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Kapitel 2
ОглавлениеMr. Shepherd, ein höflicher, vorsichtiger Rechtsanwalt, dem ungeachtet seiner Macht oder seiner Ansichten über Sir Walter daran lag, die unangenehmen Nachrichten von jemand anderem offenbaren zu lassen, enthielt sich auch der leisesten Andeutung und erlaubte sich lediglich, dem ausgezeichneten Urteil von Lady Russell, von deren gesundem Menschenverstand er sich genau die einschneidenden Maßnahmen versprach, die er letzten Endes getroffen zu sehen wünschte, seine uneingeschränkte Hochachtung auszusprechen.
Lady Russell lag das Thema außerordentlich am Herzen, und sie machte sich ernsthafte Gedanken darüber. Zuverlässig, wenn auch nicht schnell in ihrem Urteil, war sie eine Frau, die bei dem Aufeinanderprallen zweier wichtiger Grundsätze große Schwierigkeiten hatte, eine Entscheidung zu treffen. Sie war eine durch und durch integre Frau, mit unbestechlichem Ehrgefühl. Aber sie war ebenso bemüht, Sir Walters Gefühle zu schonen, wie auf das Ansehen der Familie bedacht, ebenso standesbewußt in ihren Vorstellungen über ihre gesellschaftlichen Ansprüche, wie ein vernünftiger und aufrichtiger Mensch nur sein konnte. Sie war eine wohlmeinende, gütige, ehrliche Frau und zu starken Bindungen fähig, äußerst korrekt in ihrem Benehmen, streng in ihren Vorstellungen von Anstand und mit Umgangsformen, die für den Inbegriff einer guten Kinderstube gehalten wurden. Sie war gebildet und dachte im allgemeinen rational und logisch – aber sie hatte Vorurteile in Fragen des Standes. Sie maß Rang und Stellung eine Bedeutung bei, die sie gelegentlich über die Schwächen derer hinwegtäuschte, die sie besaßen. Selbst nur die Witwe eines Geadelten, galt der Würde eines Barons ihre ganze Bewunderung; und Sir Walter hatte unabhängig von seinen Ansprüchen als alter Bekannter, als aufmerksamer Nachbar, als verständnisvoller Vermieter, als Gatte ihrer engsten Freundin und Vater von Anne und ihren Schwestern in ihren Augen schon allein als Sir Walter Anspruch auf eine Menge Mitleid und Nachsicht in seinen augenblicklichen Schwierigkeiten.
Sie mußten sich einschränken; daran gab es keinen Zweifel. Aber sie war sehr darauf bedacht, daß er und Elizabeth so wenig wie möglich darunter zu leiden hatten. Sie entwarf Sparmaßnahmen, sie stellte genaue Berechnungen an, und sie tat das, woran sonst niemand gedacht hatte: sie bat Anne um ihren Rat, von der anscheinend niemand sonst irgendein Interesse an der Sache erwartete. Sie fragte sie also um Rat und ließ sich in gewisser Weise beim endgültigen Entwurf der Einschränkungsmaßnahmen, wie sie Sir Walter zu guter Letzt vorgelegt wurden, beeinflussen. Anne hatte bei allen ihren Vorschlägen für Aufrichtigkeit statt für eine standesgemäße Fassade plädiert. Sie wollte einschneidendere Maßnahmen, eine radikalere Umstellung, eine schnellere Tilgung der Schulden, eine entschieden größere Gleichgültigkeit gegenüber allem, außer was recht und billig war.
»Wenn wir deinen Vater dazu überreden können«, sagte Lady Russell mit einem Blick auf ihren Plan, »dann ist schon viel erreicht. Wenn er diese Maßnahmen akzeptiert, ist er in sieben Jahren schuldenfrei; und ich hoffe, wir können ihn und Elizabeth davon überzeugen, daß Kellynch Hall an sich ein Ansehen besitzt, dem diese Einschränkungen keinen Abbruch tun können, und daß Sir Walter Elliots wahre Würde in den Augen vernünftiger Leute durchaus nicht beeinträchtigt wird, wenn er wie ein Mann von Grundsätzen handelt. Und was tut er denn anderes, als was sehr viele unserer führenden Familien ebenfalls getan haben – oder tun sollten? Sein Fall ist keine Ausnahme, und es ist die Ausnahme, die uns oft am schlimmsten trifft oder jedenfalls unser Handeln entscheidend beeinflußt. Ich habe große Hoffnungen, daß wir uns durchsetzen. Wir müssen bestimmt und entschieden sein – denn schließlich muß der, der Schulden gemacht hat, sie auch bezahlen. Und obwohl man den Empfindungen eines Gentleman und dem Haupt einer Familie wie deinem Vater viel Rücksicht schuldig ist, dem Charakter eines ehrlichen Mannes ist man mehr Rücksicht schuldig.«
Anne lag daran, daß ihr Vater nach diesem Grundsatz handelte und seine Freunde ihn darin bestärkten. Sie hielt es für ein unumgängliches Gebot der Pflicht, die Ansprüche der Gläubiger mit all der Geschwindigkeit zu befriedigen, die nur durchgreifende Einschränkungen garantieren konnten; und weniger als das erschien ihr ehrlos. Sie wünschte, daß ein solcher Schritt verordnet und als Pflicht empfunden wurde, sie versprach sich viel von Lady Russells Einfluß; und was die Rigorosität des Verzichts betraf, den ihr eigenes Gewissen vorschrieb, so glaubte sie, daß es kaum schwieriger sein werde, sie zu einer vollständigen Umkehr zu überreden als zu einer halbherzigen. Wie sie ihren Vater und Elizabeth kannte, würde das Opfer eines Pferdegespannes sie kaum weniger schmerzlich treffen als das von zweien, und das gleiche galt für die ganze Liste von Lady Russells zu vorsichtigen Einsparungen.
Wie Annes rigorosere Forderungen aufgenommen worden wären, spielt keine Rolle. Lady Russells hatten keinerlei Erfolg – galten als unannehmbar – waren unerträglich. Was! Auf alle Annehmlichkeiten des Lebens verzichten! Reisen, London, Diener, Pferde, Tafelfreuden – überall Kürzungen und Einschränkungen! Sich nicht einmal mehr den Lebensstil eines einfachen Gentleman leisten! Nein, lieber würde er Kellynch Hall auf der Stelle verlassen, als unter solch schmählichen Bedingungen weiter darin zu wohnen!
»Kellynch Hall verlassen!« Das Stichwort wurde sofort von Mr. Shepherd aufgegriffen, der ein durchaus greifbares Interesse an Sir Walters Sparmaßnahmen hatte und völlig davon überzeugt war, daß ohne einen Wohnungswechsel nichts zu erreichen war. Da der Gedanke von genau der Seite komme, die die Entscheidungen treffen müsse, habe er keinerlei Skrupel, sagte er, zu gestehen, daß er mit dieser Meinung völlig übereinstimme. Er halte es nicht für wahrscheinlich, daß Sir Walter seinen Lebensstil in einem Haus wesentlich ändern könne, das so vom Geist der Gastfreundschaft und alter Ehrwürdigkeit durchdrungen sei. Überall sonst sei er sein eigener Herr und werde, gleichgültig, wie er seinen eigenen Haushalt gestalte, ein Vorbild für den Lebensstil anderer sein.
Sir Walter würde Kellynch Hall verlassen – und nach nur wenigen Tagen voller Zweifel und Unschlüssigkeit war die große Frage, wohin er ziehen solle, beantwortet und ein erster Plan für diese tiefgreifende Veränderung entworfen.
Es hatten drei Möglichkeiten zur Debatte gestanden, London, Bath oder ein anderer Landsitz. Annes Wünsche richteten sich ganz auf das letzte. Ein kleines Haus in ihrer alten Nachbarschaft, wo sie weiterhin mit Lady Russell verkehren, weiterhin in Marys Nähe sein und weiterhin das Vergnügen haben konnten, ab und zu die Anlagen und Wäldchen von Kellynch zu sehen, war das ganze Ziel ihrer Wünsche. Aber es traf sie das übliche Schicksal Annes, denn man entschied sich für etwas ihren Wünschen völlig Entgegengesetztes. Sie mochte Bath nicht und konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich dort wohl fühlen werde – und ausgerechnet Bath sollte ihr Zuhause werden. Sir Walter hatte zuerst eigentlich an London gedacht, aber Mr. Shepherd fand, daß man ihm in London nicht trauen konnte, und war geschickt genug gewesen, ihm Bath schmackhaft zu machen. Bath sei ein viel sicherer Ort für einen Gentleman in seiner schwierigen Lage: dort habe er mit verhältnismäßig wenig Aufwand großes Ansehen. Zwei wesentliche Vorteile von Bath gegenüber London hatten natürlich den Ausschlag gegeben, und zwar seine geringere Entfernung von Kellynch, nur fünfzig Meilen, und die Tatsache, daß Lady Russell jedes Jahr einen Teil des Winters dort verbrachte; und zur großen Beruhigung von Lady Russell, die bei dem bevorstehenden Umzug Bath von Anfang an den Vorzug gegeben hatte, wurden Sir Walter und Elizabeth davon überzeugt, daß sie weder auf Ansehen noch Abwechslung verzichten müßten, wenn sie sich dort niederließen.
Lady Russell sah sich gezwungen, den ihr bekannten Wünschen ihrer lieben Anne zu widersprechen. Man mute Sir Walter zu viel zu, wenn man erwarte, daß er sich dazu herablassen werde, in ein kleines Haus in seiner eigenen Nachbarschaft zu ziehen. Anne selbst würde die Demütigung stärker empfinden als erwartet, und für Sir Walters Ehrgefühl wäre sie bestimmt unerträglich. Und was Annes Abneigung gegen Bath angehe, so halte sie sie für ein Vorurteil und einen Irrtum, der erstens darauf beruhe, daß sie dort drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter zur Schule gegangen sei, und daß es ihr zweitens in dem einzigen Winter, den sie dort anschließend mit ihr selbst verbracht habe, nicht besonders gut gegangen sei.
Kurz und gut, Lady Russell gefiel Bath, und sie neigte deshalb zu der Annahme, daß es für alle das Richtige sei.
Und was die Gesundheit ihrer jungen Freundin betreffe, so werde jedes Risiko vermieden, wenn sie die warmen Sommermonate bei ihr in Kellynch Lodge verbringe. Es handle sich also um einen Wechsel, der sowohl ihrer Gesundheit als auch ihrer Stimmung guttun müsse. Anne sei zu wenig von zu Hause fortgekommen, zu wenig in Gesellschaft gewesen. Es fehle ihr an Unternehmungslust. Mehr Gesellschaft werde ihr guttun. Sie wolle sie mehr unter Leute bringen.
Das Fatale eines Hauses in derselben Nachbarschaft wurde für Sir Walter natürlich wesentlich durch ein Element verstärkt, und zwar ein entscheidendes Element des Plans, das man dem ersten Schritt arglos noch aufgepfropft hatte. Er sollte sein Heim nämlich nicht nur verlassen, sondern es in anderen Händen sehen – eine Prüfung, die für stärkere Naturen als Sir Walter zuviel gewesen wäre. Kellynch Hall sollte vermietet werden. Dies allerdings war ein tiefes Geheimnis, das nicht über ihren unmittelbaren Kreis hinausdringen durfte.
Sir Walter hätte die erniedrigende Bekanntmachung, daß sein Haus zu vermieten sei, nicht ertragen. Mr. Shepherd hatte ein einziges Mal das Wort »annoncieren« fallenlassen, aber nicht gewagt, je wieder darauf zurückzukommen. Sir Walter wies den Gedanken, daß man es auf irgendeine Weise feilbieten könne, empört von sich; verbat sich die leiseste Anspielung, er könne eine derartige Absicht haben; und nur unter der Voraussetzung, daß er ein ganz spontanes Angebot von einem ganz außergewöhnlichen Bewerber erhalte, würde er nach seinen eigenen Bedingungen und als große Gefälligkeit überhaupt vermieten.
Wie schnell wir Gründe bei der Hand haben, das zu billigen, was uns gefällt! Lady Russell führte einen weiteren ausgezeichneten Grund für ihre übergroße Freude an, daß Sir Walter und seine Familie vom Land in die Stadt zogen. Elizabeth hatte vor kurzem eine enge Freundschaft angeknüpft, die sie gern unterbunden hätte. Es handelte sich um eine Tochter von Mr. Shepherd, die nach unglücklicher Ehe mit der zusätzlichen Bürde zweier Kinder ins Haus ihres Vaters zurückgekehrt war. Sie war eine geschickte junge Frau, die es verstand, sich beliebt zu machen, jedenfalls in Kellynch Hall, und die sich so bei Miss Elliot eingeschmeichelt hatte, daß sie trotz aller Anspielungen auf Vorsicht und Zurückhaltung von Lady Russell, die diese Freundschaft für völlig unstandesgemäß hielt, dort schon mehr als einmal länger zu Besuch gewesen war.
Lady Russell hatte tatsächlich kaum Einfluß auf Elizabeth und liebte sie anscheinend eher, weil sie es sich vorgenommen hatte, als weil Elizabeth es verdiente. Sie hatte von ihr nie mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit erhalten, nichts, was über die notwendige Höflichkeit hinausging, und es war ihr nie gelungen, sie von einer einmal gehegten Vorliebe abzubringen. Sie hatte mehrfach ernsthaft versucht, daß Anne bei den Besuchen nach London mitgenommen wurde, da sie schmerzlich die ganze Ungerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit dieser egoistischen Unternehmungen empfand, von denen sie ausgeschlossen war, und hatte bei viel geringfügigeren Anlässen versucht, Elizabeth von ihrer eigenen besseren Einsicht und Erfahrung profitieren zu lassen – aber immer vergeblich. Elizabeth bestand darauf, ihren eigenen Weg zu gehen, und nie hatte sie ihn in entschiedenerem Widerspruch zu Lady Russell verfolgt als bei ihrer Wahl von Mrs. Clay. Sie verschmähte die Gesellschaft einer so schätzenswerten Schwester und schenkte ihre Neigung und ihr Vertrauen statt dessen einer Person, die nichts als ein Gegenstand kühler Höflichkeit hätte sein sollen. Ihrer Stellung nach war Mrs. Clay in Lady Russells Augen eine sehr unebenbürtige, ihrem Charakter nach, glaubte sie, sehr gefährliche Freundin; und ein Umzug, der Mrs. Clay zurücklassen und Miss Elliot den Umgang von geeigneteren Gefährtinnen ermöglichen würde, war deshalb ein höchst wünschenswertes Ziel.