Читать книгу Sie war meine Königin - Janina Hoffmann - Страница 3

Prolog

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Manchmal sehe ich dich noch. An einem Samstagnachmittag in der gut besuchten Fußgängerzone unserer Stadt, wo ich mit meiner neunjährigen Tochter unterwegs bin, um mit ihr einen neuen Schulranzen zu kaufen, da ihr bisheriger nach ihrer Überzeugung völlig aus der Mode sei und sie sich mit einer Schultasche ohne Glitzer vor allen anderen Mädchen in ihrer Klasse lächerlich mache. Im Flughafenterminal, wo ich, um die Zeit bis zum Abflug zu unserem Urlaubsziel totzuschlagen, auf einem unbequem harten orangefarbenen Kunststoffstuhl sitzend, vorgebe, in einer Zeitschrift zu lesen, und dabei andere Reisende unauffällig beobachte, während meine Frau mit unserer Tochter ein Geschäft nach dem anderen auf der Suche nach Schnäppchen abklappert, die kein Mensch braucht. In der Mittagspause, während ich in der Kantine eine zu salzige, cholesterinreiche Mahlzeit zu mir nehme, die später Sodbrennen und ein schlechtes Gewissen zur Folge haben wird, das belanglose Geschwätz der Kollegen an meinem Tisch so gut es geht ignoriere und aus dem Fenster hinaus auf die Straße der Innenstadt schaue, neben der sich Passanten unter einem bleigrauen Himmel mit ernsten Gesichtern widerwillig ihren Weg durch den Nieselregen bahnen. Nicht zum ersten Mal wünschte ich, ich könnte weglaufen und alles für immer hinter mir lassen. Dann sehe ich dich plötzlich. Du bist da vorn, nur ein Stück weit entfernt. Das gibt es doch nicht! Mir ist jedes Mal, als träfe mich der Schlag. Zu ungeheuerlich ist der Zufall, an den ich nicht mehr geglaubt habe, zu unermesslich das Glücksgefühl, das ich bei deinem Anblick nach all den Jahren immer noch empfinde. Für einen Moment lang bin ich wie gelähmt, kann es nicht fassen, dass du wirklich da bist. Alles andere um mich herum verschwimmt zur Bedeutungslosigkeit. Das Einzige, was jetzt zählt, ist, schnell zu dir zu gelangen, bevor ich dich wieder aus den Augen verliere, dich anzusprechen, dir zu sagen, wie unsagbar froh und dankbar ich bin, dass du zurück bist, dass ich den Rest meines Lebens mit dir verbringen möchte, dass wir uns nie wieder trennen dürfen, dass es egal ist, was andere über uns denken, dass ich dir vergebe, was du getan hast. Ich lasse alles stehen und liegen, nähere mich dir auf wackeligen Beinen, mit rasendem Herzen. So lange habe ich auf dieses Wiedersehen gewartet. Eine unerträglich lange Zeit. Eine quälende Ewigkeit. Mein Gott, du hast dich überhaupt nicht verändert. Du bist noch genauso wunderschön wie früher. Dieses herrlich dicke dunkelbraune wellige Haar. Wie oft habe ich meine Hände durch deine glänzende Haarpracht hindurchgleiten lassen. Du warst noch nicht einmal dreißig, als die ersten weißen Haare auf deinem Kopf sichtbar wurden, hast du mir einmal erzählt. Seitdem färbst du dein Haar konsequent in deiner Naturfarbe, kannst keinen Makel ertragen, willst ewig jung sein. Dein Haar ist jetzt länger als damals, fast schulterlang. Ansonsten hat sich nichts an dir verändert. Mir kommt es vor, als wäre die Zeit für dich und mich stehen geblieben. Du hast mich noch nicht bemerkt. Du ahnst nicht, dass das Schicksal uns wieder zusammengeführt hat. Gleich bin ich dir so nah, dass ich dir eine Hand auf die Schulter legen kann. Oder soll ich dich besser leise beim Namen rufen? Was wirst du sagen, wenn du dich daraufhin umdrehst und erkennst, dass ich es bin? Was wirst du ... Dann fällt es mir auf. Zunächst nur eine Kleinigkeit. Du bist doch größer. Dann weitere Unstimmigkeiten. Deine Körperhaltung war früher viel graziler, deine Hüften schmaler. Die seltsam ängstliche Art, wie du den Riemen deiner Handtasche umklammerst, die Tasche dabei an deinen Körper presst, als würdest du damit rechnen, dass sie dir in jedem Moment entrissen wird. Das sieht dir und deiner lebensfrohen Art gar nicht ähnlich. Dieser biedere Kleidungsstil passt nicht zu dir. Du liebst es farbenfroh und ein wenig ausgefallen. Und nie würdest du so unbeholfen in hochhackigen Schuhen herumlaufen. Du bist eine Meisterin darin, in hochhackigen Schuhen zu laufen. Du könntest in hochhackigen Schuhen zur Not auch einen Marathon laufen, hast du mir einmal gesagt und anschließend auf diese unnachahmlich herzliche und ansteckende Weise gelacht. Ich will es mir nicht eingestehen. Ich will die Wahrheit nicht an mich heranlassen. Manchmal dreht die Frau, die ich für dich gehalten habe, ihren Kopf so weit, dass ich ihr Gesicht sehen kann, obwohl das gar nicht mehr nötig ist. Die Illusion hat sich bereits so schnell aufgelöst, wie sie entstanden ist. Und ich komme mir vor wie der letzte Idiot, dass ich auch nur im Entferntesten daran denken konnte, diese Person mit ihrem Durchschnittskörper und Allerweltsgesicht könntest du sein. Ich schäme mich. Nun bin ich auf einmal erleichtert, dass du nicht in der Nähe bist, dass du nicht Zeugin dieser peinlichen Verwechslung bist. Ich kehre zurück. Zu meiner Tochter, die vor dem Koffergeschäft in der Fußgängerzone, das wir gerade betreten wollten, mit mürrischem Gesichtsausdruck auf mich wartet, mich fragt, was das denn gerade sollte, und mir, als ich nicht darauf antworte, maulig vorwirft, ich wolle mich wohl davor drücken, ihr eine glitzernde Schultasche zu kaufen. Ich setze mich wieder auf den unbequemen Stuhl im Flughafenterminal, wo ich doch auf die Jacke meiner Frau und den kleinen pinkfarbenen Trolley meiner Tochter aufpassen sollte, während beide in den Geschäften stöbern. Zum Glück sind die Sachen noch da. Ich geselle mich erneut zu den Kollegen an den Kantinentisch, die meine Abwesenheit anscheinend gar nicht bemerkt haben und weiterhin die unglaublich tragischen Ereignisse der am Vorabend ausgestrahlten Folge einer Fernsehserie diskutieren oder einstimmig prophezeien, dass Deutschland mit seinem diesjährigen Beitrag beim European Songcontest mit Sicherheit einen der ersten drei Plätze belegen werde.

Ich werde dir nie wieder begegnen, denn dich gibt es nicht mehr. Das muss ich mir so oft ins Gedächtnis zurückrufen, mich zwingen, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Und trotzdem sehe ich dich noch. Immer und immer wieder passiert es mir, dass ich andere Frauen für dich halte. Und ich will, dass das niemals aufhört. Ich werde sterben, wenn das jemals aufhört.

Während ich mit meiner Tochter im Koffergeschäft in der Fußgängerzone eine Schultasche mit extra viel Glitzer aussuche, die ihren hohen Ansprüchen genügt, am Flughafen auf dem unkomfortablen Kunststoffstuhl weiter in der Zeitschrift blättere oder am Kantinentisch im inzwischen kalt gewordenen Essen herumstochere, versuche ich nicht zum ersten Mal zu verstehen, wann alles anfing und wieso es so enden musste. Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt. Es ist eine Endlosschleife, die sich dann in meinem Kopf zu drehen beginnt. Diese Gedanken sind zermürbend, und doch kann ich sie nicht stoppen. Oft halten sie mich nachts wach. Es ist mit den Jahren schlimmer geworden. Ich schlafe zu wenig. Man sieht mir mittlerweile an, dass mich etwas quält. Es fällt mir zunehmend schwer, es vor anderen zu verbergen, insbesondere vor meiner Frau, der ich so viel bedeute. Meine Frau macht sich meinetwegen Sorgen. Sie glaubt, ich stünde kurz vor einem Burnout, weil ich im Büro überlastet sei. Sie redet von Rationalisierung und Arbeitsverdichtung, ist der festen Überzeugung, dass dies noch alle verrückt machen werde. Ich solle mir psychologische Hilfe holen, notfalls den Job wechseln. Es müsse doch noch einen Ort mit erträglichen Arbeitsbedingungen geben. Ich beschwichtige sie. Alles in Ordnung, Schatz. Mach dir keine Sorgen. Mir geht es gut. Ich kann ihr die Wahrheit nicht sagen. Sie würde es nicht verstehen. Und sie würde sich seit Jahren, um nicht zu sagen von Anfang an, hintergangen fühlen, mich sofort verlassen und unsere Tochter mitnehmen. Unsere Tochter, von der ich nicht wollte, dass sie auf die Welt kommt. Ich wollte nie Vater werden. Schon lange hatte ich Bedenken, was ich meinen Kindern vererben könnte. Spätestens, seit du tot bist, weiß ich, dass es das Beste wäre, kinderlos zu bleiben. Meine Frau ist da anderer Ansicht. Sie ist mit vier Geschwistern aufgewachsen, hätte am liebsten selbst eine Großfamilie. Es hat mich viel Mühe gekostet, ihr das auszureden. Lahme Argumente habe ich vorgebracht: Weißt du, was Kinder heutzutage kosten? In diese verrückte Welt willst du Kinder setzen? Ist dir überhaupt bewusst, was für eine Verantwortung wir mit Kindern auf uns nehmen? Meine Frau hat das genauso wenig überzeugt wie mich selbst. Sie spricht ihren Wunsch, mindestens noch ein zweites Kind zu bekommen, weiterhin von Zeit zu Zeit an, doch ich bleibe bei meiner ablehnenden Haltung, die meine Frau nicht nachvollziehen kann. Das würde sich schnell ändern, wenn sie erführe, was ich in mir trage.

Es kommt vor, dass ich meine Tochter heimlich beobachte, während sie draußen im Garten mit ihren Freundinnen spielt oder am Küchentisch ihre Hausaufgaben macht. Ich versuche, erste Anzeichen zu erkennen, erste Hinweise darauf, dass meine Tochter so wird wie ich. Sie macht auf mich einen ganz normalen Eindruck. Eindeutig zu verwöhnt. Das wäre vermutlich anders, wenn sie kein Einzelkind wäre. Schnell beleidigt, wenn sie nicht ihren Willen bekommt. Und launisch. Von einem Moment zum anderen kann sie aus für mich nicht nachvollziehbaren Gründen in Tränen ausbrechen, um Minuten später, nachdem meine Frau beschwichtigend auf sie eingeredet hat, wieder ausgelassen zu lachen. Mädchen seien nun einmal so, meint meine Frau schmunzelnd, wenn ich andeute, dass unsere Tochter alles andere als ein ausgeglichenes Kind ist. Und ich solle einmal abwarten, was erst in ein paar Jahren noch auf uns zukommen werde. Ich sollte mit meiner Frau offen über meine Befürchtungen sprechen. Ich sollte mit ihr über das reden, was einigen aus meiner Familie, darunter meiner Mutter, widerfahren ist. Ich sollte ihr sagen, was mit mir selbst los ist. Doch es ist einfacher, sich einzureden, dass ich mir völlig unnötig Gedanken mache, dass alles in Ordnung ist, dass wir eine ganz normale Familie sind. In jeder Familie gibt es unschöne Geheimnisse. Auch Geheimnisse, die ein Familienmitglied vor den anderen verbirgt. Um die Familie nicht zu zerstören.

Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt. Im Grunde genommen ist es unwichtig, den Auslöser zu kennen, denn ändern kann ich den Lauf der Ereignisse sowieso nicht mehr. Aber wenn ich die vergangenen Geschehnisse schon nicht ändern kann, will ich sie wenigstens verstehen. Und so dreht sich die Gedankenspirale endlos weiter. Wenn dies nicht geschehen wäre, wäre das nicht passiert, und wenn sich das nicht ereignet hätte, hätte es jenes nicht zur Folge gehabt ...

Sie war meine Königin

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