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Kapitel 1

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Tote Weinbergschnecken

schleimen nicht

Für

Hedwig, Friedlinde und Erwin

Wein,

weil keine gute Geschichte

je mit einem Salat begann.

Marie behielt von ihrem Wohnzimmerfenster aus die Straße fest im Blick. In der Ferne zeichneten sich die Vogesen in einem milchigen Graugrün gegen den strahlend blauen Himmel ab. Das spätsommerliche Wetter hielt sich. Gut für die bevorstehende Weinlese.

Dies war allerdings nicht der einzige Grund für ihren fokussierten Blick. Mit Spannung erwartete sie die neue Kommissarin. Ihr erster Gast, seit dem Umbau des Hauses, und nachdem ihr Mann bäuchlings die Treppenstufen hinuntergesegelt war. Nicht das erste Mal, aber zum letzten Mal – mit knapp drei Promille im Blut.

Marie hatte sich gegen den Willen ihrer Eltern durchgesetzt. Die beiden Wohnungen in ihrem Haus hatte sie nach eigenen Vorstellungen umbauen lassen. Sie brachten ihr ein zusätzliches Einkommen, da sie die Schulden ihres trinkfreudigen Gatten – Gott hab ihn selig – erdrückten.

Ihre Eltern zeigten keinerlei Empathie für ihren Wunsch nach Selbstbestimmung. Für ihren Vater grenzte es bereits an Verrat, dass ihr langjähriger Stammgast, Hauptkommissar Theo Conrads, Marie den ersten Feriengast vermittelte. Dabei blendete er aus, dass es in ihren alten Wohnungen über der ehemaligen Scheune zog, dass der Luftzug die Kerzen ausblies und der Geruch von Moder allgegenwärtig war.

Erst recht widersetzte er sich Maries Vorschlag, eine der beiden renovierungsbedürftigen Ferienwohnungen für die polnische Pflegerin herrichten zu lassen. Gleich vom ersten Tag an hatten sie sich gegen diese Person gesträubt und energisch betont, auf deren Hilfe nicht angewiesen zu sein. Wozu sonst hätten sie eine Tochter in die Welt gesetzt? Marie blieb beharrlich. Die Pflegekraft zog in die unrenovierte Wohnung über der Scheune und kümmerte sich hingebungsvoll um ihre Eltern. Ein beträchtlicher Triumph. „Pass gut auf sie auf“, erinnerte sich Marie an das Telefonat mit Theo. „Sie ist eine ausgezeichnete Kommissarin und die perfekte Besetzung für die freigewordene Stelle vom Karl. Aber wir müssen sie erst noch ein wenig aufmuntern.“ Was genau er darunter verstand, und wie das wir einzuordnen war, ließ er offen. Marie würde sich selbst ein Bild von der Kommissarin machen. Ein auf Hochglanz polierter schwarzer Mini hielt auf dem Gästeparkplatz. Sie straffte die Schultern und nahm die Düsseldorferin in Empfang. „Daag. Haben Sie gut hergefunden?“ „Ja, vielen Dank.“ Hektisch griff die Rheinländerin ihre Schultertasche, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn. Gehetzt legte sie die Rückenlehne des Fahrersitzes um und zerrte fluchend eine prall gefüllte Klappkiste vom Rücksitz. „Darf ich Ihnen behilflich sein?“, bot sich Marie an. „Es-geht-schon“, stieß sie hervor und wand sich umständlich aus dem Inneren ihres Wagens. Eine Schachtel löste sich aus dem Gepäck und rutschte unaufhaltsam auf den Boden. Eine Flut Glanzbilder mit Motiven von Feen, Blumen und Engeln verstreuten sich auf dem Asphalt. Marie ging in die Hocke, um ihr beim Aufsammeln behilflich zu sein. „Ich mache das schon“, zischte sie und las hastig die Bilder auf, bevor Marie sie zu fassen bekam. „Sind Sie die neue Kommissarin?“ „Cara Goldmann. – Ich bin zu meinem Vergnügen hier. Und Sie sind?“ „Marie Steiert. Sie känne die Färiewohnig im erschte Schtock haa. – E furchtbari Gschicht, wo dem Erchinger Karl do bassiert isch“, ging sie ohne Überleitung zum Kernthema über, das ganz Lausgrott derzeit beschäftigte: Der plötzliche Tod des bisherigen Kommissars der Wache. „Tut mir leid, den kenne ich nicht“, antwortete Cara zerstreut. Sie hatte kaum etwas von dem Dialekt geprägten Redeschwall verstanden. „Ich würde gerne mein Gepäck nach oben bringen, um aus der schweißtreibenden Sonne zu kommen“, fügte sie mit Nachdruck hinzu, da Marie Steiert offenbar nicht über die nötige Sensibilität verfügte, dies zu erkennen. „Karl Erchinger“, bemühte sich Marie nun auf Hochdeutsch. „Wegen dem sind Sie doch hier. Oder?“ „Ich verbringe meinen Urlaub hier. Gibt es im Ort eine Einkaufsmöglichkeit?“, wechselte Cara das Thema. „Nein, aber einen Edeka in Breisach.“ Sie hielt ihr einen Schlüsselanhänger aus Filz mit dem Aufdruck Willkommen in Lausgrott entgegen, an dem zwei Schlüssel baumelten. „Die Wohnung ist frisch renoviert worden.“ Sie reckte den Hals, um einen Blick ins Innere des Minis zu erhaschen. „Falls Sie irgendetwas benötigen, klingeln Sie. Ich wohne gleich nebenan.“ Marie lächelte gewinnend, wobei sich Fältchen um ihre Mundwinkel herum bildeten. Cara war abgespannt und darauf bedacht, möglichst rasch ihre Ferienwohnung beziehen zu können. Sie mühte sich mit ihrer Klappkiste ab, auf der das Kästchen mit den Glanzbildern wieder gefährlich in Schieflage geriet. Kaum dass Marie die Tür aufgeschlossen hatte, stellte sie ihr Gepäck ab. Auf dem Esstisch hießen sie eine Flasche Weißwein aus der Region sowie Mineralwasser und ein Gugelhupf willkommen. Die Geste schien sie versöhnlicher zu stimmen, wie ein knappes Hochziehen ihres Mundwinkels vermuten ließ. Sie zog die cremefarbigen Gardinen auf und trat auf den Balkon hinaus. Marie folgte ihr. Rechts kletterten Rebstöcke terrassenförmig in akkuraten Reihen den Weinberg hinauf, links lud das verwaschene Grün schattenspendender Bäume zu einer Wanderung am Fuße des Schwarzwaldes ein. Voraus zeichneten sich die Konturen der Vogesen ab. Cara sog die nach überreifen Früchten duftende Luft ein. „Gefällt’s Ihnen?“, fragte Marie. Ein Traktor fuhr knatternd mit gefährlich schwankenden Fässern auf dem Anhänger vorbei. Cara löste sich von dem liebreizenden Idyll und verzog säuerlich die Mundwinkel. „Die Aussicht ist …“ Sie brach ab und ihr Blick blieb auf dem umgegrabenen Erdreich der Ferienwohnung unter ihr haften. Aufeinandergestapelte Steinplatten mit einer Rüttelmaschine daneben. „Sie sanieren?“ „Die Arbeiten sind bis auf die Terrasse abgeschlossen.“ Cara sah ihre Vermieterin irritiert an. „In Ihrer Bestätigungsmail stand nichts von Umbauarbeiten.“ „Es müssen nur noch die Terrassenfliesen gelegt werden“, versicherte ihr Marie. „Ich wünsche Ihnen eine erholsame Zeit bei uns in Lausgrott.“ Besser, Marie ließ ihr Zeit, damit sie sich akklimatisierte. Sie hatte zahlreiche Gäste in den beiden Ferienwohnungen ihrer Eltern betreut. In den letzten Jahren vorwiegend ohne deren Unterstützung, da sie aufgrund ihres hohen Alters und ihrer körperlichen Verfassung lediglich zu delegieren vermochten. Marie kannte sich aus mit Menschen und ihren Eigenheiten. Mit Cara Goldmann beherbergte sie keinen unkomplizierten Gast unter ihrem Dach. Mal ehrlich: Welche Kriminalbeamtin befasste sich mit Glanzbildern? Dieses kindliche Hobby passte nicht zu dem Bild, das sie von einer Kommissarin hatte, die aus einer Großstadt kam. Ihr unstetes Verhalten dagegen, die unterschwellige Gereiztheit entsprachen eher jemandem, der, der … Sie sollte damit aufhören, die Personen in ihrem Umfeld zu analysieren. Du bist Winzerin, Marie. Was kümmert’s dich da, wie es in den Köpfen der Menschen ausschaut?, erinnerte ihre Mutter sie in einem ewigen Mantra an die ihr vorbestimmte Rolle. Wenn du Menschenkenntnis besäßest, setzte ihr Vater abfällig nach, wärst du nicht auf so einen wie deinen trunksüchtigen Mann hereingefallen.Hätte, wäre, wenn. Eine in Lausgrott geborene Frau wurde Winzerin, heiratete einen Winzer und bekam Kinder, die den elterlichen Winzerhof übernahmen. Hätte man den richtigen Partner an seiner Seite, wäre dies eine erfolgversprechende Aussicht gewesen. Wäre der Gatte nicht selbst sein bester Kunde, wäre der Hof nicht mit samt der Schnapsbrennerei in die Luft geflogen. Wenn sie damals eine andere Wahl gehabt hätte … Sie zwang sich, die deprimierenden Erinnerungen aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. All das war lange her. Inzwischen kannte sie die Menschen besser.

Tote Weinbergschnecken schleimen nicht

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