Читать книгу Gauner sind unser Geschäft - Jana Scheerer - Страница 8
Kapitel 3 In dem wir einen gestressten Butler treffen, den Tatort von außen inspizieren und unserer ersten Verdächtigen begegnen.
ОглавлениеAm nächsten Morgen waren wir schon um halb acht Uhr alle zusammen im Schaftransporter unterwegs. Frau Jansen saß am Steuer, Wiebke auf dem Beifahrersitz, und ich hatte mich zwischen zwei Omas auf die Rückbank gequetscht: Links von mir saß Oma Jansen, rechts Oma Donnerschlag. Die beiden waren so fröhlich und aufgeregt wie Hühner kurz vor dem Eierlegen. »Harald ist der erste Aal-Prinz in unserer Familie, nä?«, verkündete meine Großmutter gerade zum hundertsten Mal. »Ich bin so was von stolz! Nee, nee, nee, nee, nee, dass ich das noch erleben darf! Schade nur, dass Magnus verreist ist.«
»Ja, wirklich sehr schade.« Ehrlich gesagt war ich heilfroh, dass mein großer Bruder gerade in Dänemark Urlaub machte. Er hätte mich vermutlich die nächsten hundert Jahre mit meinem Auftritt als Aal-Prinz aufgezogen.
»Wiebke ist auch die erste Aal-Prinzessin in unserer Familie.« Oma Jansen lächelte glücklich.
Wiebke warf mir im Rückspiegel einen genervten Blick zu. Ich konnte sie verstehen. Am liebsten hätte ich die ganze Aal-Sache schon hinter mir gehabt.
Aus der Schafsbox hörte man Schnucki MäcGaffin blöken.
»Ist es wirklich in Ordnung, dass wir bei Trix in der Einfahrt den Transporter umbauen?«, fragte Frau Jansen. »Haben ihre Eltern es auch bestimmt erlaubt?«
»Ihre Eltern sind auf Geschäftsreise, aber Trix hat sie angerufen und gefragt«, antwortete Wiebke. »Sie erlauben es.«
»Dobbsens haben jede Menge Platz«, beruhigte ich Frau Jansen. »Trix wohnt in einer riesigen Villa.«
Frau Jansen seufzte. »Das ist es ja gerade. Wenn wir da was kaputt machen oder Schnucki in den Vorgarten köttelt oder so …«
»Trix sieht das nicht so eng«, beruhigte ich sie. »Schnucki MäcGaffin war ja schon einmal in der Villa zu Gast.«
Dass der Butler Ortlieb damals gar nicht von dem Schafsbesuch begeistert gewesen war, verschwieg ich lieber. Ich sah bereits vor mir, wie er beim Anblick von Schnucki MäcGaffin mit herablassender Miene »Öhö« sagen würde.
Doch als Frau Jansen eine halbe Stunde später den Schaftransporter in der Einfahrt der Villa parkte, beachtete Ortlieb uns gar nicht. Er stand in der offenen Haustür und sprach mit einer Frau.
Ich stieg aus. »Ich sage Trix Bescheid, dass wir da sind. Kommst du mit, Wiebke?«
Zu zweit gingen wir durch den großen, gepflegten Garten. Der Rasen war so weich, als würde man über einen dicken Teppich laufen.
»Mit wem redet Ortlieb denn da?«, fragte Wiebke.
»Keine Ahnung.« Die Frau hatte rote Haare, trug eine enge schwarze Hose, hohe, blank polierte schwarze Stiefel, eine rote Jacke und hatte eine Reitgerte dabei. »Aber eins ist klar: Sie ist gerade auf dem Weg zur Reitstunde. Denn wenn sie vom Reiten käme, wären ihre Stiefel nicht mehr sauber.«
Wiebke stöhnte. »Du musst immer kombinieren, oder? Und wenn sie ihre Stiefel nach dem Reiten geputzt hat?«
Bevor wir das ausdiskutieren konnten, erreichten wir die Haustür. Gerade sagte die Frau zu Ortlieb: »Der Paketbote hat leider keine Abholkarte bei mir eingeworfen. Aber ich habe eine Benachrichtigung per E-Mail erhalten, die ich Ihnen zeigen kann. Hier.« Sie hielt Ortlieb ein Mobiltelefon hin.
»Hallo, Ortlieb!«, rief ich dazwischen, doch er studierte konzentriert das Display des Handys und beachtete mich nicht.
»Für Frauke Mellöw? Gut, ich sehö eben nach. Warten Sie bittö einen Momönt.« Ortlieb verschwand ins Haus.
Die Dame schaute sich wartend um. Dabei fiel ihr Blick auf Wiebke und mich. »Na, wollt ihr auch ein Paket abholen? Ortlieb ist immer so hilfsbereit.«
Statt zu antworten, stellte ich eine Gegenfrage: »Sind Sie auf dem Weg zur Reitstunde?«
Die Frau sah mich irritiert an. »Reitstunde? Ach so, ja, genau.«
Ich warf Wiebke einen triumphierenden Blick zu.
»Da seid ihr ja, hallo!« In der Eingangshalle tauchte Trix auf. Direkt hinter ihr kam Ortlieb mit einem Paket aus der Tür.
»Bitte schön.« Er überreichte es der rothaarigen Frau.
»Herzlichen Dank.« Die Frau wandte sich zum Gehen.
»Einön Momönt noch.« Ortlieb hielt ihr ein schwarzes Notizbuch hin. »Bittö quittierön Sie mir hier den Empfang. Das ist notwendög, weil Sie keine Abholkartö dabeihabön.«
»Meinetwegen. Sie nehmen es aber genau.« Die Frau legte kurz das Paket ab und unterschrieb. Dann dampfte sie ab.
Trix schüttelte den Kopf. »Sie sind viel zu nett, Ortlieb. Wir sind doch nicht die Paketannahmestelle für die gesamte Nachbarschaft.«
Ortlieb zuckte mit den Schultern. »Die Paketböten bittön immör so höflich darum, da kann ich döch nicht Nein sagön.« Er schaute Wiebke und mich an. »Herzlich willkommön. Wie ich sehö, ist das Schaf auch wiedör mit vön der Partie?« Er zeigte auf den Schaftransporter, aus dessen Box gerade Schnucki MäcGaffin stieg. Dann seufzte er noch einmal tief und ging ins Haus.
»Ortlieb ist zurzeit sehr im Stress«, erklärte Trix. »Die Hitze bekommt ihm nicht, und die ganzen Pakete, die ständig bei uns abgegeben werden, machen ihm viel zu viel Arbeit. Es waren sogar schon Leute da, die ein Paket abholen wollten, das er längst rausgegeben hatte.«
»Echt?« Ich konnte das kaum glauben, so ordentlich, wie der Butler normalerweise war. »Aber er lässt die Leute doch extra in diesem Notizbuch unterschreiben.«
Trix nickte. »Ja, aber er hatte wohl die Pakete vertauscht oder so. Ach, egal. Schön, dass ihr da seid!«
Trix umarmte Wiebke und schüttelte mir die Hand. Dann liefen wir zusammen über den Rasen in Richtung Transporter.
»Na, seid ihr schon sehr nervös wegen eures großen Auftritts?«, fragte Trix. »Keine Sorge, das wird schon gut gehen. Sich wegen so eines kleinen Hafenumzugs verrückt zu machen, wäre doch echt aal-bern. Äh, albern, meine ich natürlich.« Trix grinste.
Wiebke seufzte. »Tu uns einen Gefallen, Trix: Mach am besten jetzt gleich alle Aal-Witze, die du dir ausgedacht hast. Dann haben wir es hinter uns.«
»Ach nee, das wäre doch zu schade. Gleich aale auf einmal? Äh, alle, meine ich natürlich.«
Wiebke und ich bemühten uns, zu lachen.
»Mäh!«, blökte Schnucki MäcGaffin dazwischen. Wir waren am Schaftransporter angekommen. Trix begrüßte das Schaf und die anderen.
»Danke, dass wir in eurem Garten unser Hauptquartier aufschlagen dürfen«, sagte Frau Jansen.
Trix winkte ab. »Das ist doch selbstverständlich. Wenn Harald und Wiebke die Ehre haben, als Aal-Prinzenpaar auf dem Ruckelnser Wagen zu fahren, muss ich das doch unterstützen.«
»Nee, nee, nee, nee, nee«, kommentierte meine Großmutter. »Ich freue mich schon auf den Umzug. Mein Enkel auf dem Ruckelnser Wagen. Ich bin so was von stolz!«
»Kann ich mir denken«, stellte Trix fest. »Das geht runter wie Aal, nä? Äh, Öl, meine ich natürlich.«
Wiebke stöhnte.
»Ja, das erlebt man nur einmal«, stimmte Oma Jansen zu.
»Hoffentlich«, murmelte ich.
Frau Jansen klatschte in die Hände. »Genug geplaudert. Wir müssen jetzt dringend den Schaftransporter umbauen. Ich habe die Schafsbox schon länger nicht mehr abmontiert, hoffentlich bekommen wir sie herunter.«
Zu viert machten wir uns an die Arbeit. Schnucki MäcGaffin und die beiden Omas schauten uns zu und gaben gute Ratschläge – na ja, die Omas jedenfalls. Schnucki beachtete uns gar nicht mehr. Es betrachtete den saftig grünen Rasen vor der Villa so versonnen wie ein Urlauber das Hotelbüfett.
Glücklicherweise bekamen wir die Schafsbox ohne größere Probleme vom Wagen.
Frau Jansen wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das ging schneller als gedacht.« Sie sah auf die Uhr. »Erst neun. Jetzt haben wir noch jede Menge Zeit. Der Umzug startet um zwölf.«
Das war unser Stichwort.
Wiebke räusperte sich. »Ähm … du, Mama … Trix, Harald und ich wollten schon immer mal ins Humbuger Opernmuseum. Das wäre doch jetzt die perfekte Gelegenheit, oder?«
»Ins Opernmuseum?« Frau Jansen musterte uns skeptisch. »Seit wann interessiert ihr euch für Opern?«
»Nee, nee, nee, nee, die interessieren sich gar nicht für Opern, nä?«, warf meine Großmutter ein. »Ich weiß wohl, warum ihr da hinwollt, Harald. Wegen dieser abgehackten Hand, nä?«
»Abgehackte Hand?« Frau Jansens Augen weiteten sich.
»Nee, nee, nee, nee, nee«, kommentierte Oma Jansen.
»Juwelenhand«, korrigierte ich schnell. »Die Hand wurde nicht abgehackt. Also … jedenfalls nicht vor Kurzem. Es handelt sich um die Knochen der rechten Hand des berühmten Komponisten Melchior von Brokelfurth. Sie wurden nach seinem Tod in eine aus Gold gegossene Hand gelegt und mit Juwelen besetzt. Die Juwelenhand war das berühmteste Ausstellungsstück des Humbuger Opernmuseums.«
»Bis sie vorgestern gestohlen wurde«, ergänzte meine Großmutter. »Und jetzt will die Detektei Donnerschlag in dem Fall ermitteln, nä? Na ja, ich habe jedenfalls nichts dagegen.«
Ich sah sie erstaunt an. »Nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Solange ihr rechtzeitig wieder hier seid, um euch für den Hafenumzug fertig zu machen, könnt ihr meinetwegen gerne den Tatort angucken. Und wir gehen gemütlich frühstücken, nä?« Sie hakte sich bei Frau Jansen und Wiebkes Oma unter. »Schnucki frühstückt ja wohl auch gerade, wenn ich das richtig sehe.«
Das Schaf zupfte mit Genießermiene Grashalme ab.
»In Ordnung«, seufzte Frau Jansen. »Schnucki ist hier im Garten hoffentlich gut aufgehoben. Aber spätestens um Viertel nach elf seid ihr wieder hier!«
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen.
Schneller, als Schnucki MäcGaffin blök machen konnte, waren wir verschwunden.
Zum Opernmuseum fuhren wir mit der Straßenbahn. Meine Detektiv-Regel Nummer 32 lautet zwar: Lege die Strecke zum Tatort wenn möglich zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück, um Orientierung zu gewinnen und ein Gefühl für die Umgebung zu bekommen – aber heute war die Zeit knapp. Jede Sekunde, die wir auf dem Weg verplemperten, würde uns im Museum bei der Besichtigung des Tatortes fehlen. Außerdem machte die angenehme Kühle des Morgens bereits einer drückenden Hitze Platz. Da verzichtete ich gerne auf einen Fußmarsch.
Auf der Fahrt berichtete Wiebke uns von ihren Recherchen zum Thema Juwelenhand. Trix und ich hörten konzentriert zu.
»Bei der Juwelenhand handelt sich um ein sogenanntes Reliquiar«, erklärte Wiebke. »Das ist ein prunkvoll gestalteter Behälter, in dem Reliquien aufbewahrt werden. Das sind die Überreste einer sehr verehrten Person, zum Beispiel ihre Knochen. Der Komponist hat in seinem Testament festgelegt, dass seine rechte Hand nach seinem Tod konserviert werden soll – und in die Goldhand gesteckt. Damit etwas von seinem musikalischen Genie übrig bleibt.«
»Sehr bescheiden«, kommentierte Trix.
»In der goldenen Hand sind also wirklich die original Knochen von diesem Komponisten?« Mir wurde leicht schlecht. »So was würde ich nicht klauen.«
Trix lachte. »Du bist eben kein Musiker, Harald. In der Musikwelt wird die Hand zutiefst verehrt. Ich habe gelesen, dass einige Musiker ihr sogar magische Kräfte zutrauen. Sie glauben, dass die Aura der Juwelenhand sie musikalischer macht. Deshalb pilgern sie immer wieder ins Opernmuseum, um die Aura der Hand zu spüren. Das Museum hat durch den Diebstahl seine größte Attraktion verloren.«
Ich lächelte. »Jetzt kümmert sich ja die Detektei Donnerschlag darum. Die Juwelenhand wird bald wieder da sein.«
»Nächster Halt: Opernmuseum«, tönte eine Durchsage dazwischen.
Wir stiegen aus.
»Woow!«, rief Wiebke.
Ich persönlich neige nicht zu Ausrufen der Überraschung, doch dieses Gebäude entlockte mir ebenfalls ein leises Oho. Das Museum befand sich in einem riesigen Haus – obwohl Haus eigentlich nicht das richtige Wort ist. Es war eher eine Ansammlung von Türmchen mit spitzen, golden glänzenden Dächern, schiefen Fensterrahmen, bunt gestrichenen Türen und Treppen, die ins Nichts zu führen schienen. Das Eingangsportal des Hauses wurde von Säulen getragen und erinnerte an einen antiken Tempel. Das erste Stockwerk hingegen sah aus, als würde es zu einem Hexenhäuschen gehören: kleine Fenster, dunkles Holz, verziert mit Lebkuchen und Brezeln.
Wiebke und ich standen staunend davor.
Trix lachte wissend. »Ja, diese Wirkung hat das Haus auf alle, die es zum ersten Mal sehen. Es wurde vor zweihundert Jahren von einem verrückten Opern-Fan erbaut. Er wollte, dass es an die Bühnenbilder möglichst vieler Opern erinnert. Drinnen ist es auch total verrückt. Angeblich kennt niemand alle Gänge, Türen und Treppenhäuser. Selbst die Museumswärter sollen sich dort immer wieder verlaufen.«
Ich löste mich aus meiner Starre und zeigte auf das rot-weiße Flatterband, mit dem das Gebäude abgesperrt war. »Das da gehört aber nicht zum Haus, oder?«
Trix seufzte. »Nee. Mist, offenbar hat die Polizei den Tatort zugemacht.«
»Wollen wir trotzdem mal zum Eingang gehen?«, schlug Wiebke vor. »Vielleicht kommen wir ja doch rein oder können zumindest etwas aufschnappen.«
Wir gesellten uns zu den Leuten, die bereits vor dem Eingangsportal standen. Ich wandte mich an einen jungen Mann in einem grell gemusterten T-Shirt, der das Gebäude sehnsuchtsvoll betrachtete.
»Ist das Museum geschlossen?«
Ihm standen Tränen in den Augen. »Ja, wisst ihr es denn noch nicht? Die Hand des Melchior von Brokelfurth wurde gestohlen!« Er holte ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. »Das ist ein furchtbarer Verlust.«
Erst jetzt fiel mir auf, dass sein T-Shirt-Muster eine Partitur darstellte: fünf Linien mit Noten darauf. Darüber stand: Musikschule Trallala, Humbug. An irgendetwas erinnerte mich das. Aber an was? Ich hatte noch nie von der Musikschule Trallala in Humbug gehört.
Der Mann steckte sein Taschentuch wieder ein.
»Die Hand war sehr wertvoll, oder?«, beteiligte Trix sich am Gespräch.
»Wertvoll? Du meinst Geld?« Der Mann sah sie verächtlich an. »Ja, das kann sein. Aber der wahre Verlust ist die inspirierende Wirkung der Hand. Ich unterrichte Klavier und bin jeden Tag hierhergekommen, um die musikalische Aura der Hand zu spüren.«
Die Umstehenden nickten. Sie alle schienen große Brokelfurth-Fans zu sein. Ich persönlich hatte bis gestern noch nie von ihm gehört.
»Brokelfurth war der begnadetste Komponist aller Zeiten. Mein T-Shirt zeigt übrigens seine Etüde in F-Dur.« Stolz wies der Mann auf die Linien und Noten auf seinem T-Shirt. Und plötzlich wurde mir klar, wo ich diesen Typen schon einmal gesehen hatte: in dem Überwachungsvideo, das den Diebstahl der Juwelenhand zeigte! Ich hatte das wilde Muster seines T-Shirts für Striche und Punkte gehalten.
Wiebke schien in diesem Moment die gleiche Erkenntnis zu haben. »Das ist doch …«, flüsterte sie.
»Waren Sie Zeuge des Diebstahls?«, fragte ich den Mann.
Trix trat mir auf den Fuß. Und sie hatte recht. Ein guter Detektiv geht normalerweise etwas unauffälliger vor.
Doch wir hatten Glück: Der Mann schien stolz auf sein Erlebnis zu sein. »Ja, in der Tat, ich war dabei«, verkündete er.
Die Umstehenden rückten näher. Alle wollten hören, was er zu berichten hatte.
»Haben Sie den Dieb gesehen?«, fragten die Leute ihn, »Hatten Sie große Angst?« und »Warum haben Sie den Diebstahl denn nicht verhindert?«.
»Verhindert?« Der Mann schnaubte. »Das war leider unmöglich. Alles ging rasend schnell. Ich genoss gerade die Aura der wunderbaren Juwelenhand – da ging plötzlich das Licht aus. Man sah die Hand vor Augen nicht. Also – weder die eigene noch die von Brokelfurth.« Er lachte kurz auf, dann wurde er wieder ernst. »Ich hörte ein Klirren. Ein ohrenbetäubender Alarm ertönte. Auf einmal ging das Licht wieder an. Und da kam auch schon ein Wachmann des Museums. Er befahl allen Besuchern, den ersten Stock des Museums zu verlassen. Wir mussten uns im Foyer versammeln und auf die Polizei warten. Es hat bestimmt zehn Minuten gedauert, bis die Beamten da waren. Tja – und gefunden haben sie die Juwelenhand bei niemandem. Also, wenn Sie mich fragen …«
Der Mann verstummte, denn sein Publikum hatte sich plötzlich von ihm abgewandt und zur rechten Außentreppe des Museums gedreht. Dort stand eine füllige ältere Dame in einem grünen Seidenkleid. Sie hatte sehr blasse Haut, rot geschminkte Wangen und weiße Locken, die sie zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt trug. Sehr langsam stieg sie ein paar Stufen hinunter und blieb dann stehen wie auf einer Bühne.
»Die wirkt wie frisch aus einer Oper gesprungen«, flüsterte Wiebke.
Das traf es genau. Die Frau sah sich mit einer dramatischen Geste um und rief: »Es tut mir entsetzlichst leid, liebste Opernfreundinnen und Opernfreunde.« Sie rollte das R, als wäre es eine runde Praline, die sie sich langsam auf der Zunge zergehen ließ. »Das Museum muss wegen den furchtbarsten Vorfällen vorerst vollständigst geschlossen bleiben.«
Die Leute vor dem Museum seufzten enttäuscht. Daraufhin verbeugte sich die Dame wie nach einer erfolgreichen Vorstellung.
»Lassen Sie uns doch bitte durch!« Zwei Leute drängten sich durch die Menschen und gingen zur Außentreppe: ein Mann mit einem Mikrofon und eine junge Frau, die eine riesige Kamera auf der Schulter schleppte. Die Frau platzierte sich vor der Dame auf der untersten Stufe und richtete die Kamera auf sie. Der Mann stellte sich neben die Dame und hielt ihr sein Mikro unter die Nase. Darauf stand Humbug 1. Ich kombinierte: Die waren vom Fernsehsender Humbug 1.
Der Reporter blickte mit ernster Miene in die Kamera. »Ich stehe nun vor dem Opernmuseum, aus dem am Mittwochnachmittag auf mysteriöse Weise die berühmte Juwelenhand entwendet wurde. Bei mir ist Margarethe Marquardt, eine berühmte Operndiva und Direktorin des Museums. Wie fühlt man sich nach solch einem Verlust, Frau Marquardt?«
Margarethe Marquardt schnappte sich das Mikrofon. Erst hielt der Reporter es fest, dann gab er den Kampf auf und überließ es ihr. Sie seufzte theatralisch.
»Für uns ist eine ganze Welt untergegangen. Wir sind ein privates Museum, das sich komplettest über Spenden und Eintrittsgelder finanziert.« Ihre melodiöse Stimme hatte einen verzweifelten Klang. »Die Hand des Melchior von Brokelfurth war unser wichtigstes Ausstellungsstück. Ohne dieses Exponat wird das Museum sicherlichst deutlichst weniger Besucher anziehen als bisher. Ich appelliere an die Diebe: Bitte geben Sie uns die Juwelenhand doch zurück. Sie ist ohnehin höchst unverkäuflichst – jeder wird sie sofort als Diebesgut erkennen. Ich bitte Sie, haben Sie doch ein bisschen Mitleid mit einem winzigsten privaten Museum.«
»Kriminelle haben selten Mitleid«, stellte der Humbug 1-Reporter trocken fest. »War die Juwelenhand denn nicht versichert?«
Frau Marquart schniefte. »Natürlich war sie versichert, höchstversichert sogar, aber Geld ist kein Ersatz. Melchior von Brokelfurth hat Opern geschrieben, die bis heute die Herzen der Menschen erfreuen. Und nun ist seine rechte Hand, mit der er diese Meisterwerke zu Papier brachte, für die Welt verloren.«
Die Umstehenden nickten betroffen.
Auch der Reporter machte ein ernstes Gesicht. »Vielen Dank für das Interview, Frau Marquardt.«
Ich zückte meinen Notizblock. Die Juwelenhand war versichert gewesen! Dieser Fakt musste notiert werden.
Margarethe Marquardt verschwand wieder im Museum, und die Leute von Humbug 1 zogen mit ihrer Kamera und ihrem Mikrofon ab.
Trix sah auf die Uhr. »Wir sollten auch aal-mählich los. Äh, allmählich, meine ich natürlich.«
Wiebke verdrehte die Augen. »Sehr lustig, Trix.«
Mich interessierten Trix’ Aal-Witze gerade wenig. »Ist euch was aufgefallen? Die Museumsdirektorin, diese Margarethe Marquardt, ist alles andere als schlank. Man könnte sie geradezu als füllig bezeichnen.«
Wiebke atmete hörbar ein. »Du meinst, so wie die Gestalt in dem Video der Überwachungskamera? Das stimmt! Und – Moment mal, erinnert ihr euch, mit welcher Hand sich Margarethe Marquardt gerade das Mikro geschnappt hat? Das war doch mit links, oder?«
Ich führte mir die Situation noch einmal vor Augen. »Ja, das war mit links! Mit der rechten Hand hat sie sich nämlich am Treppengeländer festgehalten, das weiß ich noch genau. Vielleicht ist sie Linkshänderin, so wie die Gestalt in dem Überwachungsvideo.«
»Und die Juwelenhand war versichert!«, flüsterte Trix. Sie imitierte perfekt den dramatischen Tonfall von Margarethe Marquardt. »Höchstversichert!«
»Denkt ihr an Versicherungsbetrug?«, fragte Wiebke leise.
Ich nickte. »Kolleginnen – möglicherweise haben wir bereits unsere erste Verdächtige. Wir müssen unbedingt herausfinden, ob das Opernmuseum in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Oder auch Margarethe Marquardt persönlich. Und noch was: Sie hat von den Dieben gesprochen – also geht sie davon aus, dass es mehrere waren. In dem Video ist aber nur eine Person zu sehen. Margarethe Marquardt scheint mehr über den Diebstahl zu wissen, als sie zugibt. Und sie kennt sich im Museum sicher bestens aus.«