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3.

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Über die Klingelanlage des Hauses, das ich in Frankfurt bewohnte, und das ich jetzt für immer verlassen habe, um hier hinter dem Haus meiner Mutter zu sitzen, hatte jemand, kurz bevor es passierte, mit rostrotem Lack einen Paviankopf gesprüht. Der Affe sah missmutig aus, fletschte die Zähne, die Augen hatte er katzenhaft zusammengekniffen.

Einige Zeit vorher noch hätte ich das Graffito betastet, an ihm gerochen und bei frischer Farbe gehofft, dass mir irgendjemand etwas hatte mitteilen wollen, so wie wir uns in der Schulzeit gegenseitig kleine Zettel in die Taschen gesteckt hatten. Keine einfachen Worte, kryptische Zeichen, Kritzeleien. Botschaften, für deren Entschlüsselung der Empfänger stundenlang hatte brüten müssen, für die man über ein Wissen verfügen musste, das in der Schrift keine Entsprechung fand, ein Wissen, das ohne ein geschriebenes Wort auskommt, das »direkt aus dem Leben sich ergibt«, das heißt, unmittelbar ist.

Wären wir gläubig gewesen, hätten wir von Erleuchtung gesprochen. Aber wir waren nicht gläubig, und bei Erleuchtung kam uns nicht Christus in den Sinn, sondern der Weihnachtsbaum, den wir, Thilo und ich, mit Kochlöffeln und Garnrollen behängten. Wir fanden das witzig.

Aber man kann die Dinge nicht einfach in die Texte kleben. Der Abguss als Zeichnung. Es war ein Dakerwissen, denn auch dieses Volk kannte die Schrift nicht, aber Chiffren, die dem Außenstehenden nur Strichmännchen waren oder eben gebogener Draht. Als sei die Stadt in ihrer Gänze auf mich bezogen gewesen, als sei sie meine Behausung gewesen, ein mittelalterlicher oder noch älterer Kosmos voller Ahnungen und Ahnen und keine vorübergehende Zufluchtsstätte, überdeckt nur von Bahngleisen und Ausfallstraßen. Ein Verkehrsstern, der anzog, oder die Fliehkraft einer Wäschetrommel. Obwohl Frankfurt mir genau Letzteres war.

Aber wie soll man das wissen, bevor man einen Ort (für immer vielleicht) verlässt. Und wäre ich damals aus dieser Stadt verschwunden, dann ohne etwas zurückzulassen, ich wäre spurlos verschwunden. Inzwischen sehe ich in den Wandbildern und Graffiti nur noch jene Zufälligkeit, die auch in den Formen der Wolken liegt.

Im Treppenhaus roch es nach Urin, und ich war darauf gefasst, den Junkie zu treffen, der für gewöhnlich unter der Kellertreppe saß, sich ein Schienbein bandagierte und der nie auch nur den Kopf hob, wenn ich den Hausflur betrat. Ich überlegte, wie immer, ob ich ihn grüßen sollte. Gewissermaßen gehörte er ja zur Hausgemeinschaft, und sogar die alte Frau Elfen, die im Erdgeschoss wohnte, hatte es schon lange aufgegeben, nach der Polizei zu rufen und ihn entfernen zu lassen. Er kam ja doch immer wieder, saß unter der Kellertreppe, kochte sein Heroin in einem kleinen Löffel aus Aluminium über einer Haushaltskerze und stank.

Du denkst überhaupt zu viel, ein Kommentar aus meiner Jugend, dabei hatte ich noch gar nicht angefangen zu denken. Mit alten Gesellschaften ist es wie mit altem Wein, es bildet sich ein Bodensatz, der in der Flasche bleibt, während das dekantierte Gut umso edler ist. Vulgärsoziologie! Und wer waren die Edlen, kurz vor dem Verschwinden?

Ach, Herr Schroth, sagte Frau Elfen, als ich mit einer Tüte Lebensmittel unter dem Arm hereinkam. Was soll man tun, Herr Schroth? Und mir war, als hätte sie schon eine Weile so gestanden und den Platz des Junkies betrachtet. Irgendwann würde Frau Elfen ihm eine Schüssel Milch unter die Treppe stellen, mit Weißbrotstücken darin wie für eine Katze.

Der Junkie war nicht da, diesmal nicht, nur sein Geruch hing im Haus. Dieser Gestank, der in die Wände eindrang, in die hölzernen Treppenstufen und den Deckenputz und der auch der Zugluft trotzig widerstand, ein Geruch, der die Form des Hauses angenommen hatte und wahrscheinlich noch da sein würde, wenn der Junkie selbst schon lange an einer Überdosis gestorben und das Haus abgerissen wäre.

Denn dieser Geruch würde sich auch ohne das Haus hier erhalten, als leise stinkender Abguss, als Geruchsskulptur, und man würde die Umrisse des ehemaligen Hauses abschreiten können, indem man an ihnen entlangschnüffelt. Hundebesitzer werden sich einst über das merkwürdige Verhalten ihrer Tiere an dieser Stelle wundern. Und die werden eine neu angelegte Grünanlage nur widerwillig betreten.

Einmal, vielleicht nur einmal im Leben würde jeder von uns etwas hinterlassen, dachte ich, etwas, das die Nachfolgenden wahrnehmen, riechen, betasten oder betrachten und wenn überhaupt, dann nur mit Mühe entschlüsseln könnten. Und ich beschloss, den Junkie zu grüßen, wenn ich ihn das nächste Mal sähe. Vielleicht haben wir alle nur diese eine einzige Chance, uns in so etwas wie ein materielles Gedächtnis dieser Welt einzuschreiben. Und vielleicht war ja der Fußabdruck in der Garageneinfahrt meines Vaters das, was ich hinterlassen sollte.

Dieser unachtsame Tritt in den noch nassen Beton. Größe fuffzich, hatte ein Nachbar gesagt, da kannste die Suppe gleich reinschütten, und die Garagenbauergemeinschaft hatte sich nicht die Mühe gemacht, meinen Fehltritt auszugleichen. Er hatte über die Jahre Moos angesetzt, das bei jedem Regenschauer ergrünte.

Ich denke, dass die Nachfolgenden das Vergangene der unabänderlichen Natur zuschlagen oder irgendeiner Objektivität, es mystifizieren und stolz darauf sind, nicht an Geister zu glauben. Warum auch? Es hat so kommen müssen. Dieser Satz, den ich immer wieder hörte, von Freunden und von Verwandten. Es hat so kommen müssen. So und nicht anders, und weil die Geschichte ja bereits fortgeschritten war, ist dieser Satz nicht zu widerlegen. Und der Vorwurf, der leise Vorwurf, der in diesem Satz liegt, oder aber die Resignation, die mitschwingt, wird einem zum ständigen Begleiter.

Der Uringestank jedenfalls trieb mir die Tränen in die Augen, und ich hielt mir ein Taschentuch fest vor die Nase. Das nützte wenig, also nahm ich immer zwei Stufen auf einmal, als ich in meine Wohnung hinaufrannte, und ich achtete kaum auf die ehemals hellbraune Prägetapete, die die Hausverwaltung vor Jahren im Treppenhaus hatte anbringen lassen, als ihr plötzlich der rohe Putz an den Wänden ein Dorn im Auge gewesen sein musste. Seit ich hier wohnte, war niemand mehr ein- oder ausgezogen, und da keiner größere Möbel über die Treppe gewuchtet hatte, war die Tapete fast unbeschädigt geblieben. Ihr fehlten die Risse und Schrunden, die Tapeten in Mietshäusern und die Rücken wild lebender Elefanten auszeichnen, zumindest die in jenen Häusern, in denen die Bewohner ihre Naturholzbetten und Second-Hand-Küchen selbst in die Wohnungen trugen oder von nahen Angehörigen tragen ließen.

Nur verblasst war die Tapete, stockfleckig, und garantiert war sie bis in die oberen Etagen vom Geruch des Junkies durchtränkt. In meinen Augenwinkeln trieb sie dahin wie ein Film, den ich schon tausend Mal gesehen hatte und dessen Inhalt über die Jahre zu phosphoreszierenden Farbflecken zerflossen war.

Ich betrat mein Apartment, wie ich die Wohnung nannte, weil sie mir von einem durchtriebenen Makler so vorgestellt worden war, ein Ausdruck, den ich vorher nur aus amerikanischen Filmen kannte. Ich hatte mich immer gefragt, was ein, mein Apartment von einer wirklichen Wohnung unterschied. Wahrscheinlich dass es keinen Flur gab. Vorsaal, wie meine Verwandten den Flur nannten, noch den kleinsten fensterlosen Raum nannten sie so, weil er eine Flurgarderobe hatte. Mein Apartment hatte einen Flur, der nur einer Person Platz bot.

Die Türen mussten geöffnet bleiben, wenn man sich darin den Mantel an- oder auszog, und sie mussten geschlossen werden, um den Mantel an den Haken zu hängen, der sich hinter der Tür zum Wohnbereich befand. Und wenn Kerstin bei mir war, wenn wir gemeinsam kamen, traten wir einzeln durch diesen Flur, wie durch eine Dekontaminierungsschleuse.

Ich betrat also mein Apartment und stutzte. Ein mir vollkommen unbekannter Geruch lag in den Räumen. Etwas Öliges, etwas Rußiges hatte sich festgesetzt und den Duft der Zwiebeln verdrängt, der sich sonst vom Rauchabzug der Küche her ausbreitete, und an den ich mich über die Jahre gewöhnt hatte.

Natürlich war niemand hier, aber ein Fenster war zu Bruch gegangen. Ein Stein hatte es zerschlagen und lag nun faustgroß mitten auf dem mausgrauen Teppichboden, zwischen all den Rotwein- und Wasserflecken, die sich dort versammelt hatten. Mich fröstelte, und für einen Moment hatte ich den Eindruck, mitten auf der Straße zu stehen. In der Ferne verklangen Sprechchöre, und meine Arme kamen mir wie untergehakt vor.

Polizei, SA, SS. Deutsche Polizisten, Mörder und Faschisten. Nie, nie, nie wieder Deutschland. Unwillkürlich begann ich ein Lied zu singen, dessen Melodie den Sprechchören unterlegt war und dessen einfacher Text mich immer gerührt hatte. … unter den Menschen und unter den Tiern. Es war das Paradies. Der Traum ist …

Der Stein hatte keinen großen Schaden angerichtet, nur das Modell, das mir Thilo auf dem Rhein-Main-Airport zum Abschied geschenkt hatte und das seitdem auf meinem Schreibtisch stand, um mich an irgendeine Aufgabe zu erinnern, die ich lange vergessen hatte, war zu Boden gegangen, aber natürlich nicht zu Bruch. Es schien sich sogar langsam vorwärts zu schieben, in unmerklichen Bewegungen schob es sich auf dem Teppichboden auf den Tisch zu.

Unter meinen Füßen knirschte es, als ich hinging. Ich betrachtete das Modell lange, drehte es in meiner Hand, sah, wie sich das Licht in ihm brach, ich betrachtete es, als sei es gerade einem Attentat entgangen. Ich wiegte es ein wenig und hoffte, dass es nicht die Pflanzen des Freundes waren, an die es mich erinnern sollte. Aber wer wandert schon aus und lässt einen Gummibaum zurück? Ich selbst hatte meiner Mutter einen alten Fahrradrahmen hinterlassen, der ihr den Keller versperrte.

Eine Hinterlassenschaft ohne Sinn. Die Wohnung meiner Mutter war inzwischen fernbeheizt, und auch sonst hatte sie keinerlei Grund, über meinen Fahrradrahmen hinweg in den Keller zu steigen. Ihre Wohnung hatten wir noch entrümpelt, bevor ich wegging, und außer diesem Rahmen der Firma Wanderer alles weggeworfen, was nicht mehr gebraucht wurde.

Ich sammelte meine Notizblätter ein, die der Wind vom Schreibtisch geweht hatte und die nun überall im Zimmer verstreut lagen, und schichtete sie zu einem kleinen Stapel. Dabei versuchte ich mehrmals vergeblich, sie ordentlich auf Kante zu legen. Das Papier riss am Rand, wenn ich damit auf die Schreibtischplatte klopfte, es war einfach zu alt.

Schließlich legte ich die Blätter, so wie sie waren, neben den Computer. Ein unansehnliches Häuflein vergilbtes Papier. Dem Impuls, es in den Papierkorb zu stopfen, folgte ich nicht, das habe ich später erledigt. Vorerst benutzte ich das Modell als eine Art Briefbeschwerer.

Das Modell

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