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Einleitung — Oder: Warum wir Menschen in Schubladen stecken und wie sie da wieder rauskommen

Würdest du eine Frau als Babysitterin engagieren, die vorher als Prostituierte gearbeitet hat? Findest du es ganz normal, wenn sich zwei Männer leidenschaftlich küssen? Würdest du bei einem Rohrbruch lieber Sanitär Özdemir als Sanitär Meier anrufen? Hältst du dicke Menschen für genauso diszipliniert wie dünne? Und würdest du als Arbeitgeber jemanden einstellen, der schon mal einen Burn-out hatte?

Wenn du all diese Fragen mit Ja beantwortet hast, ist dieses Buch vermutlich nicht das Richtige für dich. Wenn du aber auch nur bei der einen oder anderen Frage gezögert hast, bis du hier goldrichtig. Bist du tolerant? Ich sage dir ganz ehrlich: Ich bin es nicht. Das klingt jetzt hart und ist auch nur ein Teil der Wahrheit. Ich bin weder rechtsradikal noch homophob, sondern halte mich für aufgeschlossen gegenüber anderen Lebensformen und Menschen. Aber meine Toleranz hat genauso Grenzen wie die jedes anderen Menschen auch. Zum Beispiel, wenn ich mit Veganern gemeinsam grille (bei allem Respekt für ihre Lebensform) und sie mir dabei eine Szene machen, wie ich nur mein Bio-Hühnchen auf das gleiche Rost wie ihre Tofu-Wurst legen kann (»Bah, die soll nicht neben dem toten Tier liegen«) – da hört meine Toleranz auf.

Jeder von uns hat Vorurteile. Müssen wir uns deswegen schlecht fühlen? Womöglich manchmal, wenn wir anderen damit schaden. Aber sie sind nicht grundsätzlich etwas Schlechtes.

Warum brauchen wir Vorurteile?

Ich möchte dem Begriff »Vorurteil« einmal kurz seine ausschließlich negative Behaftung nehmen, denn im Kern bedeutet er, dass man sich ein Urteil erlaubt, bevor man einen Menschen oder eine Situation wirklich einschätzen kann. Und das geht für uns überhaupt nicht anders: Wir müssen Menschen und Dinge in Schubladen stecken, damit unsere Welt funktioniert. Wenn wir bei jedem Menschen, den wir treffen, oder bei jedem Handgriff, den wir tun, hinterfragen würden, ob jemand oder etwas gut oder schlecht ist, würden wir unsere gesamte Lebenszeit mit Sortieren verbringen. Da wir weder die Zeit noch die Nerven dazu haben, müssen wir also darauf zurückgreifen, was wir selbst schon einmal erlebt haben oder aber von anderen Menschen, in den Medien oder sonst irgendwo darüber gehört haben.

Dieses Schubladendenken ist dabei kein Phänomen der Neuzeit, sondern tief in unserer Evolution verwurzelt. So hat zum Beispiel das Gehirn eines Steinzeitmenschen Dinge in Schubladen sortiert wie: »großes Tier bedeutet Gefahr«. Gott sei Dank kam der Steinzeitmensch voreilig zu diesem Urteil, denn: Hätte er erst bei jedem großen Tier unvoreingenommen geschaut, ob es ein liebes oder ein gefährliches Tier ist, hätte die Menschheit vermutlich nicht überlebt.

Sind Vorurteile unbegründet?

Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Die meisten Vorurteile haben irgendwo ihren Ursprung. Die Annahme, dass die Deutschen besonders ordentlich und pünktlich sind, kommt zum Beispiel daher, dass viele Deutsche im Verhältnis zu Menschen anderer Nationen tatsächlich besonders sauber und pünktlich sind. Das erfährt man spätestens, wenn man in Afrika die Berge von Müll an den Straßenrändern sieht oder merkt, dass in der Türkei keine verlässlichen Fahrpläne existieren, sondern der Bus dann kommt, wann er eben kommt. Trotzdem zeigt diese Annahme über Deutsche, dass es sich dabei nur um ein Vorurteil handelt: Sicher kennst du mehr als nur einen, der weder ordentlich noch pünktlich ist.

Der wahre Kern offenbart sich bei Vorurteilen oft darin, dass eine Annahme auf mehrere Menschen einer Personengruppe zutrifft. Diese Annahmen können übrigens sowohl positiv als auch negativ sein. So sind zum Beispiel viele schwarze Menschen gute Läufer, viele Frauen frieren schnell und ja, tatsächlich trifft auf einige Universitätsbesucher auch der Spruch zu: »Gelfrisur und Polohemd, ich bin ein BWL-Student.« Aber nur, weil es mehrere Menschen gibt, die sich in bestimmten Punkten ähnlich sind, treffen die Annahmen in den seltensten Fällen gleich auf eine gesamte Personengruppe zu.

Entscheidend bei der Frage nach Vorurteilen ist oft, ob man die Erfahrungen selbst gemacht hat oder ob sie auf dem Hörensagen basieren. In den allermeisten Fällen sind Vorurteile gesellschaftlich gewachsen. Wir lernen schon als Kinder, dass man einen Mann an kurzen und eine Frau an langen Haaren erkennt, dass man vor Spinnen Angst hat, aber Marienkäfer bedenkenlos auf die Hand nehmen kann oder dass die Farbe für »echte« Jungs Blau ist, während Mädchen Rosa lieben. Alles, was davon abweicht, ist zunächst einmal »nicht normal« – und das führt oft zu einer negativen Bewertung. Was wir kennen, gibt uns Sicherheit, während wir Unbekanntem oft skeptisch gegenüberstehen, weil es uns unsicher macht. Das hat nicht zwangsläufig etwas mit der Erziehung durch Eltern, Lehrer oder andere Bezugspersonen zu tun, sondern ist zum Teil auch eine angeborene Skepsis gegenüber allem, was wir nicht kennen. Ich kann mich zum Beispiel daran erinnern, dass ich einen schwarzen Kinderarzt hatte. Als ich sehr klein war, wollte ich mich nicht von ihm untersuchen lassen, weil ich dachte, dass seine Hautfarbe abfärben könnte. Obwohl meine Eltern nicht die geringsten Vorurteile gegenüber Schwarzen hegen und sie diese dementsprechend auch nicht an mich weitergegeben haben, hatte ich erst einmal Angst, denn ich hatte schlicht und ergreifend vorher noch nie einen schwarzen Menschen gesehen.

Kann ich tolerant sein – trotz Vorurteilen?

Nicht tolerant zu sein und Vorurteile zu haben, ist nicht das Gleiche, hat aber einiges miteinander zu tun. Was heißt es, tolerant zu sein? Der Duden sagt dazu, dass jemand »in Fragen der religiösen, politischen oder anderen Überzeugung bereit ist, eine andere Anschauung, Einstellung, andere Sitten, Gewohnheiten und anderes gelten zu lassen«. Ein Vorurteil hegt jemand hingegen, wenn er »ohne Prüfung der objektiven Tatsachen eine voreilig gefasste, meist von feindseligen Gefühlen gegen jemanden oder etwas geprägte Meinung« hat. Das heißt: Je mehr Vorurteile ein Mensch hat, desto weniger tolerant ist er. Ob sich jemand stark oder weniger stark von Vorurteilen leiten lässt, hängt dabei von verschiedenen Faktoren ab. Von seinen Ängsten zum Beispiel. Denn je mehr Ängste ein Mensch hat, desto mehr »helfen« ihm die Vorurteile, einer vermeintlichen Gefahrensituation aus dem Weg zu gehen. Außerdem spielt es eine Rolle, ob ein Mensch gelernt hat, seine Gedanken und sein Verhalten zu reflektieren oder nicht.

Besonders oft haben wir außerdem dann Vorurteile, wenn das Verhalten anderer unseren Lebensbereich direkt berührt und wir uns angegriffen fühlen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Ich kann spendabler mit meiner Toleranz sein, wenn mich die Andersartigkeit eines Menschen nicht betrifft. Wenn zum Beispiel meine Freunde Lisa und Marc am liebsten Aktivurlaub machen, während ich am liebsten faul am Strand liege, dann ist mir das egal. Schwierig wird es, wenn wir gemeinsam Urlaub planen. Dann hinterfrage ich ihre Vorlieben und nehme vielleicht an, dass Lisa und Marc auch im Urlaub pausenlos etwas zu tun haben müssen, weil sie nicht in der Lage sind, einfach mal abzuschalten (was sie im Übrigen sind – sie ziehen ihre Erholung nur aus den Bergen, während ich auch gerne mal beim Blick aufs Meer entspanne).

Darüber hinaus haben wir Vorurteile an den Stellen, wo wir uns mit anderen Menschen vergleichen. Und das machen wir leider permanent. Indem ich akzeptiere, dass ein anderer Mensch eine (andere) Religion hat, sehr dünn ist oder sein Kind anders erzieht als ich, muss ich mir unweigerlich die Frage stellen, ob meine eigene Haltung die »richtige« ist. Dafür bleibt im Alltag oft keine Zeit. Da ist es leichter, die Eigenart eines anderen als schlecht zu bewerten, als zu hinterfragen, ob man sich selbst anders verhalten sollte.

Wenn wir aber alle Vorurteile haben, gibt es dann keine wirklich toleranten Menschen? Ich glaube, dass es keinen Menschen gibt, der zu hundert Prozent tolerant ist. Aber das wäre auch nicht gut. Intoleranz kann nämlich tatsächlich wichtig sein. Wenn ich es beispielsweise nicht dulde, dass ein Kollege einen anderen mobbt. Und zusätzlich sollte Toleranz nie bedeuten, dass man sich selbst überall unterordnet und keine eigene Meinung mehr vertritt. Die Grenze zwischen Verständnis für andere zu haben und sich selbst zu verleugnen ist dabei manchmal fließend. Natürlich muss man nicht jeden Menschen und sein Verhalten leiden können. Aber tolerant sind wir dann, wenn wir uns über jemand anderen erst informiert haben, bevor wir ihn dauerhaft »abstempeln«. Wenn wir die Hintergründe für sein Verhalten kennen, können wir entscheiden, ob wir es nachvollziehbar und sogar akzeptabel finden oder eben nicht. Und vor allem sind wir dann tolerant, wenn wir nicht gleich ganze Personengruppen verurteilen, denn es wird kaum eine geben, wo ein Vorurteil wirklich auf jede Person zutrifft.

Vorurteile können verletzend sein und sogar zu Diskriminierungen führen. Wenn zum Beispiel ein Mensch mit arabischem Aussehen eine Wohnung oder einen Job nicht bekommt, nur weil er »anders« aussieht und ihm der Vermieter oder Arbeitgeber deswegen per se nicht traut. Im schlimmsten Fall können Vorurteile sogar richtig gefährlich werden. Über die deutsche Geschichte muss ich an der Stelle wenig erzählen – hätte Hitler an seinen Vorurteilen gearbeitet, wären vermutlich Millionen von Menschen am Leben geblieben. Und vor einigen hundert Jahren wären viele Frauen nicht verbrannt worden, wenn man sie nicht aufgrund ihrer ausgezeichneten Kräuterkenntnisse für Hexen gehalten hätte. Auch heute sind Vorurteile überall dort gefährlich, wo sich Menschen aufgrund ihrer Voreingenommenheit radikalisieren. In vielen europäischen Ländern bekommen rechtsextreme Parteien immer mehr Zuwachs. Und egal, welche Ausprägungen Andersartigkeit hat – ob es sich um Herkunft, Religion oder sexuelle Orientierung handelt –, es wird propagiert, dass es nur ein Ideal gibt und kein Platz für Menschen ist, die jenseits dieser Norm stehen. Dabei wird oft mit den Ängsten der Menschen gespielt. Mit der Angst vor Andersartigkeit, die durch Vorurteile entsteht.

Was will dieses Buch?

Ziel dieses Buches ist es nicht, dass du vorurteilsfrei wirst – das wird vermutlich auch dem weltbesten Ratgeber nicht gelingen. Das Buch soll dich stattdessen stolz machen – stolz darauf, dass du genau wie jeder andere Mensch anders und einzigartig bist. Du sollst nicht stolz darauf sein, keine Vorurteile zu haben, aber stolz darauf, dass du anderen zunehmend offener begegnen kannst und dir deine Vorurteile zumindest immer häufiger bewusst werden. Wie das gelingt, möchte ich dir in diesem Buch zeigen. Es soll helfen, die eigenen Vorurteile zu erkennen. Das ist der erste Schritt, um sie zu verändern und auch mit anderen darüber zu sprechen, um mehr Akzeptanz untereinander zu schaffen.

In den folgenden Kapiteln erzähle ich dir Geschichten und Fakten über Menschen, die häufig Vorurteilen ausgesetzt sind. Ich habe sie oder ihre Geschichten entweder durch meine Arbeit als Journalistin kennengelernt oder im Privatleben. Teilweise haben die Begegnungen auch meine eigenen Vorurteile abgebaut und mich umdenken lassen. Ich möchte dir zeigen, dass Wissen und Aufklärung die beste Waffe gegen gefährliche oder verletzende Vorurteile sind. Wenn dir diese Geschichten nur ab und zu einen Denkanstoß geben, dann wird es dir auch bei anderen Menschen leichter fallen, erst einmal hinter die Fassade zu schauen, bevor du ihnen mit Vorurteilen begegnest. Das lohnt sich zum einen für deine Mitmenschen. Denn das Schöne ist, dass auch einzelne kleine Situationen das Leben eines anderen verändern können. Wenn sich ein Schüler zum Beispiel einen beleidigenden Kommentar bei einem übergewichtigen Mitschüler spart oder ein Obdachloser mit Respekt behandelt wird. Aber es lohnt sich zum anderen auch für dich selbst: Du wirst überrascht sein, um wie viele positive Begegnungen dich das reicher macht.

Wichtig ist mir dabei: Selbstverständlich sind diese Geschichten nur Beispiele aus meinen Erfahrungen und meiner Recherche. Ich möchte damit zeigen, dass nicht alle Menschen in die vorgefertigten Schubladen passen und dass viele Vorurteile ungerechtfertigt sind. Das heißt aber nicht, dass du vielleicht bei dem einen oder anderen Thema trotzdem einen Menschen kennst, der exakt dem Klischee entspricht.

Außerdem zähle ich der Einfachheit halber in diesem Buch nur eine Geschlechtsform auf, das heißt, wenn ich von Studenten spreche, dann meine ich selbstverständlich Studentinnen und Studenten beziehungsweise alle Studierenden.

Auch wenn es mir leidtut, dass das nötig ist: Viele Namen von Betroffenen habe ich in diesem Buch verändert, um sie zu schützen. Denn auch wenn ich mir Toleranz für sie wünsche, ist sie leider in den Köpfen vieler Menschen noch nicht vorhanden.

Zum Ende dieses Buchanfangs noch ein Zitat von Albert Einstein: »Es ist leichter, einen Atomkern zu spalten, als ein Vorurteil.« Aber es ist nicht unmöglich. Auch wenn wir dazu keine Atomphysiker werden müssen: Lasst uns anfangen, unsere Energie sinnvoll zu nutzen, sonst fliegt sie uns irgendwann um die Ohren.

Stolz ohne Vorurteil

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