Читать книгу Romica und Julio - Jan Riebe - Страница 7
Szene 3
ОглавлениеApfelkern stand auf den Zinnen der Burg und blickte in den Abgrund, wo das Moos auf den Felsen in der Sonne glänzte. Das Gras dort unten wiegte sich langsam im Wind, als wollte es flüstern: »Spring! Ich bin ganz weich.«
In Wahrheit war es der sichere Boden des Amphitheaters, doch Apfelkern spürte das Kribbeln der Tiefe im Nacken. Das Publikum sah gebannt zu ihr hinauf. Auch die Blicke spürte sie. Sie waren ein warmer Sommerregen auf der Haut.
Ein Windstoß, als wäre er inszeniert, fuhr über die Bühne und ließ Apfelkerns Kleid wie Flammen um ihren Körper tanzen. Jetzt musste er kommen und da war er.
»Wartet!« rief Julio, in der Rolle des Heraldius. In seiner Stimme zitterte Angst. »Haltet ein!«
Wie oft sie zusammen gesessen und diese Passage geübt hatten. Er hatte auf dem Stuhl gesessen und sie auf der Bettkante und sie hatte seinen Lippen zugesehen, wie sie sprachen.
Zum Publikum gewandt klagte sie: »Wie wird es mir? Kann wirklich er's in dieser üblen Stund, an diesem üblen Orte sein? Hörte die Welt mein stummes Fleh’n?«
An Julio: »Wollt ihr mein Herz in tausend Stücken sehn?«
Sie schluchzte und die Tränen waren echt. Schon als sie das Stück das erste Mal gelesen hatte, war sie von dieser Stelle so ergriffen gewesen, dass sie vor Spannung gezittert hatte.
»Vermag ich euer Herz wohl nicht zu heilen, ich bitt euch dennoch zu verweilen. Kommt her, die Hand, so reicht sie mir!«
Langsam drehte sich Apfelkern zu Julio um. Sein Blick war ernst. So gerne hätte sie die Hand, die er ihr entgegen streckte, ergriffen, doch sie durfte nicht, um der Spannung willen. Das Publikum gehörte ihnen, und jetzt konnten sie mit ihm spielen wie die Katze mit der Maus. Es liebte es, die Maus zu sein.
Durch den Schleier eines weiteren, diesmal gespielten, Schluchzens hindurch, rief sie: »Ihr seid es, doch seid ihr zu spät. Was wollt ihr hier?«
Julio kam einen Schritt näher, die Hand noch immer ihr entgegen gestreckt. Voller Angst waren seine Augen. »Die Schlacht hat meinen Tod verschmäht.«
»Nein! Keinen Schritt! Mir ist es ernst.«
»So ist es mir.«
»Geh fort, Soldat! Auf das du Tugend lernst.«
Julio ließ die Hand sinken. In gebührendem Abstand trat er an die Brüstung und spähte in die gespielte Tiefe.
»Dann sagt mir nur, bevor erneut ich euch verlass, wie haltet ihr es mit dem Tod? Ist er denn süßer als das Leben?«
»Oh, kenntet ihr nur meine Not, ihr würdet anders von mir reden.«
»Sprecht frei heraus, berichtet mir.«
Apfelkern sah Julio in die Augen, fest in die Augen. Es war wunderbar, ihn so ansehen zu können, mit eben der Sehnsucht im Ausdruck, die sie auch in Wahrheit für ihn verspürte.
»Dem Grosgorus bin ich ein wildes Tier, ein bunter Papagei, den man in einem Käfig hält. Die Stäbe fürcht ich mehr als alles andre dieser Welt.«
»Noch seid ihr nicht die Seine.«
»Und doch versprochen bin ich ihm.«
»Versprechen kann man brechen, wie ich meine.«
»Der seinen Macht kann niemals ich entfliehn.«
Nun kam der heikelste Teil. Auch das hatten sie geprobt. Wenn Julio nicht im richtigen Moment zugriff, würde Apfelkern auf den Boden des Amphitheaters stürzen. Es war nur ein halber Meter, doch die Steine waren hart und noch viel schlimmer: Jeder sähe es.
In der Ferne erklang ein Schmerzensschrei. Sie ließ sich fallen.
Nur von Vertrauen getragen, kippte sie ins Leere. Da war sein Arm. Er umgriff ihre Taille und hielt sie fest. Sie blickte hinauf in seine Augen und dann tat sie etwas, das nicht im Stück stand. Sie küsste Julio.
Er war überrascht, doch er wehrte sich nicht. Nein, er erwiderte den sanften Druck auf ihre Lippen und dann flüsterte er: »Ich liebe dich.«
Apfelkern schloss die Augen und lachte in sich hinein, ließ sich fortspülen vom Strom des Glücks.
»Du musst lauter reden«, erwiderte sie wispernd. »Das Publikum hört dich nicht.«
Er schüttelte sanft den Kopf und raunte ihr ins Ohr: »Sie sind nicht hier. Nur du und ich sind wichtig.«
Ein Johlen und Jammern durchbrach alles. Widerstrebend öffnete Apfelkern die Augen und verdeckte sie sogleich mit der Hand. Das gepeinigte Schreien wiederholte sich. Es kam aus der Stube. Apfelkern ächzte.
Gerade hatte sie begonnen ihre Fantasie wirklich zu glauben. Sie nahm das Buch, das noch immer aufgeschlagen auf ihrer Brust lag, und las die letzte Zeile auf der Seite: »Hörte die Welt mein stummes Flehen?«
Sie klappte es zu und legte es bei Seite. Von nebenan kam ein weiterer Schrei, als würde jemandem ein Bein abgesägt. Sie versuchte, ihre Gedanken zu sammeln.
Irgendwie musste es ihr gelingen, für die Rolle der Prismania ausgewählt zu werden. Elisabeth hatte ihnen ein Vorsprechen versprochen, bei dem am Schluss jeder die Rolle bekommen sollte, die zu ihm passte. Julio würde Heraldius sein, das war so sicher wie der Herbstnebel. Und sie musste Prismania spielen, koste es was es wolle, und wenn es bedeutete, dass sie von nun an nichts tat als ihren Text auswendig zu lernen.
Sie würde Julio küssen, auf der Bühne, vor allen Zuschauern. Das war der großartigste Liebesbeweis, den sie ihm bringen konnte. Davon könnten sie noch ihren Enkeln erzählen.
Sie nahm das Buch wieder zur Hand. Die nächste Szene war die Flucht. Es wurde kaum gesprochen und dennoch war es spannend. Immer wieder hörte man ein Klopfen, doch der Autor ließ den Leser im Unklaren, woher das gespenstische Poltern rührte, bis man schließlich erfuhr, dass sich Prismania im Stauraum der Kutsche versteckt hatte. Alle Figuren wussten davon. Das Klopfen sollte als Zeichen dienen, dass sie noch lebte. Nur der Leser wurde auf die Folter gespannt. Apfelkern war der Meinung, dies war ein billiger schriftstellerischer Trick. Und er war umso gemeiner, als dass er funktionierte. Jedes Mal, wenn sie das Klopfen in ihrem inneren Ohr hörte, wurde Apfelkern beinahe verrückt. Vielleicht überblätterte sie die Szene besser.
Wieder ein Schrei, dann ein Wimmern, ein Jaulen. Diesmal erklang es draußen im Flur. Apfelkern richtete sich im Bett auf. Die Zimmertüre öffnete sich.
»Apfelkern.« Es war ihre Mutter. Im Schlepptau ihr Vater. Mit verzerrtem Gesicht, drückte er sich die Hände auf die rechte Wange. »Ich fürchte, die Schmerzen deines Vaters sind schlimmer geworden.«
Ein Wimmern diente der These als Argument.
»War nicht zu überhören«, erwiderte Apfelkern. Eigentlich hatte sie Wichtigeres zu tun, als dem Wehklagen ihrer Eltern zuzuhören.
»Hab bitte ein wenig mehr Mitleid«, gab ihre Mutter die Spitzfindigkeit zurück. Offenbar war sie müde. Wenn sie müde war, konnte man sie leicht reizen.
»Kannst du bitte zur alten Weisen gehen und ein Mittel dagegen besorgen?«
Apfelkern stöhnte demonstrativ und ließ sich zurück aufs Bett fallen. »Ich lese, Mama.«
Doch ihre Mutter schien ihr gar nicht zuzuhören. »Ach, bitte mach das mal gerade. Ja?«
»Oh!« Schnaubend schlug Apfelkern das Buch zu. Warum bekam sie immer dann die lästigsten Aufgaben, wenn sie gerade etwas Wichtiges zu tun hatte.
»Warum geht du nicht selbst rüber?«
Die Mutter setzte eine leidende Miene auf. »Weil ich dich bitte.«
Totschlagargument. Apfelkern gab es auf. Betont schwerfällig erhob sie sich vom Bett.
»Ihr Name ist Elisabeth«, zischte sie.
Sie würde gehen, aber sie würde dabei sauer sein.