Читать книгу Romica und Julio - Jan Riebe - Страница 8
Szene 4
ОглавлениеDraußen lag das Tal grau unter einem Himmel, der in sich alle nur möglichen Blautöne vereinte. Im Nordwesten, wo die Sonne untergegangen war, schimmerte er beinahe weiß. Im Osten dagegen lauerte bereits die Schwärze der Nacht. Zwei einzelne Punkte eröffneten den Tanz der Sterne, der in einer anderen Zeitordnung ablief als das Leben hier unten im Tal.
Apfelkern schauderte, als die Türe mit einem »Klogmbp?« in ihren Rahmen fiel. Es war eine kalte Nacht, und der Wind wehte von Osten. Sie sah es am Rauch, der aus den Schornsteinen stieg.
Sie schob den Riegel vor und machte sich auf den Weg zur Schule. Elisabeths Haus stand nicht weit davon am Wasser des Flusses. Es musste früher einmal eine Mühle gewesen sein. Davon zeugte das große Wasserrad. Wenn es lief, so rumpelte es im ganzen Haus, als lebten Trolle in den Wänden. Lief es nicht, so überkamen Apfelkern von Zeit zu Zeit Bedenken, ob die Kraft des Wassers, das gegen die Schaufeln drückte, nicht eines Tages das ganze Haus mit sich reißen würde.
Sie huschte aus dem Garten und zwischen den Häusern, die wie schlafende Schafe zusammengekuschelt lagen, auf den Dorfplatz. Von hier und da waren noch dumpf Stimmen zu hören. Sie mischten sich unter den Wind, der Dinge fand, in denen er rauschen konnte, und das Glucksen des Flusses.
Apfelkern blickte hinauf zu den Bergen. Schwarz standen sie vor der letzten Ahnung der Sonne. Ob in den Spalten dort oben wohl Drachen lebten? Hoffentlich blickten sie nicht gerade jetzt hinab ins Tal angezogen durch die Geräusche von Apfelkerns Schritten.
Woraus Berge wohl bestanden?
Außen zeigten sie Wiesen und Felsen. Die höchsten zierte eine weiße Krone und Apfelkern hatte sich sagen lassen, dass diese aus Schnee bestand. Doch woraus waren sie in ihrem Inneren gemacht? Aus Erde, aus Fels, etwa aus Schnee? Noch nie hatte jemand tief genug gegraben, um das herauszufinden. Die Flüsse aber, sie kamen aus den Bergen geflossen und mit sich trugen sie Sand und Steine, die sie an Bänken im Talgrund anspülten. Vielleicht bestanden Berge daraus. Die Hüllen aus Felsen und Gras waren ausgefüllt mit Sand und Kies.
Aber wenn die Steine mit den Flüssen aus den Bergen herausgespült wurden, wie kamen sie wieder dorthin zurück? Oder wurden die Berge nach und nach ausgehöhlt, bis nur noch die Hülle übrig blieb? Schrumpften die Berge?
Apfelkern erreichte die Schule. In der Nacht sah die Hütte windschief aus, obwohl sie es am Tag nicht war. Daran vorbei führte ein Trampelpfad durch den Schulgarten und dann durch Elisabeths Garten, die zaunlos ineinander übergingen.
In Elisabeths Haus brannte noch Licht. Aus den Fenstern der Stube drang das Flackern einer Talglampe, als huschten leuchtende Geister über die Wände.
Die Türe begrüßte Apfelkern mit behaglichem Ächzen. Es gab drei Zimmer und einen Flur. Der Durchgang zur Stube war offen. Elisabeth saß in ihrem Sessel, neben sich die Lampe und eine Teekanne. Sie blickte von dem Buch auf, in dem sie gerade gelesen hatte, und stellte eine Tasse bei Seite. »Apfelkern.«
Elisabeth war nie überrascht sie zu sehen, zu welcher Zeit sie auch kam.
»Mein Vater hat Zahnschmerzen«, erklärte Apfelkern und hängte ihren gelben Mantel an den Haken. Sie war froh, die Kälte hinter sich ausgeschlossen zu haben.
»Zahnschmerzen. Nun gut.« Elisabeth nahm Lampe und Teekanne und erhob sich.
»Möchtest du einen Tee? Ich hatte vor, einen zu machen.«
Apfelkern gab ein zustimmendes »Mh« von sich und folgte der Lehrerin ins Arbeitszimmer. Hier gab es einen weitläufigen Tisch, einen Herd und zwei Regale. Eines davon war gefüllt mit Büchern, große, dicke, gepflegte, alte, dünne und ein paar kleine, mal gebunden in Stoff, mal ledern und eines mit einem Einband aus Holz. Apfelkern besaß selbst einige Bücher. Ihr Regal reichte bis an die Decke, doch die Decken in Elisabeths Haus waren um einiges höher als in Apfelkerns Zimmer. Das andere Regal war niedriger und übervoll mit Schachtel und Dosen, die nach Kräutern dufteten.
Apfelkern kannte den Inhalt jeder einzelnen Schachtel und auch jeden Winkel des Raumes. Sie wusste, dass die Bücher nach dem, von Elisabeth eingeschätzten, Nutzwert sortiert waren, wie lange ein Vorratsbehälter mit Wasser ausreichte, und wie man am besten unter dem Herd fegte, und das war wahrlich eine Kunst.
Hier bereitete Elisabeth ihre Tränke zu. Die Leute kamen mit Fragen zur alten Weisen, mit Wünschen und mit Nöten. Niemand tat es öffentlich. Man schickte die Kinder jede Woche zu ihr in die Schule – vor allem damit diese aufgeräumtwaren - aber darüber hinaus gab man vor, nichts mit ihr zu schaffen zu haben. Man kam heimlich, weil es um heimliche Sorgen ging. Krankheiten und Zipperlein, mit denen man nicht gerne angab. Schwellungen und Ausschläge an Stellen, über die man nicht beim Mittagessen sprach. Man kam, weil man ein offenes Ohr für Sorgen und Ratschläge in vertrackten Situationen fand, die so persönlich waren, dass man sie nur den Schafen klagen konnte oder eben Elisabeth. Niemand wusste, dass diese Nöte allen gehörten, außer ihr.
»Ach je«, klagte sie und verzog das Gesicht. Aus dem Regal mit den Schachteln nahm sie eilig einen Kessel und füllte ihn aus dem Wassersack an der Decke. »Ich bin gleich zurück.«
Hastig, als wäre er glühend heiß, stelle sie den Kessel auf den Herd.
»Mach bitte Feuer«, wies sie Apfelkern an und war sogleich nach draußen verschwunden.
Apfelkern fütterte den Herd mit Holz und schlug Funken, bis es von Flämmchen umtanzt wurde, wie eine Henne von frisch geschlüpften Küken. Als Elisabeth wiederkam, begann das Wasser im Kessel schon sachte zu dampfen.
»Ich kann es einfach nicht lassen«, klagte die Lehrerin und zog ein paar Dosen aus dem Kräuterregal. »Bei jeder Kanne sage ich mir, das ist die letzte für heute, aber wenn sie leer ist, dann brühe ich doch noch eine und danach wieder. Ich trinke weiter, bis ich einschlafe und das kann dauern. Das ist Tee aus Übersee, und da scheinen die Leute viel Koffein zu vertragen. Und in der Nacht treibt es mich hinaus vor die Türe. Aber es heißt, der Tee hält einen jung. Mein Großvater hat ihn schon getrunken, und er ist nie älter geworden als dreißig.«
Elisabeth lachte ihr eigenes Lachen. Dann öffnete sie die erste Schachtel.
»Zahnschmerzen, sagst du. Habt ihr versucht ihm Knoblauch ins Ohr zu stecken?«
Apfelkern schüttelte den Kopf, was Elisabeth ein unzufriedenes Grunzen entlockte.
»Ich glaube, er hat versucht auf Nelken zu kauen, aber es hat ihm so widerlich geschmeckt, dass er sie bald ausgespuckt hat. Er wird davonlaufen, wenn wir versuchen, ihm Knoblauch ins Ohr zu stecken.«
Elisabeth lachte. »Oh ja, der Schmerz soll fort, aber ohne Gestank. Helfen täte es aber. Jeden Morgen eine Knoblauchzehe zerdrückt, in ein Taschentuch gewickelt und so lange es geht im Ohr getragen. Er soll damit nicht unter Leute gehen, aber die Zahnschmerzen werden verschwinden. Aber wenn er das nicht will -«
Elisabeth öffnete eine der Schachteln, die sie aus dem Regal genommen hatte und nahm eine Knolle daraus hervor.
»Blutwurz. Ein bitteres Kraut wird er nehmen müssen. Blutwurz ist nicht nur für Blutarmut. Man sagt ihm auch nach, dass es die Augen schärfe, und es hilft auch gegen manche Zahnschmerzen.«
Sie nahm ein Messer zur Hand und zerschnitt die Knolle in kleine Würfel, die sie wiederum in den Mörser gab und weiter zu zerkleinern begann.
»Die Wurzel ist getrocknet. Man spült als Tee den Mund damit aus. Aber es ist besser, dein Vater schluckt nicht zu viel davon. Ich gebe dir etwas davon mit.«
Sie nahm eine Dose aus dem Regal und füllte sie mit dem groben Pulver, das sie aus der Blutwurz gemahlen hatte.
»Zweimal am Tag, mehr nicht. Es hilft nicht so gut wie Knoblauch. Ihr werdet auf die Wirkung etwas warten müssen. Dein Vater darf aber keinen Zweifel bekommen, dass es wirkt. Das ist wichtig.«
Apfelkern nahm die Dose entgegen, prüfte, ob der Deckel gut verschlossen war, und steckte sie dann in ihre Tasche. Einen Tee kochen. Sie hatte es sich schwieriger vorgestellt, Zahnschmerzen zu heilen.
»Es wundert mich ja doch ein wenig, dass du nicht oben bei dem Fest bist«, plauderte Elisabeth, während sie die Schachtel zurück ins Regal stellte und sich ihren eigenen Tee aufgoss.
»Fest?« Apfelkern hatte nicht davon gehört.
»Unser neuer Graf Roland feiert seinen Einzug in die Burg. Frage mich, wie er die Schafe hinaus bekommen hat. Ich habe gehört, es soll eine neue Art Fest sein, die er aus der Stadt mitgebracht hat. Alle Besucher müssen verkleidet sein und Masken tragen, damit man sie nicht erkennt. Seltsam, dass du nichts davon gehört hast. Das ganze Dorf ist beleidigt, nicht eingeladen zu sein. Nur Adelige und ihre Hofschar werden eingelassen.«
Doch, davon hatte Apfelkern gehört, aber nur, dass sich die Leute auf der Burg des neuen Grafen verkleideten. Die Leute im Dorf fanden das albern, jedoch mit einem neidischen Ausdruck in den Gesichtern. Von einem Fest wusste Apfelkern nichts.
»Aber«, bemerkte sie. »Wie solle ich denn auf dem Fest sein, wenn sie mich gar nicht rein lassen?«
Elisabeth nippte an ihrem Tee und verzog erschrocken das Gesicht.
»Das stimmt wohl. Ein unüberwindbares Hindernis.«
Sie nippte noch einmal, diesmal vorsichtiger.
»Es heißt, die Grafen versuchten sich mit Speis und Trank zu übertrumpfen. Köstlichste Leckerbissen. Knusprig gebratene Pfauenbrust mit Zitrone und Fenchel und Honig. Spanferkel. Stell dir vor, wie das Fett aus der knusprigen Haut zischend ins Feuer tropft. Und der Geruch. Eine Mischung aus den Harzen des Feuerholzes und dem Wein, mit dem das Schwein übergossen wird. Bestimmt gibt es Forelle, überdeckt mit einer Schicht angerösteter Mandelscheiben. Und versuch, an den Nachtisch zu denken. Die Köche aus der Stadt können wahrhaftige Feuerwerke an Süßspeisen kreieren, heißt es. Schokoladenmousse mit Johannisbeeren, Apfelzimtkuchen, Rote Grütze mit Sahne und Minzblättern.«
Das Bild einer Tafel, überladen mit Essen in allen Variationen, entstand vor Apfelkerns innerem Auge. Zu ihrer Überraschung bemerkte sie auch Käse und Trauben und tatsächlich: In der Mitte stand eine Platte mit einem gebratenen Ferkel auf Maronen, das einen Apfel im Maul trug.
Elisabeth lächelte triumphierend.
»Ich frage mich, ob Julio wohl etwas davon in die Schule mitbringen wird.«
Julio.
In der letzten Woche, seit sie gemeinsam auf dem Dach gesessen waren, hatte sie ihn nur flüchtig gesehen. Er war jeden Tag mit seinem Vater auf die Jagd geritten, und wenn sie einander begegneten, er im Sattel seines Lieblingspferdes Gerlinde, hatten sie kaum Zeit gehabt ein »Hallo« zu sagen.
»Ist an sich ein netter Junge, hat nur die falschen Eltern, denke ich.«
Apfelkern riss sich aus ihren Gedanken. »Wie meinst du das?«
»Oh.« Elisabeth winkte ab und trank einen weiteren Schluck Tee. »Es ist bestimmt lustig für junge Leute, so ein Maskenball?«
Apfelkern zuckte mit den Schultern. Ob es ihr wohl irgendwie gelingen konnte, sich in die Burg zu schleichen, um ihn zu sehen? Vielleicht war das Hintertor nicht bewacht?
»Aber schade«, zuckte auch Elisabeth mit den Schultern. »Nur Adelige und ihre unzähligen Hofdiener, die sie kaum alle beim Namen kennen, sind eingeladen. Es könnte so schön sein auf diesem Maskenball.«