Was glaubte der, wer er war? Sein bester Freund? Oder ein gönnerhafter Chef, der einem kleinen Angestellten durch die Blume sagte: Zieh Leine, es geht dich überhaupt nichts an, wie es mit der Firma weitergeht, lass das mal die Leute erledigen, die davon Ahnung haben.

»Was ist denn wesentlicher als eine transparente Firmenpolitik?«

»Ach so …«

Dietmar blieb stehen, als hätte er sich jetzt daran erinnert, dass nicht er der eigentliche Geschäftsführer war, sondern ein solcher vor ihm stand. Trotz allem stieg er nicht von seinem hohen Ross.

»Hör mal, wir haben alle Hände voll zu tun und sind schwer damit beschäftigt, die Nummer zu einem Erfolg zu machen. Zu einem Riesenerfolg. Wenn du willst, male ich dir gern einen Plan und bringe ihn beim nächsten Jour fixe mit, ich mache sogar Kopien für alle, wenn es dir Spaß macht. Gut?«

»Das ist ganz toll, Dietmar, herzlichen Dank.«

Dietmar entging der Zynismus offensichtlich, denn er lächelte gönnerhaft und ging seines Weges. Ferdi ärgerte sich, dass er dem Lackaffen nicht die Meinung gesagt hatte. Natürlich war er wichtig für die Firma, das Unternehmen, die »Nummer«, wie er es nannte, trotzdem konnte man sich um Umgangsformen bemühen, deren Grundlage nicht Arroganz war. Aber wahrscheinlich konnten Typen wie Dietmar ausschließlich in Hierarchien agieren, die ihnen die Möglichkeit gaben, nicht nur über andere Leute zu verfügen, sondern ihre angeblichen Untergebenen dieses Machtgefälle auch dauernd spüren zu lassen. Ferdi nahm sich vor, zuallererst Dietmars Stelle zu hinterfragen, sobald Exil ein Erfolg war. Denn zähneknirschend musste er sich eingestehen, dass sie ihn und seine Kontakte vorerst noch brauchten und selbst dann nicht loswerden konnten, wenn sie es gewollt hätten.

»Was bildet sich dieser arrogante Arsch eigentlich ein? Wieso redest du überhaupt mit dem?«

»Ich habe ihn nur nach dem Projektplan gefragt, ich wollte wissen, wie es weitergeht. Ich weiß ja noch nicht mal, für wann die ersten Pressemitteilungen geplant sind.«

Sie saßen in einer Kneipe in der Innenstadt und hatten schon ein beachtliches Pensum an halben Litern ausgetrunken, was auf dem Bierdeckel, der zwischen ihnen auf dem Tisch lag, eindrucksvoll dokumentiert war. Clemens war ausnahmsweise pünktlich aus dem Büro verschwunden, wahrscheinlich das erste Mal seit mehreren Monaten, aber die heutige Aussprache hatte auch in ihm etwas ausgelöst, und daher hatte er die Möglichkeit eines gepflegten Besäufnisses dankend angenommen.

»Lass uns den Penner rausschmeißen!«

»Das geht nicht.«

»Wie, das geht nicht? Ist das unsere Firma oder nicht?«

»Schrei doch nicht so …«

Clemens sah sich um, der Raum war um diese Tageszeit fast leer, trotzdem kam auch ihm sein letzter Satz etwas zu laut vor, so als vibrierte er noch in der Luft wie ein Echo.

»Ja, Mama. Also, wieso können wir den nicht feuern? Wir bezahlen sein Gehalt, oder nicht? Da hat sich der Lutscher zu benehmen!«

»Leider nicht.«

»Was, leider nicht?«

»Leider bezahlen wir sein Gehalt nicht, jedenfalls nicht direkt.«

»Wer dann?«

»Na ja, schon wir, aber uns gehört das Geld, das wir ausgeben, ja eigentlich nicht. Die Verträge mit den Geldgebern sehen so aus, dass wir zwar freie Hand haben, das aber nur auf dem Papier, denn da steht auch, dass wir für jede Ausgabe Rechenschaft ablegen müssen. Das heißt, dass die Einspruch einlegen können, wenn wir sagen, dass wir plötzlich jeder drei Autos brauchen sowie Koks und Nutten in rauen Mengen.«

»Gute Idee, sollten wir machen.«

»Eine Klausel im Vertrag besagt, dass die Geldgeber Mitspracherecht beim Einstellen von neuen Mitarbeitern haben, wenn sie das für nötig halten. Allerdings ist das gar nicht nötig, denn die haben es viel geschickter gemacht: Wir sind quasi Zwangspartner einer Firma, die sich um alles kümmert, wo wir keine Lust drauf oder keine Ahnung von haben. Sprich: Marketing, Leute vollquatschen, das Getriebe schmieren, den ganzen Dreck. Das erledigt alles diese Partnerfirma für uns.«

»Inter-View.«

»Genau die. Und bei denen ist rein vertraglich auch Dietmar …«

»Klaus.«

»… Klaus angestellt. Irgendein Rechtsanwalt hat das ausgefuchst, nur war der leider einer von denen, das heißt, wir haben jetzt Klaus als quasi Vorgesetzten, obwohl er noch nicht mal bei Finally Development angestellt ist. Unsere Firma hingegen hat Inter-View eine Art Freifahrtschein ausgestellt, sich um sämtliche Belange zu kümmern, die sie für wichtig halten. Wir sind also jeder Entscheidung enthoben, wenn es sich um Marketing, Pressemitteilungen oder sonst irgendwas dreht, was an die Öffentlichkeit geht. Das heißt leider auch, dass sie in den Entwicklungsprozess eingreifen können, denn die kennen den Markt und sagen uns, wie er funktioniert.«

Clemens hatte mit wachsendem Ärger zugehört, mit jedem Wort sank sein Kopf etwas tiefer, so als bekäme er Schläge auf den Hinterkopf. Er neigte sich auf sein Bierglas zu, das er schließlich ergriff und in einem Zug leerte. Umgehend winkte er der Bedienung mit einer fahrigen Geste, der man seinen Zustand deutlich anmerken konnte, und bedeutete ihr, noch zwei Halbe zu bringen.

»Jetzt mal Klartext, Alter. Du willst mir damit sagen, dass wir nicht nur nicht mehr bestimmen können, wie unser Ding heißt, wir müssen uns auch noch sagen lassen, wie und wo es zu welchem Preis verkauft wird, wie die Farbe der Verpackung ist und ob man es im Menü mit oder ohne Fritten bekommt. Und als würde das alles noch nicht reichen, können uns diese Pappnasen auch noch in die Tour pfuschen und in die Entwicklung eingreifen, weil sie besser wissen, was gut für den Markt ist. Und das, obwohl sie von Software überhaupt keine Ahnung haben. Wir könnten auch Fahrräder bauen oder Tomaten anpflanzen. Sehe ich das ungefähr richtig?«

»Das kommt hin …«

»Und wie lange laufen diese Scheißverträge?«

»Mindestens bis zum Abschluss des Projekts und dann so lange, bis das Geld, was sie vorgeschossen haben, zurückgezahlt wurde. Deswegen sind sie ja so hinter dem Erfolg her, sie investieren Geld und wollen es zurück. Von dem endgültigen Produkt kassieren sie dann noch ihre Prozente, denn mit ihrer Beteiligung haben sie sich auch in die Rechte der Software eingekauft, sonst hätten sie den Deal überhaupt nicht gemacht, und wir würden jetzt Taxi fahren.«

»Du nimmst mich auf den Arm.«

»Leider nicht.«

»Scheiße. Warum haben wir uns darauf eingelassen«

»Was war die Alternative? Wir hätten Exil einstampfen müssen, die ganze Arbeit, die Planung umsonst. Oder wir hätten die Idee einer anderen Softwarefirma vorstellen können, die uns vielleicht mit Haut und Haaren gekauft hätte, um das Produkt dann unter ihrem Namen rauszubringen. So steht vielleicht wenigstens noch unser Name auf der Verpackung.«

»Jau, und das ist ja auch echt was wert.«

Spöttisch schob er den Unterkiefer vor und schloss die Augen, dann schüttelte er den Kopf und schien zu einer Antwort anzusetzen, sodass Ferdi sich beeilte, weiter beruhigend auf ihn einzureden, bevor Clemens etwas entgegnen konnte.

»Mir gefällt das auch nicht, gerade weil mich dieser Kerl heute so abgefertigt hat, aber ich weiß auch, dass wir die Typen erstens brauchen, weil wir sonst Exil nie auf den Markt bringen, und dass wir zweitens jetzt nicht mehr zurückkönnen. Die haben die Rechte am Produkt, also auch am Code.«

»Einen Scheiß haben die! Die kriegen von mir eine schöne Bombe eingebaut, und sobald das Teil ausgeliefert ist, läuft da gar nichts mehr. Da wird nur noch so ein Klaus auf dem Bildschirm gezeigt, zusammen mit einem fetten Stinkefinger. Und jetzt sag mir nicht, es gibt auch eine Klausel im Vertrag, der uns irgendwelche Serviceleistungen aufbrummt, sodass die Software mindestens X Jahre laufen muss und in der Zeit auch keine Kläuse mit Stinkefingern zeigen darf.«

Ferdis Blick bestätigte, dass er auch diese Befürchtung leider bejahen musste. Er zog sein Bier leer, bestellte nach und sah Clemens an, dessen Augenlider wie seine eigenen schon immer schwerer wurden.

»Alter, ich sage dir was: Lass uns das Ding so fett bauen, wie es nur irgendwie geht. Lass uns das fetteste Ding bauen, das jemals von irgendwelchen Kläusen auf den Markt geworfen wurde. Danach entspannen wir uns ein paar Jahre in der Karibik, und hinterher sind immer noch wir die Typen, die die Sache gestemmt haben, dann können wir machen, was wir wollen. Du hast doch selbst gesagt, du hast noch eine ganze Halde von Ideen in deinem Schädel.«

Clemens nickte zustimmend, aber eine schmerzhafte Resignation schwang in seiner Geste mit.

»Lass uns das so machen.«

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