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Kapitel 1

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In Martins Augen glomm noch die Glut des lüsternen Feuers, das kurz zuvor aufgelodert war. Da lag er nun, nackt, groß, breit und kräftig, ein Bild von einem Mann – glaubte er zumindest – und beobachtete den schmalen blonden Jungen, der sich vor seinem Bett bekleidete, wie er langsam die Jeans über die Waden, dann die Schenkel streifte, bis der Stoff das kleine zarte Gesäß fast zur Gänze bedeckte. Martin machte einen Satz zu ihm, riss die Hose nach unten, erhob sich, umschlang mit seinen muskulösen Armen den knabenhaften Körper und glitt sachte, aber bestimmt, den Rücken hinab und küsste schließlich die Pobacken, auf denen sich eine Gänsehaut gebildet hatte. David kicherte. Es war Martins Ungestüm, dieses leicht Animalische, das er an ihm so liebte und weswegen sie sich bereits mehrere Jahre trafen, in der Regel zum Spaß, stets zum Vergnügen. Als Martin genug hatte, warf er sich zurück ins Bett. David zog sich weiter an. Er blickte ein letztes Mal zu Martin, der ihn betrachtete wie ein Falke eine Feldmaus, sagte „Tschüss“ und verließ den Raum, Sekunden später auch das Haus. Auf der Kommode gegenüber dem Bett lagen zweihundert Euro in kleinen Scheinen. David hatte sie dort liegen gelassen. Martin platzierte sie vor jedem ihrer Treffen an ebendieser Stelle – wenn David sie nicht mitnahm, wusste Martin, dass er gut gewesen war und dass es ‚seinem‘ Jungen gefallen hatte. Bisher hatte er sie nie mitgenommen.

Martin sinnierte noch eine Weile über seine Männlichkeit und überwand sich endlich, aus dem Bett zu steigen um ins Bad zu gehen, wo er zu duschen gedachte. Vor dem Badezimmerspiegel machte er Halt, posierte, ließ die Muskeln spielen und zwinkerte seinem Abbild zu, welches die Geste selbstverständlich zurückgab, was Martin zum Lächeln brachte, genauso wie sein Spiegelbild. Dann beugte er sich nach vorne, näherte sich dem zweiten Martin, der wiederum seinem Original entgegenkam, bis sich ihre Lippen berührten. Der fleischerne Martin wich zurück und lachte laut auf. Dann verschwand er unter der Dusche. Dort dachte er an vorhin, an David und an sich, das heißt, eigentlich dachte er in erster Linie an sich und an diesen Gedanken hatte David irgendwie seinen Anteil, weil sie sich allein nicht denken ließen. Martin war mit sich vollauf zufrieden. Er hielt sich für einen Angekommenen, einen, der – trotz seiner neununddreißig Jahre – schon alles erreicht hatte, was ein normaler Mann erreichen konnte: Eine eigene kleine Firma mit drei Angestellten, ein eigenes Haus, ein Mietshaus mit mehreren Wohnungen, drei Autos, obwohl er immer bloß mit einem fahren konnte, einen großen Bekanntenkreis, teure Freizeitbeschäftigungen – er war passionierter Jäger und im Schützenverein – und, für ihn besonders wichtig, ein ausgefülltes Liebesleben, worin David einen hohen Stellenwert besaß. Er war zwar nicht Martins Einziger, aber Martins Regelmäßiger. Alle anderen liefen eher nach Lust und Laune, wechselten öfter oder waren ohnehin von vornherein lediglich als einmalige Sache angelegt. Übrigens galt das auch für Martins weibliche Bekanntschaften. In den letzten Wochen, ja, es dürfte sich sogar um Monate handeln, fühlte er sich allerdings trotz dieser Abwechslung – oder möglicherweise gerade deshalb? – seelisch nicht richtig wohl. Ihm schien, als fehle etwas in seinem Leben und dabei handele es sich nicht nur um Beständigkeit auf diesem Feld. Ach! Was sollten jetzt diese Gedanken!? Er schob sie beiseite, wollte nichts von ihnen wissen, stieg aus der Dusche und legte sich ein Badetuch um die breiten Hüften. So schlurfte er in die Küche, wo er sich einen Kaffee kochte. Nackt, nur mit Badetuch, stand er am Fenster und schaute auf den ruhig dahinfließenden Rhein, während der Duft des Kaffees seine Nase umströmte.

Nach einer Weile griff Martin sein Handy, das auf dem Küchentisch unter einer leeren Bäckertüte versteckt war. Er wollte nachschauen, wer ihm möglicherweise alles eine Nachricht geschrieben hatte an eines seiner Profile, die er bei zwei Portalen besaß: ein Portal für Männer für Männer, eines für Männer und Frauen. Die letzte Zeit fesselte ihn mehr das reine Männerportal, wohlwissend, dass sich dies schnell ändern konnte. Dort tauschte er sich allerdings seit einigen Wochen mit Dominik aus, den er bisher einmal kurz getroffen hatte, nur zum Reden, nicht für mehr. Martin hatte ihn sympathisch gefunden, er war ruhig, intelligent und hatte Humor, wenn auch einen eher schwarzen. Seitdem bemühte Martin sich um ein weiteres Treffen, denn Dominik gefiel ihm nicht bloß auf charakterlicher Ebene: Er war zwölf Jahre jünger, kleiner, leichter, zarter als Martin und hatte außerdem etwas Geheimnisvolles oder tat wenigstens, als hätte er so etwas, nicht wie die vielen anderen, die ihm wie offene Bücher begegneten, nein, bei Dominik – das spürte er – gab es noch viele Seiten, die er umblättern müsste und worauf er jeweils etwas für ihn Neues lesen könnte. Der Altersunterschied störte ihn überhaupt nicht, der störte ihn eigentlich nie, solange er der Ältere war. Heute Abend hätte er eigentlich Lust und Zeit, Dominik zu sehen, wanderte es ihm durch den Kopf und irgendwie durch den Bauch, was ihm stets als ein Zeichen dafür galt, dass es sich nicht um eines seiner Abenteuer handelte, sondern vielleicht mehr draus würde. Er hasste es hingegen, derjenige zu sein, der fragte. Er bevorzugte es, gefragt zu werden. Dominik fragte jedoch nie. Eigenartig. Er meldete sich jeden Tag, teils sogar mehrmals, aber er fragte nie. Sicherlich verbietet ihm das seine Zurückhaltung, mutmaßte Martin. Folglich blieb es an ihm, den Schritt zu tun. Und wenn er nein sagen würde? Noch schlimmer als fragen war es für Martin, einen Korb zu kassieren. Das konnte er gar nicht ab! Das kratzte am Ego, an seinem Bild von sich selbst. Ach, was sollte es – er tippte eifrig ‚Lust heute Abend zu treffen?‘ und schickte die Nachricht ab. Dann flog er über die anderen Nachrichten, die in den vergangen Stunden eingetrudelt waren. Amanda hatte ihm geschrieben. Das war die Mollige mit den dicken Brüsten. Hatte mehr von ihm gewollt, Martin aber nicht von ihr, weshalb man sich auf gelegentliche Begegnungen sexueller Art geeinigt hatte, solange sie solo waren, das heißt, solange sie solo war, denn Martin war meistens solo, indes nie lange allein. Von Kathrin befand sich ebenfalls was im Postfach. Ihr Mann sei für zwei Wochen auf Montage, schrieb sie. Martin musste grinsen. Wenn er von ihr etwas hörte, konnte er sich gewiss sein, dass sie es wirklich nötig hatte. Er spürte, wie er unweigerlich Lust bekam, ihr einen Besuch abzustatten, verkniff es sich jedoch. Das Ziel hieß Dominik. Da passte Kathrin ihm heute nicht. Die anderen Nachrichten – Dennis, Mark und Jonas – ließ er vorerst unbeantwortet und ging zurück zum Fenster.

Es hatte zu regnen begonnen. Dicke Tropfen schlugen gegen die schmutzige Scheibe. Seine Blicke schweiften hinüber zum Rhein, dessen Wassermassen unbeeindruckt von dem, was um sie herum geschah, ihren Weg fanden. Sporadisch raste ein Auto am Haus vorbei, ratterte ein Zug über die Gleise. Martin stand am Fenster und stierte auf den Fluss, einfach so, ohne Absicht, ohne Grund. Der Fluss befand sich halt gerade da, wo er hinschaute. Er hätte auch auf eine Wiese gestarrt, wenn sie dort gewesen wäre. Für einen Moment vergaß er David, vergaß er Amanda, vergaß er Kathrin und all die anderen. Für einen Moment erinnerte er sich an Nathalie, die einzige, die er bisher wahrscheinlich tatsächlich geliebt hatte. Nathalie, eine Französin, die er während eines Auslandspraktikums kennen gelernt hatte, zu dem er von seiner Mutter gezwungen worden war, nach der Schule. Er hatte Französisch nie gemocht, sprach es zudem nur leidlich, aber seine Mutter hatte sich damals durchgesetzt und er war nach Dijon gereist. Sie hatte anscheinend die Hoffnung gehegt, dass er sich doch noch für ein Studium entscheiden würde, wenn er erst einmal eine Weile die Schule hinter sich hätte und sich klarer darüber geworden wäre, was er eigentlich selbst wollte. Martin war sich dessen hingegen von Anfang an bewusst gewesen: Er hatte nie beabsichtigt, zu studieren und so war es dann ja auch gekommen: Lehre zum Einzelhandelskaufmann, längere Beschäftigung in einem Baumarkt, dann der Schritt in die Selbstständigkeit und weil er sich immer für Autos interessiert hatte, wurde es eben der Autoteilehandel für Oldtimer. Finanziell zu Gute kam ihm – obwohl es ihn persönlich schmerzte – der Tod seines kinderlosen Patenonkels, der ihm ein Mietshaus vererbte, welches es ihm ermöglichte, geschäftlich turbulentere Zeiten gut zu überstehen. Das Praktikum war inzwischen zwanzig Jahre her, sein halbes Leben. Trotzdem hing er an Nathalie, die er seinerzeit kennen gelernt hatte, sah die gemeinsamen Stunden am Lac Kir vor sich, als sei es gestern gewesen und den Entenschiss, der die Wege stellenweise zentimeterdick bedeckte. Er schlurfte zu seinem Handy auf dem Küchentisch. Dominik hatte geantwortet und ihm – wie erwartet – einen Korb gegeben, wenigstens charmant verpackt, was er unglaublich gut konnte. Martin seufzte und ging ins Wohnzimmer, wo er sich aufs Sofa schmiss. Dass sich das Badetuch auf halber Strecke gelöst hatte, scherte ihn kein bisschen. Er griff nach der Fernbedienung der Stereoanlage. Sekunden darauf erklang ein Lied, dessen Text er auswendig kannte. Es war das einzige Lied, das er auswendig kannte, jedes Wort, jeden Ton: Nathalie. Die rauchig-nasale französische Stimme hätte seine eigene sein können, die Melancholie und Sehnsucht, die in der Melodie und den Zeilen steckten, waren es. Zwar waren die zwei sich nicht in Moskau begegnet, Nathalie war auch nicht blond gewesen, sondern dunkelhaarig, doch als Martin sie verlassen hatte, schien ihm auch sein Leben befremdlich leer. Seitdem war ihm keine mehr über den Weg gelaufen, die ihre, Nathalies braune Augen hatte, ihr Lachen, ihre Stimme, ihren Duft, ihre bezaubernde Art, ihren fröhlichen Charakter, der ihn mitzureißen vermochte, ihn, der letztlich bloß eine traurige Gestalt war auf der inneren Suche nach sich selbst. Nathalie hatte das, was eine Amanda oder wie sie alle hießen, ihm nie geben konnte, auch kein David, Dennis usw. Dominik vielleicht. Es würde sich zeigen. Ob Mann oder Frau, das galt ihm dabei nichts, denn der Mann trug hier wie dort den Namen Martin und liebte beide.

Als ihm kalt wurde, weil er über eine Stunde unbekleidet auf dem Sofa gelegen hatte, raffte er sich auf, zog sich etwas an und überprüfte sein Postfach. Marco hatte sich gemeldet, ein langjähriger Freund, der vorschlug, heute Abend – wenn es Martin passte – auf einen Plausch vorbeizukommen. Martin hatte nichts dagegen einzuwenden. Mit Marco konnte man gut reden, mehr war zwischen ihnen ohnehin nie gewesen. Marco maß knapp zwei Meter, Martin mit seinen eins neunzig fand größere Männer allerdings nicht attraktiv. Jeder, der größer war als er, fiel somit automatisch raus, wenn sich die Zahl auch insgesamt in Grenzen hielt. Er blickte in Richtung Fenster. Bis Marco käme, wären es noch drei Stunden. Martin beschloss, auf den Schießstand zu fahren, zur ‚Klangtherapie‘, wie er es zu nennen pflegte. Morgen müsste er zu einem potentiellen Kunden ins Ruhrgebiet. Ein wenig Entspannung täte an diesem Sonntag also sicherlich gut, zumal David schon seit vier Stunden fort war. Schade eigentlich, denn wenn er nach wie vor bei ihm gewesen wäre, hätte er sich ganz bestimmt nicht für den Schießstand entschieden.

Der Nomade

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