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Vorwort

Die Internetnutzung von Kindern und Jugendlichen wird nicht nur von Erwachsenen, sondern auch von Fachleuten verschiedener Couleur mit Sorgen oder gar mit ablehnenden Vorurteilen belegt, die sich nicht selten in Internetmythen ausdrücken. Naheliegende Vereinfachungen werden von manchen Journalisten und Buchautorinnen mit Titeln wie »Das Internet macht dumm«, »Online-Spiele führen zu Gewalt« usw. publikumswirksam inszeniert. Leider werden damit und mit teilweise gelehrter Unkenntnis, Ignoranz und ideologisch gefärbter Wissenschaft weder Gefahrenpotenziale angemessen erkannt noch vorhandene Leistungspotenziale richtig eingeschätzt. In der vorliegenden Abhandlung geht es deshalb darum, in einem kritischen Sinne Verbreitung, Nutzung und Wirkung des Internets – als Leitmedium der heranwachsenden Generation – differenziert zu untersuchen und zu bewerten. Dabei sind auch voreilige Pauschalisierungen und monokausale Zuschreibungen zu überprüfen.

Zunächst ist festzuhalten, dass Besitz und intensive Nutzung von Computer und Mobiltelefon sowie Internetnutzung und Online-Spiele zum selbstverständlichen Standard der Heranwachsenden gehören. Ältere Kinder und Jugendliche, das heisst 12- bis 19-Jährige nutzen das Internet zwei oder mehr Stunden pro Tag, und zwar in meist unkontrollierten Räumen im Sinne des »informellen«, das heisst des nicht angeleiteten Lernens. Für Lernende und Studierende ist das Internet mit seinen Such- und Informationsangeboten (z. B. Google, Facebook, Wikipedia) ein bildungswirksames und meist unentbehrliches Medium. Die Nutzungsschwerpunkte liegen trendmässig über den informativen Gebrauch hinaus beim vielfältigen Sozialkontakt, bei Online-Spielen und kreativer Verwendung im Sinne aktiver Teilhabe (Web 2.0). Insbesondere bei Kindern und bei Jugendlichen höherer Schulstufen ist das Internet ein Informations-, Austausch- und Gestaltungsmedium, das wesentlich zur Identitätsbildung und zur Internetidentität beiträgt. Computer, iPhone, Facebook- und Wikipedia-Nutzung usw. sind deutliche Indikatoren der Zugehörigkeit zur modernen Jugend, sie sind darüber hinaus Statussymbole. Insofern ist das Internet in quantitativer und qualitativer Hinsicht das Leitmedium der nach 1980 Geborenen, die Zugang zu den digitalen Medien haben und über das Wissen verfügen, diese bedarfsgerecht zu nutzen. Die damit verbundene Medien- und Informationskompetenz ist beispielsweise bezüglich informationeller Quellen- und Qualitätskritik zwar lückenhaft, aber dennoch beachtlich – und mit Blick auf die digitale Berufs- und Lebenswelt der Informationsgesellschaft eine zukünftige und wohl zentrale Schlüsselqualifikation.

Das Internet ersetzt bislang weder vorschulische Primärerfahrungen noch schulisch-systematisches Lernen, und es setzt Fertigkeiten wie Lesen und Schreiben, Aufmerksamkeit und Konzentration usw. voraus: Das Internetlernen beginnt vor dem Internet. Weiterführende Fähigkeiten im Bereich der raschen Signalverarbeitung sowie des Multitaskings scheinen gefördert zu werden.

Der weit verbreitete, häufige, leichte und vermeintlich unkontrollierte Zugang zum Internet sowie die scheinbar anonyme Nutzung desselben implizieren allerdings ein Gefahrenpotenzial, das teilweise vom Medium, von Produzenten, aber auch von grossen Akteurinnen und Akteuren des Internetangebots und schliesslich von den Nutzerinnen und Nutzern selbst generiert und fast wöchentlich erweitert wird. Als Hauptergebnis der vorliegenden Erschliessung des Gefahrenpotenzials kann Folgendes gelten:

Im Verlauf seiner digitalen Biografie ist grundsätzlich jedes Kind und jeder Jugendliche den Internetgefahren passiv oder aktiv, wissentlich oder unwissentlich, allein oder in Gruppen, oft geschlechts- und altersspezifisch mit mehr oder weniger gravierender Wirkung und Nachhaltigkeit ausgesetzt. Dabei lässt sich kein gleichförmiges Gefährdungsmuster identifizieren: Die Vielfalt der Negativerscheinungen – von illegalem Musiktausch über Spielsucht, Happy Slapping und Cyberbullying bis zum Pornografiekonsum – ist derart gross, dass Gefährdung und Vulnerabilität (Verletzbarkeit) sowohl phänomen- als auch kohortenspezifisch zu betrachten sind.

Fokussiert man einzelne Gefahrenfelder, so zeigen sich unterschiedliche Verbreitung, Aktualität und Interventionsdringlichkeit:

Relativ verbreitet sind illegale Downloads und die illegale Weitergabe von Musiktiteln. Online-Tauschbörsen und neuerdings auch sog. Cyberlocker-Dienste haben die tradierten Geschäftsmodelle der Musik-, Film- und Spielindustrie zum Teil massiv geschädigt und in den Grundfesten erschüttert. Bei Jugendlichen herrscht teilweise Unkenntnis und Ignoranz illegaler Vorgänge und der damit verbundenen Urheberrechtsverletzungen bzw. eine aus Erwachsenensicht teilweise eigenwillige Interpretationsbereitschaft.

Kinder und Jugendliche empfinden namentlich soziale Netzwerke mehrheitlich als privaten oder bestenfalls halböffentlichen Raum. Vor allem die langfristigen Gefahren beim Eintragen privater Daten und Ereignisse, die zu einem »digitalen Dossier« führen und öffentliche sowie kommerzielle Zugriffsmöglichkeiten schaffen, werden dabei oft unterschätzt.

Obschon eine monokausale Zuschreibung von »Killer-Spielen« oder »Ego-Shooter-Spielen« zu jugendlichen Gewalthandlungen unzulässig ist, ist die positive Korrelation, das heisst der Zusammenhang zwischen gewalthaltigem Medien- bzw. Fernseh- und Internetkonsum einerseits und erhöhter Aggressionsbereitschaft andererseits, empirisch belegt. Hier wie anderswo ist allerdings ein multikausaler Zusammenhang, der auch soziale Umstände, Erziehungsdefizite, Erniedrigungen usw. einbezieht, zu berücksichtigen.

Zu den aus Erwachsenensicht wichtigsten Risiken gehören Cyberbullying, sexuelle Belästigung, Online-Bedrohung und Pornografie. Das Spezielle an Kontaktnahmen ist die Leichtigkeit des Zugangs, der anonyme Informationszugriff sowie der weitgehend kontrollfreie Aktionsraum (z. B. in Chaträumen). Pornografie ist der elterlichen und schulischen Kontrolle meist entzogen. Hauptakteure und Adressatinnen sind meistens die Jugendlichen unter sich. Pornografie als wichtiges und fragwürdiges »Aufklärungsmedium« liefert nicht nur einen Beitrag zum sexuellen Identitätsaufbau bzw. zur Identitätsdiffusion, sondern signalisiert auch ein virulentes ethisches Problem. Empirisch gesehen besonders problematisch ist das Cyberbullying, wobei in der Regel online und offline die gleichen Gruppen gefährdet sind und eine Vermengung zwischen Opfern und Täterin oder Täter festzustellen ist. Dabei kommt namentlich dem Cyberbullying zwischen Peers, d. h. zwischen Kindern und Jugendlichen, zentrale Bedeutung zu.

Mit Hinblick auf Prävention, Aufklärung und Förderung der Medienkompetenz, speziell bezüglich kritischer und qualitativ anspruchsvoller Informationsnutzung, gibt es eine breite Palette von Interventionsmöglichkeiten. Diesbezüglich sind verschiedene Akteure angesprochen: Politiker, Eltern, Lehrkräfte, Gesetzgeber, Akteure der Medienindustrie, Dienstanbieter usw. Das Instrumentarium umfasst technische, rechtliche und (medien-)pädagogische Massnahmen, die – wie in der Abhandlung detailliert gezeigt wird – den epochalen, örtlichen, bildungspolitischen, entwicklungsspezifischen, lehr- und lernkontextuellen Erfordernissen und nicht zuletzt organisatorischen und finanziellen Mitteln anzupassen sind. Der naheliegende Ruf nach Verboten und gesetzlichen Einschränkungen ist im Raum der oft unkontrollierbaren Prozesse im digitalen Geschehen selten angemessen und wirkungsvoll. Hier gelten traditionelle pädagogische Ansichten, die von der Unterstützung des Positiven mehr erwarten als von der Gegenwirkung.

Das vorliegende Buch basiert auf einer Studie, die im Rahmen eines Umfeldmonitorings zu den Risiken und Gefahren im Internet für Schülerinnen und Schüler der Volksschule zuhanden des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements des Kantons Graubünden (Schweiz) an der Forschungsstelle für Informationsrecht (Universität St.Gallen) in Zusammenarbeit mit dem Berkman Center for Internet & Society (Harvard University) erstellt worden ist. An der Studie haben neben den Autoren dieses Buches auch Assistierende mitgewirkt, namentlich Herr Phil Baumann und Frau Aurelia Tamò, denen an dieser Stelle für die Mitarbeit herzlich gedankt sei. Den Direktoren der Forschungsstelle, Herrn Professor Peter Hettich und Herrn Professor Florent Thouvenin, danken wir für die vielgestaltige Unterstützung dieses Vorhabens. Ein besonderer Dank geht ferner an die Projektverantwortlichen des Erziehungs-, Kultur- und Umweltschutzdepartements des Kantons Graubünden, an die Herren Dany Bazzell und Christian Sulser, für die Zusammenarbeit und wertvolle Hinweise.

Für die Buchpublikation haben wir neuestes Zahlenmaterial sowie aktuellste Erkenntnisse aus der Forschung eingearbeitet (Stand: Januar 2012). Darüber hinaus hat sich Herr Dr. Peter Gasser, Vater des Erstautors, freundlicherweise bereit erklärt, Grundgedanken einer digitalen Didaktik vorzustellen, die das Werk nicht nur abrunden, sondern in wichtiger Weise auch den Blick öffnen für die beeindruckenden Möglichkeiten und Bildungschancen, die das Internet jungen Menschen bietet und die es gemeinsam zu nutzen gilt. Die realistische Einschätzung der Risiken und Herausforderungen soll dazu einen Beitrag leisten.

Der Herausgeberin und den Herausgebern der vorliegenden Reihe sowie den Mitarbeitenden des hep verlages, insbesondere Herrn Peter Egger sowie Frau Geraldine Blatter, sind wir für die verlegerische Betreuung zu Dank verpflichtet. Ein weiterer Dank geht an den Profilbereich: Unternehmen – Recht, Innovation, Risiko der Rechtswissenschaftlichen Abteilung an der Universität St. Gallen sowie an die dortige Forschungskommission für finanzielle Unterstützung der Drucklegung.

Cambridge/St.Gallen, 4. Februar 2012

Urs Gasser

Sandra Cortesi

Jan Gerlach

Kinder und Jugendliche im Internet

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