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Lou

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Der Donnerstag gehörte in der Tauchschule zu den ruhigsten Tagen der Woche. An diesem Tag boten wir keine Tauchgänge an, und es gab nur am Nachmittag einen Anfängerkurs, den Dylan leitete.

Daher hatte ich mir den heutigen Vormittag freigenommen und war in die Stadt zum Einkaufen auf den Markt gefahren. Danach schaute ich noch auf einen Kaffee bei meiner besten Freundin im Büchercafé vorbei.

„Hey, Süße, was gibts Neues?“, fragte ich und drückte Marli kurz an mich.

„Nicht viel, alles wie immer. Keine große Aufregung, ganz wie ich es mag.“ Marli grinste mich an, als ich verständnislos den Kopf schüttelte. Eigentlich gab es auf den ersten Blick nichts, was uns verband, trotzdem waren wir seit dem Kindergarten die besten Freundinnen. Bereits damals war sie ein ganzes Stück größer als ich und das hatte sich bis heute nicht geändert. Okay, das war auch nicht schwer, die meisten Menschen waren größer als ich. Dennoch war ich es, die auf sie aufpasste, und das schon von klein auf.

Ich rutschte auf einen Barhocker am Tresen, während Marli mir unaufgefordert einen Kaffee aus der großen Glaskanne einschenkte, den Becher vor mich stellte und mir die Kaffeesahne hinschob. Dann griff sie nach ihrem eigenen Becher und schenkte auch sich selbst etwas ein.

„Dass dir das nicht zu langweilig ist. Du musst doch mal rauskommen.“ Ich schüttelte erneut leicht den Kopf und rührte die Sahne in mein Heißgetränk.

„Ach, Lou … Ich hab hier alles, was ich brauche.“

„Aber du hast doch nicht studiert, um dann hier zu versauern!“

Marli zuckte mit den Schultern. „Was soll ich denn machen? Ich kann mir keinen Job herzaubern. Und von hier weggehen? Nein, das geht gar nicht. Womöglich in New York in einem verstaubten Museum im Keller hocken und Fundstücke katalogisieren? Oder jeden Tag dieselbe Führung mit einer Horde Touristen abhalten, die nach zwei Minuten eh vergessen haben, was ich ihnen erzählt habe? Da würde ich eingehen!“ Sie legte mir die Hand auf den Arm, als wolle sie mir zeigen, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauchte. „Das Büchercafé ist vollkommen in Ordnung, ich bin rundum glücklich damit. Ich habe meine beiden größten Leidenschaften vereint – mal abgesehen von der Archäologie. Hier kann ich nach Herzenslust backen und ich habe immer mehr als genug Lesestoff. Was will ich mehr?“

„Natürlich liebst du den Job und den Laden, und ich freue mich auch, dass du zufrieden bist. Aber dennoch … Das kann doch nicht alles sein. Du bist Anfang zwanzig – willst du dein Leben lang hier drin versauern? Wir wohnen in Florida, hier scheint so ziemlich jeden Tag die Sonne und es ist warm – und du vergräbst dich hinter deinem Backofen oder einem Buch. Das könntest du auch in New York beim Katalogisieren von Fundstücken haben.“

„Hier im Laden zu arbeiten, ist nicht langweilig – im Gegenteil! Der Stapel neben meinem Bett wächst quasi täglich, und ich weiß gar nicht, wann ich die Bücher alle lesen soll. Ich versauere hier nicht, ich hab es mir so ausgesucht.“ Sie zuckte milde lächelnd mit den Schultern.

„Ich sehe es kommen, irgendwann bist du alt und grau und lebst allein mit fünfzehn Katzen in einer Einzimmerwohnung. Aber gut, wenn das alles ist, was du willst …“ Ich gab auf. Diese Diskussion hatten wir schon so oft geführt. Es war für mich nicht nachvollziehbar, wie Marli sich so zurückziehen konnte. Dass sie ihren Traum, bei Ausgrabungen dabei zu sein, auf alte Schätze zu stoßen und Relikte aus vergangener Zeit zu entdecken, einfach so aufgab. Wir waren jung, gerade erst mit dem College fertig. Wir sollten unsere Träume verwirklichen, ausgehen, Spaß haben, Männer kennenlernen und unser Leben genießen. Doch meine Freundin war schon immer ein kleiner Nerd gewesen. Ein stilles Mäuschen, das lieber allein in der Ecke saß, als mit anderen Kindern draußen herumzutoben. Im Kindergarten wurde sie deshalb aufgezogen und in der Schulzeit ging es genauso weiter. Der Anfang unserer Freundschaft basierte darauf, dass ich es nicht mit ansehen konnte, wie die anderen immer auf ihr rumhackten. Irgendwann platzte mir der Kragen, und ich ging wie eine Furie jeden an, der Marli ärgerte. Ich wurde zu ihrer Beschützerin und lernte schnell ihre stille und nachdenkliche Art zu schätzen. Nach dem Tod meiner Eltern war es Marli, die wie ein unerschütterlicher Felsen an meiner Seite stand. Die mich mit einer schier unendlichen Geduld festhielt, wenn ich weinte, wenn ich mit dem Schicksal haderte und wenn ich vor Wut meine Fäuste an der Wand meines Zimmers blutig schlug. Sie war nach dem Unfall jeden Tag bei mir – erst im Krankenhaus und dann zu Hause. In dieser Zeit lernte ich, was Freundschaft bedeutete und worauf es im Leben wirklich ankam. Ich habe nie vergessen, was Marli für mich getan hat – und umgekehrt war es genauso, das wusste ich. So unterschiedlich wir auch waren, wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel.

„Was hast du heute noch vor?“, fragte Marli und nahm einen Schluck ihres Kaffees.

„Ich werde den Nachmittag mit der Buchhaltung verbringen, die Quartalsabrechnungen machen.“

Meine Freundin verzog das Gesicht, als würde sie unter spontanen Zahnschmerzen leiden.

„Guck nicht so!“, sagte ich lachend. „So schlimm ist das nicht. Ein paar Zahlen in den Computer hacken, Ablage und der ganze Bürokram – das ist doch entspannend. Ich habe Zeit für mich, kann nebenbei Musik hören und mich mit einer Tasse Kaffee und ein paar Keksen im Büro vergraben.“

„Ehrlich, Lou, wie kann man so was entspannend finden? Ich finde es nur total nervig. Mich macht es schon aggressiv, wenn ich ins Hinterzimmer gehe und diese Papierstapel sehe, die dort auf mich warten.“ Marli schaute an mir vorbei und begrüßte lächelnd zwei Frauen, die gerade das Büchercafé betraten.

„Herzlich willkommen im Fairytale, kann ich Ihnen helfen?“

„Vielen Dank! Ach, ist das niedlich! Ihr Laden ist ja ein Traum“, sagte die eine der Frauen und die andere nickte eifrig. „Sag ich doch. Hier könnte ich stundenlang stöbern oder an einem dieser kleinen Tische sitzen und Kaffee trinken. Du musst unbedingt den Kuchen probieren, Grace.“ Die Kundin wandte sich nun an Marli. „Backen Sie immer noch selbst, Miss Jones? Ich war zuletzt vor zwei Jahren hier, viel zu lange her.“

„Natürlich backen wir hier noch immer selbst. Das könnten wir doch niemals abgeben“, antwortete Marli freundlich lächelnd.

„Das ist gut! Richtig so, denn das ist ja das, was diesen Buchladen so besonders macht. Und natürlich Ihr Händchen für die Dekoration. Ich liebe es hier. Sagen Sie, können Sie mir vielleicht einen guten Fantasyroman empfehlen? Ich habe absichtlich meine Urlaubslektüre zu Hause vergessen, damit ich gleich einen Grund habe, hierherzukommen – ohne dass mein Mann deswegen herumnörgelt.“ Die Kundin zwinkerte Marli verschwörerisch zu.

„Natürlich kann ich Ihnen etwas empfehlen.“ Marli kam hinter dem Tresen hervor.

„Okay, ich verschwinde dann mal und mache mich an die Buchhaltung. Wenn du magst, helfe ich dir am Wochenende bei deiner.“

Marli warf mir einen dankbaren Blick zu. „Du bist die Beste, Lou. Pack dir noch ein Stück Kuchen ein und bring auch Dylan was mit. Ich weiß ja, er liebt Key Lime Pie.“

Ich gab meiner Freundin zum Dank noch einen Luftkuss, dann packte ich mir zwei Stücke des duftenden Kuchens ein und machte mich auf den Rückweg zur Tauchschule.

„Ah, gut, du bist da. Ich dachte schon, du schaffst es nicht rechtzeitig, bevor ich losmuss.“

„Ich war noch kurz bei Marli. Sie lässt dich grüßen und sie hat mir Key Lime Pie mitgegeben.“ Ich sah, wie die Augen meines Bruders für einen Moment aufleuchteten.

„Oh … Hm … Danke. Wie … Ähm, wie geht’s Marli denn? Ich hab sie lange nicht gesehen.“ Angestrengt schaute mein Bruder auf den Haufen Flossen vor sich, den er vorgab, zu sortieren. Ich hatte keine Ahnung, was mein Bruder gegen Marli hatte, aber seit einigen Monaten verhielt er sich merkwürdig. Wenn sie bei uns zu Hause auftauchte, verschwand er. Er ging ihr sichtlich aus dem Weg, doch als ich ihn darauf ansprach, meinte er nur, ich würde es mir einbilden.

„Es geht ihr gut. Am Wochenende helfe ich ihr mit der Buchhaltung. Davor graust es ihr ja immer.“

„Es ist halt nicht jeder so ein Zahlengenie wie du. Dafür kann Marli andere Dinge, die du nicht kannst – wie zum Beispiel backen.“

Huch? Was war das denn? Auf einmal verteidigte mein Bruder meine beste Freundin. „Schon gut, das sollte doch nicht gegen sie sein“, beschwichtigte ich ihn verwundert.

Dylan zuckte nur mit den Schultern und griff nach dem Haufen Flossen.

„Ich muss jetzt. Der Anfängerkurs geht gleich los. Wir sehen uns heute Abend.“

„Heißt das, ich darf dein Stück Pie auch essen?“, versuchte ich, ihn zu ärgern. Ich wollte nicht, dass wir in dieser schlechten Stimmung auseinandergingen.

Meine Frage zeigte die erhoffte Wirkung. Dylan lachte und schüttelte den Kopf. „Wehe dir! Finger weg von meinem Kuchen, ansonsten bist du die nächsten drei Wochen für die Anfänger zuständig.“

„Jesses, bitte nicht! Ich bin auch ganz artig!“ Abwehrend hob ich die Hände. Noch immer lachend verschwand mein Bruder zur Tür hinaus, und kurz darauf hörte ich, wie er seinen Jeep startete und davonfuhr.

Sosehr ich es auch liebte, unter Wasser zu sein, diese Anfänger-Tauchkurse forderten meine Nerven zu sehr. Mir fehlte schlicht und ergreifend die Geduld. Es war mir unbegreiflich, wie schwer es manchen Teilnehmern fiel, durch das Mundstück der Sauerstoffflasche zu atmen. Oder wie einem erwachsenen Menschen der komplette Orientierungssinn unter Wasser flöten gehen konnte. Allein wenn ich die Teilnehmer schon sah, musste ich mir ein deutliches Augenrollen verkneifen. Diese Großstadt-Bürohengste in mittleren Jahren, die der Meinung waren, noch einmal richtig was erleben zu müssen. Die das Abenteuer suchten, um sich nicht in der Midlife-Crisis zu verlieren. Da standen sie nun am Ufer in ihren teuren Badeshorts von irgendeinem angesagten Label und blendeten mich regelrecht mit ihrer fahlen weißen Haut, die in der strahlenden Sonne das Licht reflektierte. Diese Körper hatten seit Monaten kein Sonnenlicht gesehen, da sie fast rund um die Uhr unter teuren Anzügen verborgen in klimatisierten Büros ausharrten. Kaum hatten sie Freigang, verbrachten sie den Sommerurlaub auf den Keys, um danach monatelang im Büro davon zu zehren. Nein, keine Chance, damit durfte mein Bruder sich herumschlagen.

Ich drehte das Radio an, dann verzog ich mich mit einem großen Becher Kaffee und meinem Stück Key Lime Pie ins Hinterzimmer, um mich in aller Ruhe der Buchhaltung zu widmen.

Zwei Stunden später schaute ich erstaunt auf, als ich die Türglocke über der Tür zum Office-Bereich läuten hörte. Ein Blick auf die Uhr ließ mich vermuten, dass es Dylan war, der den Tauchkurs beendet hatte und nun zurückkehrte. Ich streckte die Arme weit über den Kopf und bog den Rücken durch, um ihn nach dem langen Sitzen ein bisschen zu entspannen.

„Hallo? Jemand da?“, hörte ich eine mir unbekannte Stimme aus dem Empfangsbereich. Anscheinend hatte ich mich getäuscht, es war nicht Dylan. Schnell stand ich auf und ging nach vorn, um den potenziellen Kunden zu begrüßen.

„Hi, und herzlich willkommen. Was kann ich für Sie tun?“, fragte ich den Mann freundlich. Während ich ihn unauffällig musterte, öffnete sich eine Schublade in meinem Kopf, in die ich den Kerl sofort hineinschob. Schwarze Haare, blaue Augen, markantes Gesicht mit einem Hauch indianischem Einschlag, leicht arroganter Blick, die vollen Lippen ein wenig spöttisch verzogen, als würde er nichts auf der Welt ernst nehmen. Die Kleidung zwar leger, dennoch schrie sie förmlich „arschteuer“. Ein reiches Bürschchen auf der Suche nach Abenteuer. Jünger als die meisten, die hier aufkreuzten, nur ein paar Jahre älter als ich.

„Oh, gut, der Rottweiler scheint Ausgang zu haben. Hi, ich bin Tyler!“ Noch bevor ich fragen konnte, was er mit dem Spruch über den Rottweiler meinte, setzte dieser Tyler ein breites Lächeln auf und ließ seinen Blick über meinen Körper gleiten.

„Hi, Tyler. Was kann ich für dich tun?“, fragte ich erneut. Endlich kehrte sein Blick zu meinem Gesicht zurück.

„Ich bin auf der Suche nach Lou. Ist er da?“

„Er? Sehe ich etwa aus wie ein Kerl?“, fragte ich belustigt und genoss die Verwirrung, die in Tylers Augen auftauchte. „Ich bin Lou“, klärte ich ihn nach ein paar Sekunden Stille auf.

„Nein, das kann nicht sein. Lou ist ein Mann, da bin ich mir ganz sicher.“

„Nun, dann bist du hier falsch. Hier gibt es nur eine Lou und das bin ich.“

Tyler schüttelte den Kopf. „Du bist ein Püppchen. Der Lou, den ich meine, soll einer der besten Taucher auf den Keys sein. Also noch mal, wo finde ich ihn?“

Wollte dieses reiche Söhnchen mich verarschen? Und hatte er mich gerade Püppchen genannt? Bevor ich Luft holen konnte, um ihm eine passende Erwiderung zu geben, sah ich aus dem Augenwinkel, wie Dylan sich neben mir aufbaute.

„Es ist mir scheißegal, was du gehört hast. Lou ist definitiv die beste Taucherin der Keys und absolut nicht deine Kragenweite. Also das Beste ist, du verschwindest wieder – und diesmal endgültig.“ Drohend verhakte sich sein Blick in dem von Tyler. Die beiden starrten sich an und ignorierten mich.

Ich war mir nicht sicher, ob ich meinen Bruder richtig verstand – kannte er Tyler bereits? Es hörte sich so an. Doch dass er sich hier als mein Bodyguard aufspielte, kotzte mich richtig an. Ich war alt genug, um ohne ihn mit Tyler fertig zu werden.

„Ihr kennt euch? Alles klar, ich verstehe. Du bist der Rottweiler … Wenn ihr also mit eurem Schwanzvergleich fertig seid, könntet ihr mich bitte mal aufklären. Warum hast du mir nicht gesagt, dass jemand nach mir gefragt hat?“, fragte ich meinen Bruder. Dann wandte ich mich an Tyler. „Und du? Was willst du eigentlich von mir?“

Die beiden Männer reagierten nicht. Stumm starrten sie sich in die Augen und lieferten sich ein Blickduell wie zwei Boxer im Ring. Ich wartete förmlich darauf, dass sie sich aufeinander stürzten, und holte gedanklich schon einen Eimer Wasser, um die beiden mit einer kalten Dusche wieder voneinander zu trennen.

Precious Love

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