Читать книгу Sie war meine Königin - Janina Hoffmann - Страница 4
1. Kapitel
ОглавлениеWir waren keine Durchschnittsfamilie. Das war mir schon früh klar. Zunächst einmal waren wir weitaus wohlhabender als andere Familien. Die Häuser, in denen meine Klassenkameraden wohnten, waren um einiges kleiner als die weiße zweistöckige Villa, in der ich mit meinen Eltern und meiner ein Jahr jüngeren Schwester Melissa lebte, und in keinem der Gärten meiner Mitschüler gab es einen Swimmingpool wie in unserem. Das Wasser in dem großen Schwimmbecken, in dem mein Vater im Sommer hin und wieder frühmorgens seine Bahnen zog – in der kühleren Jahreszeit bevorzugte er das beheizte Schwimmbecken im Kellergeschoss -, war stets kristallklar, und nicht ein einziges Blatt schwamm auf der Oberfläche, nicht einmal eine tote Fliege. Dafür sorgte der Gärtner, der täglich mehrere Stunden lang vor Ort war, um den Garten, der eher einem Park glich, in Schuss zu halten.
Die Väter meiner Klassenkameraden hatten alle einen ziemlich geregelten Arbeitsalltag. Sie standen morgens früh auf, verließen das Haus, um Versicherungen zu verkaufen, tropfende Wasserhähne zu reparieren, am Fließband Maschinen zusammenzubauen, mit dem Bagger ein schon lange unbewohntes Gebäude abzureißen oder auf dem Fahrrad von Haus zu Haus zu fahren, um Briefe zuzustellen. Rechtzeitig zum Abendessen waren sie wieder zurück. Bei uns war das ganz anders. Mein Vater war ein erfolgreicher Anwalt in einer großen Kanzlei, die Niederlassungen in mehreren deutschen Großstädten hatte, unter anderem in jener, in deren beschaulichem Vorort wir lebten. Mein Vater stand nicht so früh auf wie die Väter meiner Klassenkameraden. Wenn meine Schwester und ich das Haus verließen, um uns auf den Weg zur Bushaltestelle zu machen, saß er noch seelenruhig am Tisch unserer geräumigen, für die Verhältnisse der 1980er Jahre sehr modernen Küche und las den Wirtschaftsteil einer der überregionalen Zeitungen, die er abonniert hatte. Den Rest der Zeitungen pflegte er, genauso wie die durchgelesenen Seiten, neben seinen Stuhl auf den Boden fallen zu lassen, wo die Haushälterin, die ungefähr zwei Stunden später mit ihrer Arbeit beginnen würde, das Papier aufheben und entsorgen könnte, wenn sie die Küche aufräumte. Mein Vater hatte meiner Mutter, die ebenfalls dazu bereit gewesen wäre, die Zeitungen zu entfernen, früh klargemacht, dass sie sich nicht um derart niedrige Aufgaben kümmern solle.
Mein Vater interessierte sich brennend dafür, wie die Aktienkurse in der ganzen Welt standen, welches Unternehmen demnächst mit welchem fusionieren würde, welcher Konzern kurz vor dem Konkurs stand. Die ganze Zeit während des Frühstücks verbarg mein Vater sich hinter einer seiner Zeitungen, während meine Mutter langsam auf ihrer dünn mit Diätmarmelade bestrichenen Toastscheibe herumkaute und nebenbei schweigend die Schulbrote für Melissa und mich zubereitete. Schweigend deshalb, weil mein Vater beim Lesen des Wirtschaftsteils der Zeitungen nicht gestört werden wollte. Wenn er sich auch sonst manchmal mit meiner Schwester und mir unterhielt, mochte er morgens kein albernes, unnötiges Geplapper, wie er es nannte. Das bedeutete auch für Melissa und mich, dass wir unsere Cornflakes, ohne kaum ein Wort zu sagen, zu uns nahmen, um unseren Vater nicht zu verärgern. Dabei ließ sich mein Vater gar nicht schnell verärgern, zumindest zeigte er seinen Ärger nicht auf die Weise, wie es die Väter meiner Schulfreunde taten. Er wurde nicht laut oder gewalttätig. Noch nie hatte ich es erlebt, dass er wie der eine oder andere Vater meiner Klassenkameraden herumgeschrien oder meine Schwester oder mich geschlagen hätte. Schreien und Gewalt seien etwas für Schwächlinge, die nicht intelligent genug zum Argumentieren seien, lautete die Ansicht meines Vaters. Dabei war er ein Meister psychischer Gewalt, wenn mir das damals auch noch nicht bewusst war. Er verstand es, eine stille Autorität auszustrahlen, die niemand infrage stellte, im Gegenteil: Alle, die ihm begegneten, ordneten sich ihm instinktiv unter.
Meine Mutter war ebenfalls eine ruhige Person, wenn auch aus einem anderen Grund. Bevor sie meinen Vater geheiratet hatte, hatte sie nach einem Kunststudium in einem Auktionshaus gearbeitet, wo sie ihr umfangreiches Wissen auf diesem Gebiet nutzen konnte, und Umgang mit wohlhabenden Kunstliebhabern gepflegt. Dort hatte sie auch meinen Vater kennengelernt, der, obwohl er noch am Anfang seiner vielversprechenden Karriere gestanden hatte, schon einmal Ausschau nach nicht zu versteuernden Geldanlagen gehalten hatte, aber erst einige Jahre später, als er schon mit meiner Mutter verheiratet war, hin und wieder Gemälde ersteigerte, von denen er sich eine Wertsteigerung erhoffte. Wenn meine Mutter über die erste Begegnung mit meinem Vater und ihre Arbeit in dem Auktionshaus sprach, was selten vorkam, wurde stets deutlich, wie sehr sie ihre Tätigkeit geliebt hatte und dass sie ihr fehlte. Jedoch beeilte sich meine Mutter jedes Mal zu versichern, dass es für sie kein großes Opfer gewesen sei, ihren Beruf auf Wunsch meines Vaters an den Nagel zu hängen, der eine Frau wollte, die nur für ihn und die zukünftigen Kinder da war und der Familie ein gemütliches Zuhause bot. Anders als es die Mütter meiner Schulkameraden taten, putzte meine Mutter allerdings nicht selbst. Sämtliche unangenehmen Tätigkeiten wurden ihr von einer der beiden Haushälterinnen abgenommen, die täglich abwechselnd zu uns kamen.
Mein Vater sah es auch nicht ein, weshalb die Frau an seiner Seite berufstätig sein sollte, da er selbst doch mehr als genug verdiente. Meine Mutter verbrachte viel Zeit damit, die Zimmer in unserem Haus, die, obwohl sie alle möbliert waren, teilweise nicht genutzt wurden, umzudekorieren. Ein neuer Bodenbelag wurde verlegt, auch wenn der bisherige noch wie neu war, Wände neu tapeziert und gestrichen, Möbel und nicht wertvolle Bilder entsorgt, neue angeschafft und das gesamte Mobiliar immer wieder umgestellt, bis meine Mutter mit dem Aussehen des Raums zumindest für eine Zeitlang zufrieden war. Dann begann sie erneut, einen Renovierungsauftrag zu planen, der der Villa das richtige Flair geben würde. Ständig waren Handwerker in unserem Haus, die anscheinend nie fertig wurden. Dieses ungewöhnliche Hobby meiner Mutter kostete sicher viel Geld, doch davon war ja durch die Arbeit meines Vaters genügend vorhanden. Ich erlebte es nie, dass er die Ausgaben meiner Mutter kritisierte oder sie darauf hinwies, dass es nicht nötig sei, die Zimmerwände fast jährlich neu zu tapezieren. Andererseits zeigte er aber auch keinerlei Interesse an ihren Vorschlägen für eine Verschönerung der Räume. „Du machst das schon“, wiegelte er ab, wenn sie ihm Kataloge mit Farbmustern zeigen wollte, und gab ihr nicht nur auf diese Weise zu verstehen, dass es in seinem Leben weitaus Wichtigeres als Tapetenmaterial und Bodenfliesengrößen gab.
Wenn meine Mutter nicht gerade unser Haus verschönerte oder unserem Gärtner Ideen für die Neugestaltung unseres Gartens unterbreitete, diskutierte sie mit Mitgliedern einer festen Runde, die sich zweimal wöchentlich im Gemeindehaus traf, über philosophische Themen wie den Sinn des Lebens. Und sie widmete sich Wohltätigkeitsprojekten. Gern organisierte meine Mutter zusammen mit Mitgliedern des Diskussionskreises Basare, deren Einnahmen einem Kinder- oder Tierheim gespendet werden sollten. Sie half mit, Lebensmittel für eine Suppenküche zu sammeln, die Bedürftige mit Mahlzeiten versorgte. Und in der Vorweihnachtszeit ging sie mit ihren Diskussionskreisfreunden von Tür zu Tür, berichtete denen, die ihr öffneten, vom Elend in der Welt und bat um Geldspenden für arme Länder.
Meiner Schwester Melissa und mir pflegte meine Mutter mit Begeisterung von erfolgreichen Basaren und Spendenaktionen zu berichten, die ihr so viel bedeuteten. War mein Vater anwesend, was selten vorkam, sprach sie diese Dinge nicht an. Hatte sie dies anfangs noch getan, hatte die Art, mit der mein Vater bei solchen Themen seine Augenbraue hob, sie bald gelehrt, dass es besser sei, stattdessen zusammen mit Melissa und mir höflich zuzuhören, wenn mein Vater von dem erfolgreichen Abschluss eines Mandats erzählte, wobei meine Schwester und ich wegen der vielen Fachtermini, die mein Vater dabei verwendete, kaum ein Wort verstanden.
In den zehn Jahren ihrer bisherigen Ehe hatte es mein Vater auf subtile Art erfolgreich geschafft, das Selbstbewusstsein meiner Mutter zu untergraben, ihr das Gefühl zu geben, sie könne froh sein, dass er überhaupt jemanden wie sie, die offensichtlich so weit unter seinem eigenen Niveau war, zur Frau gewählt hatte. Je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, dass er zu dieser Zeit überhaupt kein Interesse an einer starken Frau hatte. Mein Vater wollte damals jemanden an seiner Seite, der ihn bewunderte, dem er ständig seine Überlegenheit demonstrieren konnte. Er hingegen behandelte meine Mutter all die Jahre mit emotionaler Kälte, bis er ihrer irgendwann überdrüssig war und in ihr wohl nur noch ein lästiges Anhängsel sah, das es loszuwerden galt. Ich erfuhr nie, was wirklich in meiner Mutter vorging, als mein Vater sie für eine andere, selbstbewusstere Frau verließ, und zwar genau zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter ihn am meisten gebraucht hätte.
Solange ich mich zurückerinnern kann, tat meine Mutter alles, um den hohen Ansprüchen meines Vaters gerecht zu werden. Dazu gehörte auch, dass sie auf nahezu krankhafte Weise auf ihre Figur achtete. Meine Mutter maß einen Meter achtzig und war damit fast so groß wie mein Vater. Sie hatte rotblondes kurzes Haar, das sie, wie es zu der Zeit Mode war, zu einer bauschigen Frisur föhnte, und hellbraune Augen. Ihre Nase war etwas spitz. Trotzdem war sie meiner Ansicht nach eine sehr schöne Frau. Wie ich von alten Fotos wusste, war meine Mutter schon als junges Mädchen schlank gewesen. Trotzdem bildete sie sich ein, überflüssige Pfunde verlieren zu müssen, und hielt sich daher ständig streng an irgendwelche Diäten, die sie einer der Frauenzeitschriften, die sie gern las, entnommen hatte und die völlig unrealistische Abnehmerfolge in kürzester Zeit versprachen. Nach dem Ende einer solchen Diät hatte meine Mutter die mühsam verlorenen Pfunde nach eigener Aussage schnell wieder zugenommen – man sah es ihr nämlich keineswegs an – und musste die nächste Diät beginnen, um der „Verfettung“, wie sie es nannte, Einhalt zu gebieten. Nicht zuletzt aufgrund ihrer schlanken Figur hatte meine Mutter auch eine ihrer Ansicht nach zu geringe Oberweite, über die sie sich meinem Vater gegenüber so lange beklagte, bis er ihr zum zehnten Hochzeitstag endlich eine kostspielige Brustvergrößerung bei einem bekannten Schönheitschirurgen schenkte.
Meine zu der Zeit achtunddreißigjährige Mutter war, nachdem die Verbände endlich abgenommen worden waren, überglücklich über ihre neuen Brüste und den anerkennenden Kommentar meines Vaters: „Die Investition hat sich gelohnt. Du siehst aus wie neu.“
Ich hingegen fand, dass meine Mutter fortan aussah, als hätte sie sich zwei Orangen unter ihr Oberteil gesteckt, wenn ich mich auch davor hütete, das laut auszusprechen. Meine Mutter war nämlich keine sehr kritikfähige Person. Ein falsches Wort über ihre neuen Brüste, wenn auch im Scherz, und sie wäre am Boden zerstört gewesen.
Dass mein Vater die nunmehr umfangreichere Oberweite meiner Mutter zu schätzen wusste, hielt ihn jedoch nicht davon ab, weiterhin seinen außerehelichen Affären nachzugehen, ein Hobby, das ihm fast genauso wichtig war wie seine zeitintensive Tätigkeit als Anwalt und bei dem er sich nicht besondere Mühe gab, es vor seiner Frau zu verbergen. Mein zu der Zeit neununddreißigjähriger Vater hatte dunkelblondes Haar, das bereits Geheimratsecken erkennen ließ, und graue Augen, die mitunter sehr kalt, insbesondere der Damenwelt gegenüber aber auch sehr charmant, wirken konnten. Er war ein attraktiver Mann mit einer sportlichen Figur, noch dazu sehr erfolgreich, und das nutzte er gegenüber jüngeren Frauen, die ihn vorrangig interessierten, gnadenlos aus. Mehr als einmal klingelte bei uns zu Hause das Telefon, und wenn meine Mutter, Melissa oder ich uns meldeten, wurde wortlos aufgelegt. Ging mein Vater, wenn er denn einmal zu Hause war, an den Apparat, beendete er das Telefonat oft mit einem Satz wie „Ich kann jetzt nicht“ oder „Ich rufe dich später zurück“. Anschließend kehrte er zurück zu uns an den Esstisch oder vor den Fernseher, als wäre nichts gewesen. Mein Vater hatte aufgrund seines Berufs sowieso lange Arbeitstage. Manchmal kam er abends, bevor Melissa und ich im Bett waren, nach Hause, um anschließend noch einmal zu einem Termin aufzubrechen. Meistens schliefen meine Schwester und ich jedoch schon längst, wenn mein Vater spätabends aus dem Büro oder von einer seiner Geliebten zurückkehrte.
Oft merkte ich nur an der Traurigkeit meiner Mutter am nächsten Tag, dass zwischen ihr und meinem Vater etwas vorgefallen war. Dass er sie offensichtlich regelmäßig betrog, erfuhr ich kurz vor meinem neunten Geburtstag, als ich mitten in der Nacht erwachte und meine Eltern aufgrund der offensichtlich nicht geschlossenen Tür ihres Schlafzimmers, das schräg gegenüber von meinem Zimmer lag, streiten hörte.
„Die Sitzung hat eben länger gedauert als erwartet“, teilte mein Vater meiner Mutter sachlich mit. „Ich habe dir ja gesagt, dass es spät werden kann.“
Es war ihre vor Aufregung schrille Stimme, die mich geweckt hatte. „Bis zwei Uhr nachts?“, fragte sie. „Du willst mir ernsthaft weismachen, dass ihr bis zwei Uhr nachts verhandelt habt?“
„Ja, bis zwei Uhr nachts. So ist das nun mal in Vertragsverhandlungen.“ Der Tonfall meines Vaters wurde zunehmend gereizt. „Oder erwartest du etwa, dass ich einfach aufstehe und allen anderen mitteile, ich müsse jetzt leider nach Hause, weil meine hysterische Frau sonst durchdreht?“
„Du bist herzlos“, schniefte meine Mutter. „Herzlos und gemein.“ Dann nach einer kurzen Pause: „Wie heißt sie?“ Als mein Vater nicht darauf antwortete, wiederholte meine Mutter in einem unangenehm keifenden Tonfall: „Wie sie heißt, habe ich dich gefragt! Und ist es wieder so eine Junge wie beim letzten Mal?“ Weinend fuhr meine Mutter fort: „Ist es wieder so ein blutjunges Ding, mit dem du mich betrügst?“ Mein Vater dachte offenbar nicht daran, sich weiter an dem Gespräch zu beteiligen. Meine Mutter flehte: „Bitte sprich mit mir, Konrad! Bitte, bitte, sprich mit mir! Sag mir, was ich anders machen soll, damit du nicht mehr zu anderen Frauen gehst. Sag mir, wie ich dich glücklich machen kann.“
Das Geräusch der Schlafzimmertür, die energisch geschlossen wurde, und Schritte auf dem Flur verrieten mir, dass mein Vater in dieser Nacht nicht zum ersten Mal in einem der Gästezimmer schlafen würde.
Nach solchen Vorfällen kam mir meine Mutter jedes Mal wie ein Roboter vor, was sicherlich daran lag, dass sie, um mit der erniedrigenden Situation fertigzuwerden, irgendein Beruhigungsmittel einnahm. Sie stand pflichtbewusst auf wie immer, saß mit uns am Frühstücktisch, während mein Vater sein Gesicht hinter einer seiner Zeitungen verbarg, schmierte Schulbrote für Melissa und mich und bestand wie immer darauf, meine Schwester und mich, wenn es Zeit war, zur Bushaltestelle aufzubrechen, bis an die Straße zu begleiten, von wo sie uns nachsah, bis wir die Bushaltestelle, die sich in Sichtweite von unserem Grundstück befand, erreichten und in den Bus, der einige Minuten später eintraf, einstiegen. Während der ganzen Zeit hatte meine Mutter jedoch einen leeren Blick und einen traurigen Gesichtsausdruck. Oft legte sie sich an solchen Tagen, nachdem sie gemeinsam mit Melissa und mir zu Mittag gegessen hatte, wobei meine Mutter die meiste Zeit in dem von der Haushälterin zubereiteten Essen herumzustochern pflegte, statt es zu sich zu nehmen, ins Bett. Der Haushälterin, meiner Schwester und mir teilte sie nur mit, sie fühle sich nicht wohl und müsse sich dringend ausruhen. Mir als dem Älteren trug sie auf, darauf zu achten, dass meine Schwester und ich sorgfältig unsere Hausaufgaben erledigten, bevor wir spielen gingen. Dann stand sie vom Esstisch auf und begab sich wie eine Schlafwandlerin in den ersten Stock, wo sich das Schlafzimmer meiner Eltern befand. Unsere Haushälterin Frau Hubertus, zu der Zeit eine etwa fünfzigjährige Frau, die stets dieselbe Jeans und dazu einen ihrer drei Pullover trug, sah unserer Mutter mit einem vielsagenden Blick nach, bevor sie Melissa und mir mit den aufmunternden Worten Mut zu machen versuchte: „Wenn ihr bei euren Hausaufgaben was nicht versteht, könnt ihr ruhig mich fragen. Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann, aber ich versuch‛s.“
Melissa nahm es stets genauso sehr mit wie mich, wenn bei uns der Haussegen schief hing und meine Mutter sich in dieser beunruhigend melancholischen Stimmung befand. Im Sommer 1984, als sich mein Leben schlagartig änderte, war meine Schwester acht und ich neun Jahre alt. Nach Melissas Ansicht waren wir fast Zwillinge und sollten gleichrangig behandelt werden, doch ich bestand darauf, dass ich ihr älterer Bruder sei, entsprechend respektiert werden müsse und bestimmen dürfe, was gemacht wurde. Ich mochte meine Schwester. Es war vermutlich etwas ungewöhnlich, wenn ein neunjähriger Junge so von seiner Schwester dachte, und ich bemühte mich daher, Melissa stets mit einer gewissen Herablassung zu behandeln, genauso wie es mein Vater gegenüber meiner Mutter tat. Doch ich mochte meine Schwester. Ich mochte sie wirklich. Und nur deshalb ließ ich mich an Tagen wie diesen, an denen meine tieftraurige Mutter nicht mehr die Energie aufbrachte, sich um meine Schwester und mich zu kümmern, dazu herab, nach den Hausaufgaben mit Melissa ihr Lieblingsspiel zu spielen: „Prinzessin und Aristokrat“. Es war ein völlig dämliches Spiel, das sich meine Schwester selbst ausgedacht hatte. Sie spielte natürlich die Prinzessin. Dafür zog sie ein langes Rüschenkleid aus einem rosafarbenen glänzenden Stoff an, das sie zwei Jahre zuvor beim Fasching getragen hatte und ihr nun bereits etwas zu klein war, positionierte eine goldfarbene Krone aus irgendeinem billigen Leichtmetall auf ihrem Kopf, nachdem sie ihr langes dunkelblondes Haar sorgfältig gebürstet hatte, hängte sich ihre „Prinzessinnentasche“ - eine kleine Handtasche aus türkisfarbenem Kunstleder, die mit vielen bunten Glassteinen verziert war - um, und nahm auf einem rosafarbenen Kinderstuhl Platz, den sie auf ihr Bett gestellt hatte und der ihren Thron darstellte. Bei der ganzen Vorbereitungsprozedur durfte ich nicht dabei sein, sondern wurde erst gerufen, wenn es für Melissa Zeit war, auf ihr Bett zu steigen und sich auf ihren Thron zu setzen. Ich hatte mir derweil eine Wildlederweste – Teil des Kostüms einer Faschingsfeier, bei der ich als Cowboy gegangen war – über mein Oberteil übergezogen und trug den dazugehörigen Cowboyhut, da dies die mir verfügbaren Accessoires waren, die einer Aristokratenkleidung meiner Ansicht nach am nächsten kamen und Melissas vollste Zustimmung fanden.
Meine Schwester spielte also die heiratswillige Prinzessin und ich den Aristokraten, der aus einem fernen Land angereist war, um um ihre Hand anzuhalten. Dabei war es nicht damit getan, sie einfach zu fragen, ob sie mich heiraten wolle. Nein, erst einmal musste ich diverse Quizfragen beantworten, die meine Schwester auf ihrem Thron sitzend den Karten eines Gesellschaftsspiels entnahm und in würdevollem Tonfall verlas. Hatte ich zumindest einige der Fragen richtig beantwortet, musste ich der Prinzessin, um ihre vollständige Zuneigung zu erlangen, Geschenke machen. Das waren dann irgendwelche Sachen, die ich aus meinem Zimmer anschleppte und gegenüber der Prinzessin anpries, bis sie irgendwann endlich einwilligte, meine Frau zu werden, von ihrem Thron herabstieg und mich innig umarmte. Bis dahin konnte ein ganzer Nachmittag vergehen. Ich hasste dieses Spiel und war jedes Mal froh, wenn es wieder einmal überstanden war. Aber Melissas glücklicher Gesichtsausdruck, nachdem die Prinzessin endlich ihren Bräutigam gefunden hatte, verleitete mich dazu, mich stets aufs Neue dazu überreden zu lassen, den verliebten Aristokraten zu mimen.
Es konnte einige Tage dauern, bis meine Mutter ihr Tief überwunden hatte. Anschließend war sie dann geradezu euphorischer Stimmung und bestand darauf, gemeinsam mit Melissa und mir etwas Schönes zu unternehmen. Meistens fuhren wir dann, da meine Mutter keinen Führerschein besaß, mit dem Bus in die Stadt, streiften durch die Geschäfte und gaben jede Menge Geld aus. Meine Mutter investierte dabei gern in ihre Schönheit und erstand diverse Kosmetikartikel, während Melissa und ich uns Spielsachen aussuchen durften und manchmal auch komplett neu eingekleidet wurden.
An einem Tag zu Beginn der Sommerferien wollte meine Mutter einem gerade neu eröffneten Friseursalon gemeinsam mit meiner Schwester und mir einen Besuch abstatten. Normalerweise ließ sie sich in einem teuren Salon in der Großstadt frisieren, doch nun gab es seit einigen Wochen in unserem Vorort einen Salon mit dem Namen „Engelshaar“, und einige Mitglieder des Diskussionskreises, den meine Mutter besuchte, hatten bereits angekündigt, sich dort frisieren lassen zu wollen. Die Besitzerinnen des Friseursalons waren nach Auskunft der Diskussionskreismitglieder zwei italienische Schwestern, die angeblich ein bisher unbekanntes, modernes Flair verbreiten. Wer wie meine Mutter dem neuesten Trend folgte, musste also unbedingt Kundin im Salon „Engelshaar“ werden.
Melissa wollte, als sie von dem anstehenden Friseurbesuch erfuhr, zunächst nicht mitkommen. Sie hatte von allen Mädchen an der Schule nämlich die längsten Haare, und das sollte unbedingt so bleiben. Erst als unsere Mutter ihr versprach, dass nicht mehr als zwei Zentimeter abgeschnitten würden, willigte sie schließlich ein. Von meiner eigenen Haarlänge konnte ich durchaus mehr entbehren. Mein Schopf war inzwischen so lang, dass mir der Rundschnitt fast bis zu meinem Kinn reichte, was zu der Zeit langsam unmodern wurde. Leider hatte ich nicht nur die hellbraunen Augen, sondern auch den rotblonden Haarton von meiner Mutter geerbt. Letzterer brachte mir an der Schule den Spitznamen „Karottenkopf“ ein, was mich dermaßen störte, dass ich bereits ernsthaft darüber nachgedacht hatte, meine Mutter zu bitten, mir eine Haarfärbung zu spendieren. Vermutlich wegen meiner unliebsamen Naturhaarfarbe machte ich mir wie Melissa nicht viel aus Friseurbesuchen, weshalb mein Haarschnitt einen so vernachlässigten Eindruck machte. Außerdem war mir die durch die ständig laufenden Trockenhauben und Föhne stickige Luft im Friseursalon zuwider, genauso wie der Geruch nach Haarspray und Färbemitteln, der mich dort umgab. Dazu kam noch das angeregte Geschnatter der Kundinnen mit den Friseurinnen über die unwichtigsten Dinge, denn leider musste ich mit meiner Mutter einen Damensalon besuchen. Mein Vater nahm mich nämlich nie mit, wenn er sich die Haare kürzen ließ. Mein Haarschnitt war immer recht schnell erledigt, genauso wie der von Melissa, bei der sowieso nur die äußersten Spitzen fallen durften. Dafür dauerte es bei unserer Mutter umso länger. Sie ließ sich gern ausgiebig zu neuen Trends beraten, um letztlich bei ihrer derzeitigen Frisur und ihrer Naturhaarfarbe zu bleiben, während meine Schwester und ich bereits ungeduldig darauf warteten, endlich aufbrechen zu können. Zwischendurch nach draußen zu gehen, war Melissa und mir strengstens verboten, weil uns unsere Mutter stets im Blick behalten wollte. Dass sie uns noch wie Babys behandelte, war wirklich anstrengend.
An dem besagten Nachmittag Anfang der Sommerferien marschierte ich lustlos neben meiner Mutter und Melissa zu dem neuen Friseursalon „Engelshaar“, der einen etwa fünfzehnminütigen Fußweg entfernt von unserem Haus lag. Zumindest blieb mir die lange Busfahrt in die Stadt erspart. Wenn wir den bisherigen Lieblingssalon meiner Mutter besuchten, verging mit Hin- und Rückfahrt immer der ganze Nachmittag. Vielleicht würde ich so nachher noch Gelegenheit haben, meinen Freunden ausnahmsweise, wenn meine Mutter es erlaubte, beim Angeln an einem See Gesellschaft zu leisten, falls sich bei dem miesen Wetter dort heute überhaupt jemand aufhielt. Zum Baden war es sowieso zu kalt. Der Himmel war schon seit Tagen grau, und hin und wieder gab es einen kräftigen Regenschauer. Meine Mutter hatte sicherheitshalber einen kleinen Schirm in ihre Handtasche gesteckt. Dass Melissa und ich womöglich nass werden könnten, hätte sie wohl in Kauf genommen, doch fände sie es sehr ärgerlich, wenn ihre aufwendig geföhnten Haare durch den Niederschlag in Mitleidenschaft gezogen würden.
Der neu eröffnete Friseursalon sah von außen aus wie jeder andere auch. Neben der gläsernen Eingangstür gab es ein Schaufenster, in dem Haarpflegeprodukte sowie Perücken ausgestellt wurden und außerdem mehrere große Fotos hingen, die Köpfe von Fotomodellen mit den neuesten Frisurentrends zeigten. Über der Tür stand in gelber Leuchtbuchstabenschreibschrift das Wort „Engelshaar“. Was für ein dämlicher Name. Doch hatten das nicht viele Friseursalons?
Melissa und ich betraten nach unserer Mutter den Salon, in dem es angenehm warm und keineswegs stickig war. Ein zitronenartiger Duft lag in der Luft, der so anders war als der widerwärtige Chemiegeruch der Haarpflegemittel, den ich von anderen Friseurbesuchen gewohnt war. Eine junge Frau mit blondem Haar, das streng in der Mitte gescheitelt zu einem Zopf zusammengebunden war, stand in einem sonnengelben Kittel hinter dem Empfangstresen und lächelte uns an, bevor sie uns freundlich begrüßte. „Hallo. Herzlich willkommen.“ Es klang so, als hätte sie uns schon ewig voller Sehnsucht erwartet.
„Hallo“, erwiderte meine Mutter sachlich. „Marianne Hart. Ich hatte angerufen. Das sind meine Kinder Constantin und Melissa.“ Sie wies auf meine Schwester und mich.
Ich fand es seltsam, dass sie der Friseurin unsere Namen mitteilte. Was ging es sie an, wie die Kinder hießen, denen sie die Haare schnitt? Die Friseurin schien das nicht zu verwundern. „Hallo ihr zwei“, wandte sie sich an Melissa und mich. „Ich heiße Emily. Möchtet ihr einen Lolli?“ Emily zeigte auf einen bauchigen Glasbehälter, der auf dem Empfangstresen stand und bunt eingewickelte Lutscher enthielt.
„Nein, danke“, lehnte meine Mutter ab, bevor Melissa und ich den Mund aufmachen konnten. „Zucker macht dick und schadet den Zähnen.“
Emily ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Na ja, vielleicht später?“, lenkte sie ein und zwinkerte Melissa und mir zu. Mir fiel auf, dass sie so unnatürlich runde Brüste wie meine Mutter hatte. Vielleicht hatte sie denselben Schönheitschirurgen besucht. „Möchtet ihr ablegen?“ Sie wies einladend auf den Garderobenständer, der in einer Ecke stand und an dem schon einige Jacken untergebracht waren.
Ich sah dem pikierten Gesichtsausdruck meiner Mutter an, dass es ihr nicht passte, ungefragt geduzt zu werden. Dennoch antwortete sie höflich: „Gern.“ Sie zog ihren eleganten beigen Trenchcoat aus und Melissa und ich unsere Kordjacken, dasselbe Modell, nur war Melissas rot und meine dunkelblau. Unsere Mutter betonte gern durch ähnliche Kleidungsstücke die Tatsache, dass Melissa und ich fast gleichaltrige Geschwister waren. Wären wir gleichgeschlechtlich gewesen, hätte sie uns vermutlich wie eineiige Zwillinge völlig gleich angezogen.
„Dann kommt mal mit“, forderte uns Emily auf, nachdem unsere Jacken an der Garderobe untergebracht waren, und führte uns in den Raum nebenan, in dem zwei dunkelhaarige Friseurinnen damit beschäftigt waren, sich um vier bereits anwesende männliche und weibliche Kunden zu kümmern. Ein gemischter Salon. So etwas hatte ich noch nie gesehen und gefiel mir auf Anhieb. Endlich hatte ich nicht mehr das Gefühl, als Junge in einem Damensalon fehl am Platze zu sein. Vier weitere Friseurstühle auf der gegenüberliegenden Seite, die wie die übrigen vor einer Wand standen, deren obere Hälfte komplett verspiegelt war, waren noch frei. Emily lud uns mit einer Geste ein, am Fenster in der Sitzecke aus braunen Kunstledersesseln Platz zu nehmen, wo bereits ein junger Mann in einer Zeitschrift blätterte, die er vermutlich von dem niedrigen Tisch genommen hatte, auf dem alle möglichen Magazine wild durcheinanderlagen. „Macht es euch noch ein bisschen bequem“, schlug Emily uns vor. „Möchtet ihr etwas trinken? Wir haben einen vorzüglichen Espresso und für unsere kleinen Gäste Kakao.“
„Nein, danke“, lehnte meine Mutter in formellem Tonfall ab. Wer sie wie ich gut kannte, wusste, dass dieser Friseursalon aufgrund des vertrauten Umgangstons und der anwesenden Männer in ihren Augen noch vor dem ersten Einsatz der Schere bereits durchgefallen war.
„Okay“, gab Emily sich freundlich zufrieden. „Dann guckt euch doch ein bisschen den Lesestoff an. Es ist für jeden was dabei.“ Sie machte Melissa und mich auf ein Wandregal, das neben den Sesseln angebracht war, aufmerksam. „Hier gibt‛s auch etwas für unsere kleinen Gäste.“ Zu dem jungen Mann, vor dem auf der einzig noch freien Tischfläche eine leere Espressotasse samt Untertasse stand, sagte sie: „Deine Mutter ist sicher gleich fertig. Darf ich deine Tasse mitnehmen?“
Der junge Mann nickte, und Emily verschwand mit dem Geschirr zurück in den Empfangsraum.
Ich warf zusammen mit meiner Schwester einen Blick auf den Inhalt des Regals, während sich unsere Mutter setzte. „Wow, Astronauten-Comics!“, rief ich begeistert und hielt meiner Schwester eines der Hefte entgegen.
Melissa rümpfte nur ablehnend ihre Nase und nahm sich stattdessen ein Comic-Heft, das von Abenteuern auf einem Ponyhof handelte. Wir setzten uns mit den ausgewählten Heften auf zwei Sessel neben unsere Mutter. Der junge Mann legte die Zeitschrift, in der er geblättert hatte, auf den Tisch, um sich auch einen Astronauten-Comic aus dem Regal zu nehmen. Ich war schnell in die spannende Weltallgeschichte vertieft und erschrak etwas, als eine weibliche Stimme mit einem südländischen Akzent freundlich fragte: „So, wollen wir mit der Mama anfangen?“
Ich blickte auf. Vor uns stand eine der beiden Friseurinnen, die bei unserem Eintreffen bereits mit mehreren Kunden beschäftigt gewesen waren. Eine der Kundinnen, eine übergewichtige ältere Dame, verließ gerade mit dem jungen Mann, der in der Sitzecke gewartet hatte, an ihrer Seite den Raum.
„Ich bin Angelina Angelo“, sprach die Frau weiter, deren Kopf voller dunkelbrauner Locken war, die sie sich mit einem rot gemusterten Band aus der Stirn hielt. „Der Salon gehört mir zusammen mit meine sorella. Ich meine: mit meine Schwester Sabrina.“
Bei der Nennung ihres Namens sah die andere Friseurin von ihrer Arbeit auf, blickte lächelnd in unsere Richtung und entblößte dabei weiße Zähne. Sie sah fast genauso aus wie ihre Schwester, nur älter. Ich schätzte Sabrina auf Ende dreißig, so alt wie meine Mutter, während Angelina sicher noch in den Zwanzigern war. Beide Schwestern trugen wie Emily gelbe Kittel, die zwar bequem saßen, ihre schlanke Figur jedoch nicht verbargen. Beide hatten ein hübsches Gesicht und große braune Augen, die dunkler als meine und die meiner Mutter waren. Sabrina trug ihr ebenfalls lockiges dunkles Haar schulterlang. Doch Angelina war eindeutig die Schönere von beiden, entschied ich für mich.
„Du sprichst so komisch“, stellte Melissa unverblümt fest. Neugierig wollte sie wissen: „Seid ihr Italiener?“
„Sì“, bestätigte Angelina lächelnd. „Wir kommen aus Italia, leben aber schon seit Jahren in Deutschland.“
„Ihr Deutsch ist sehr gut“, fühlte sich unsere Mutter anscheinend gezwungen, etwas Nettes zu dem Gespräch beizutragen.
„Oh danke, danke!“, erwiderte Angelina herzlich lachend. „Aber ich weiß: Es stimmt nicht. Ich mache zu viele Fehler. Deutsch ist eine sehr schwere Sprache.“
Sie hatte eine wunderbar offene Art zu lachen, die tief aus ihrem Herzen zu kommen schien. Noch nie hatte ich meine Mutter so lachen hören.
Meine Mutter erhob sich, ohne auf den Kommentar der Friseurin zu deren Deutschkenntnissen einzugehen. „Ja, fangen Sie gern mit mir an.“
„Komm mit und such dir den Stuhl aus, der dir am liebsten ist“, lud Angelina sie, weiterhin ungeniert beim Du bleibend, ein.
Mit leicht verkniffenem Mund nahm meine Mutter auf einem der Friseurstühle Platz.
„Was hast du dir vorgestellt?“, hörte ich Angelina sie fragen, während sie meiner Mutter einen Friseurumhang umlegte. „So wie bisher, oder hast du Lust, etwas Neues auszuprobieren?“
„Einfach nur etwas kürzen, bitte“, gab meine Mutter zurück. „Ohne waschen.“ Sie wollte es schnell hinter sich bringen.
Emily betrat mit einer neuen Kundin den Raum und legte dieser, nachdem sich die Kundin gesetzt hatte, ebenfalls einen Umhang um.
„Wären meine Kinder nicht zuerst an der Reihe?“, fragte meine Mutter unfreundlich. „Oder geht es hier nicht der Reihe nach? Wir haben außerdem nicht viel Zeit.“
War das peinlich. Hier waren alle so nett, und meine Mutter machte alles kaputt.
Angelina legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Sorgen. Deine Kinder kommen gleich dran. Wir haben sie nicht vergessen.“ Sie lachte wieder.
Ich sah den unentspannten Gesichtsausdruck meiner Mutter im Spiegel. Sie war bemüht, ihre Fassung nicht zu verlieren.
„Emily kümmert sich jetzt um dich“, teilte Angelina meiner Mutter mit. „Und ich schneide die Haare von deine beiden süße Kinder.“ Sie forderte Melissa und mich mit einer Handgeste auf, zu ihr zu kommen.
Meine Schwester las längst wieder in ihrem Ponyhof-Comic.
„Melissa“, machte ich sie ungeduldig aufmerksam. „Es geht los.“ Aus einem mir nicht erklärlichen Grund konnte ich es nicht erwarten, mir von Angelina Angelo die Haare schneiden zu lassen.
„Ja, gleich“, gab Melissa zurück, ohne von ihrem Heft aufzusehen.
„Wie du willst.“ Ich ließ meine Schwester zurück und begab mich zu Angelina, die neben einem der Friseurstühle stehend auf mich wartete.
„Such dir einen schönen Platz aus, bambino.“
Ich musste nicht lange überlegen und wählte den Stuhl, der am weitesten von meiner Mutter entfernt war. Nachdem ich mich gesetzt hatte, pumpte Angelina den Stuhl mit einem Fußpedal ein Stück höher. Als sie mir den Friseurumhang umlegte, beugte sie sich zu mir herab und flüsterte in mein Ohr: „Du hast extra diesen Stuhl gewählt, bambino, nicht wahr? Weil du nicht bei deine grimmige Mama sitzen willst.“
Da roch ich zum ersten Mal Angelinas wunderbares Parfum, nach dem anscheinend der gesamte Salon duftete. Es war ein leichter Zitronenduft, ganz anders als dieses schwere teure Parfum mit der süßlichen Note, das meine Mutter benutzte.
Angelina wartete keine Antwort ab, sondern befestigte den Umhang in meinem Nacken. Mit ihrer Hand griff sie sanft in mein Haar. „Du hast wunderbare Haare“, sagte sie so leise, dass es meine Mutter nicht hören konnte. „So dick und kräftig. Hat dir das schon einmal jemand gesagt?“
Ich schüttelte den Kopf. „In der Schule nennen sie mich wegen meiner Haarfarbe ‚Karottenkopf‛“, gestand ich. Ich wusste selbst nicht, wieso ich Angelina das erzählte. Sie war doch praktisch eine Fremde für mich.
„Die anderen sind dumm, wenn sie das sagen“, versuchte sie, mir Mut zu machen. „Du hast wunderbare Haare. Erdbeerblond nennt man deine Haarfarbe. Wusstest du das? Sie ist etwas ganz Besonderes.“
Wieder schüttelte ich den Kopf.
„Mein Junge“, sie sprach das U langgezogen aus, „wird an der Schule auch geärgert, weil er schiefe Zähne hat und eine dicke Brille. Vielleicht wird es an seiner neuen Schule nach den Ferien ja besser.“
„Du hast einen Sohn?“, fragte ich erstaunt. Mir kam Angelina viel zu jung vor, um schon ein Kind im Schulalter zu haben.
„Oh ja“, bestätigte sie. „Er ist neun.“
„Ich bin auch neun“, erwiderte ich schnell, als wäre das eine bedeutsame Gemeinsamkeit.
„Dann geht ihr nach den Sommerferien ja vielleicht in dieselbe Klasse“, mutmaßte Angelina. „Guido kommt in die vierte.“
„Ich auch.“
„Vielleicht werdet ihr Freunde werden.“ Angelina nahm einen Kamm und fuhr damit vorsichtig durch mein Haar. „Wie kurz soll es werden?“, wechselte sie das Thema.
Normalerweise hätte ich jetzt gesagt, es könne ordentlich etwas abgeschnitten werden, damit ich erst einmal wieder monatelang nicht zum Friseur musste. Doch ich wollte möglichst bald wieder hierherkommen. „Nicht so viel“, antwortete ich daher vage.
„Ich weiß aber nicht, ob deine Mama damit einverstanden ist, wenn ich kaum etwas abschneide“, flüsterte mir Angelina verschwörerisch zu.
„Das ist mir egal“, gab ich ungewohnt rebellisch zurück.
„Mir auch“, pflichtete mir Angelina lachend bei.
Nach dem Schneiden hielt sie einen Handspiegel hinter meinen Kopf, damit ich das Ergebnis im Spiegel vor mir betrachten könnte. In der Tat sah mein Haar noch fast genauso aus wie vorher. Höchstens zwei Zentimeter fehlten.
„Es sieht toll aus“, lobte ich Angelinas Werk. „Vielen Dank.“
„Für dich immer gern“, gab sie freundlich zurück.
„Hoffentlich besuchst du unseren Salon bald wieder.“
Aus mir nicht erklärlichen Gründen begann mein Herz bei diesen Worten, etwas schneller zu schlagen. „Ja, ...“, stotterte ich. „Das hoffe ich auch.“
Angelina nahm mir den Umhang ab und senkte die Stuhlhöhe. „Und jetzt ist deine sorella an der Reihe.“
Auf dem Rückweg vom Friseur wollte ich über Angelina Angelo nachdenken, doch Melissa hinderte mich mit ihrem ständigen Geplapper über den Inhalt des Ponyhof-Comics, den sie soeben gelesen hatte, daran. „Also, da waren jedenfalls Mädchen, die wollten die Ponys stehlen“, fuhr meine Schwester mit ihrem Bericht fort. „Und dann haben sie ...“
Es fiel mir schwer, dem zu folgen, was Melissa von sich gab. Ich dachte an Angelina Angelo. Ihr schönes Gesicht. Ihr herzliches Lachen. Ihre braunen Augen. Ihre wunderbaren Locken. Den Zitronenduft ihres Parfums.
„Constantin!“, holte mich meine Schwester in die Gegenwart zurück. „Hörst du mir überhaupt zu?“
Als ich sie nur verständnislos ansah, wandte sie sich an unsere Mutter. „Hörst du mir denn wenigstens zu, Mama?“
„Natürlich, Schatz“, gab diese mit einem wie immer etwas gezwungen wirkenden Lächeln zurück. Es war so anders als das Lächeln von Angelina. Angelina ... Was für ein schöner Name.
„Du hättest ruhig mehr abschneiden lassen können, Constantin“, teilte mir meine Mutter unzufrieden mit, als wir unser Haus betraten. „Man sieht kaum, dass du beim Friseur warst. Aber die Friseurinnen in dem Salon waren auch so was von unfähig. Espresso servieren ist anscheinend das Einzige, was die da können. Das war das erste und letzte Mal, dass wir dort waren.“
Zwar wusste ich, dass es meiner Mutter in dem Salon „Engelshaar“ nicht gefallen hatte. Das hatte sie gegenüber Emily auch noch einmal dadurch deutlich gemacht, dass sie beim Bezahlen nicht einen Pfennig Trinkgeld gegeben hatte. Doch war es ein Schock, das jetzt aus ihrem Mund zu hören. Ich wollte doch Angelina Angelo so schnell wie möglich wiedersehen. „Kann ich mit dem Rad zum Angeln an den See fahren?“, bemühte ich mich, meine Enttäuschung vor meiner Mutter zu verbergen.
„Constantin, wie oft haben wir schon darüber gesprochen“, erwiderte meine Mutter in lustlosem Tonfall, während sie ihren Trenchcoat an die Garderobe hängte. „Ich will nicht, dass du dich in der Gegend herumtreibst.“
„Aber die anderen ...“, setzte ich protestierend an.
„Was die anderen machen, ist mir egal“, unterbrach meine Mutter mich. „Du kannst einen deiner Freunde nach Hause einladen. Oder ich bringe dich zum Spielen zu einem deiner Freunde. So, wie wir es bisher gemacht haben.“
„Aber ich bin kein Baby mehr!“, schrie ich. Ich hatte das starke Bedürfnis, meiner Verärgerung darüber, dass mich meine Mutter von Angelina fernhalten wollte, Luft zu machen. „Wie du mich behandelst, ist echt zu Kotzen! Die anderen lachen mich deswegen schon aus!“
„Constantin!“, wies mich meine Mutter zurecht. „Wie kannst du es wagen, so mit mir zu sprechen! Das werde ich deinem Vater erzählen, wenn er heute Abend nach Hause kommt.“
„Als ob Papa das interessiert!“, gab ich in demselben störrischen Tonfall wie zuvor zurück. „Als ob er dir überhaupt zuhört, wenn du ihm was erzählst!“
Dann rannte ich noch in Jacke und Straßenschuhen die Treppe hinauf in mein Zimmer und ließ die Tür geräuschvoll zufallen. Ich rechnete damit, dass meine Mutter mir folgen und mich weiter zurechtweisen werde. Doch das war nicht der Fall. Ich zog Jacke und Schuhe aus, legte mich auf mein Bett und starrte an die Decke, wo ein Mobile mit bunten Pappautos hing. Auch so ein Babykram, für den ich mich schon viel zu alt fühlte. Ich stellte mich auf das Bett, riss das Mobile aus der Befestigung und warf es in eine Ecke. Dann legte ich mich mit einer gewissen Genugtuung wieder hin. Ich ließ meine Gedanken zurück zum heutigen Nachmittag in den Salon „Engelshaar“ schweifen, ging alles noch einmal Schritt für Schritt durch. Für dich immer gern, hatte Angelina zu mir gesagt, als ich mich bei ihr bedankt hatte. Für dich immer gern. Für dich immer gern. Für dich immer gern.
Den ganzen Nachmittag dachte ich über die Italienerin nach. Als mich meine Mutter zum Abendessen rief, war ich bereits zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ich mich in Angelina Angelo verliebt hatte.
Beim von der Haushälterin zubereiteten Abendessen, das aus Hähnchenbrustfilet mit Reis und Broccoli bestand und das wir wie immer an dem massiven Mahagonitisch im geräumigen Esszimmer einnahmen, der ausgezogen zwölf Personen Platz bot, musste Melissa unbedingt unserem Vater, der für seine Verhältnisse früh zu Hause war, die Ponyhofgeschichte aus dem Comic-Heft erzählen, die sie während des Friseurbesuchs gelesen hatte. Mein Vater war an diesem Abend auffallend guter Laune, was vielleicht mit dem Termin zu tun hatte, zu dem er später noch aufbrechen musste, wie er uns zu Beginn des Essens mitgeteilt hatte. Außerdem war meine Schwester sein Liebling, und auch deshalb hörte er ihren Ausführungen geduldig zu.
„Aber am Ende wurden die Ponys doch noch wiedergefunden“, berichtete Melissa.
„Und hoffentlich wohlbehalten zurück zum Ponyhof gebracht“, mutmaßte mein Vater.
„Das weiß ich nicht“, gab meine Schwester zu. „Denn da war ich mit Haareschneiden dran und konnte nicht weiterlesen.“
„Viel wurde ja nicht abgeschnitten“, stellte mein Vater fest.
„Nein, und das ist auch gut so“, erwiderte Melissa. „So habe ich immer noch die längsten Haare an der Schule.“
„Die hat Constantin auch bald, wenn das so weitergeht“, warf nun meine Mutter ein, die bisher kaum einen Ton von sich gegeben hat. „Eigentlich hätte ich dafür gar nichts bezahlen sollen. Die Friseurinnen in diesem neuen Salon ‚Engelshaar‛ sind die Unfähigkeit in Person. Unverschämt grinsen ist das Einzige, was die können. Das war das erste und das letzte Mal, dass wir dort gewesen sind.“
Mich ärgerte es maßlos, wie meine Mutter über Angelina und ihren Salon sprach, doch ich hielt es für besser, mich nicht dazu zu äußern.
„Aber Liebling“, wandte mein Vater ein. Es klang seltsamerweise immer ironisch, wenn er meine Mutter mit einem Kosenamen ansprach. „Deinen Haarschnitt haben sie dort hervorragend hinbekommen.“ Er sah auf der Suche nach Bestätigung zu Melissa. „Stimmt‛s? Deine Mutter sah doch noch nie besser aus.“
Ich hatte das Gefühl, er wolle unsere Mutter auf den Arm nehmen.
„Mmmh“, pflichtete ihm meine Schwester eher pflichtbewusst als überzeugt bei.
„Und wie gefällt dir dein Haarschnitt?“, wollte mein Vater nun von mir wissen.
„Super.“ Hastig bemühte ich mich, den Salon „Engelshaar“ im besten Licht erscheinen zu lassen. „Die schneiden in dem Salon viel besser als in der Innenstadt. Und viel günstiger ist es auch noch. Die Luft ist da auch nicht so stickig. Und weißt du was?“ Das Beste hatte ich mir extra für den Schluss aufgehoben. „Der Salon gehört zwei Schwestern aus Italien. Und Männer und Frauen sitzen da zusammen in einem Raum.“
„Das ist ja interessant“, meinte mein Vater – wohl hauptsächlich, um meine Mutter zu ärgern. „Vielleicht sollte ich mir da auch mal die Haare schneiden lassen.“
„Dann komme ich mit“, bot ich an. „In der Stadt lasse ich mir jedenfalls nie wieder die Haare schneiden.“
„Das entscheide ja wohl noch immer ich“, widersprach meine Mutter. An meinen Vater gewandt fuhr sie in leicht gereiztem Tonfall fort: „Wenn ich dir sage, dass der Salon nichts taugt, kannst du mir das ruhig glauben, Konrad. Diese beiden Italienerinnen und ihre Mitarbeiterin sind so etwas von unverschämt. Ungefragt geduzt wird man dort. Ich kam mir schon vor wie in einem ...“ Meine Mutter suchte nach einem unverfänglichen Wort und fand es schließlich. „Etablissement.“
„Das klingt doch vielversprechend“, erwiderte mein Vater trocken.
Ich nutzte die Situation, in der meine Eltern, wie so oft, nicht einer Meinung waren und kurz vor einem Streit standen, um ein für mich wichtiges Thema anzusprechen. „Papa, darf ich eigentlich allein mit dem Fahrrad unterwegs sein?“
„Ja, warum denn nicht?“
Ich schwieg, doch mein Vater ahnte die Antwort schon. Er sah meine Mutter an, als er fragte: „Behandelt dich deine Mutter wieder einmal, als wärst du neun Monate statt neun Jahre alt?“
Ich mochte es nicht, wenn mein Vater so abfällig redete, doch andererseits brauchte ich unbedingt meinen Freiraum, schon allein, um Angelina Angelo möglichst bald wiederzusehen.
„Du musst nicht darauf antworten“, gestand mir mein Vater großzügigerweise zu.
„Ich halte es für zu gefährlich, wenn Constantin allein unterwegs ist“, fühlte sich meine Mutter nun genötigt, ihren Standpunkt zu verteidigen. „Er ist noch zu jung. Da draußen kann ihm alles Mögliche passieren.“
„Aber meine Freunde ...“, setzte ich an, um ihr zu widersprechen.
Mein Vater hob seine rechte Hand leicht, um mir zu bedeuten zu schweigen. „Ab jetzt darfst du so viel mit deinem Rad unterwegs sein, wie du willst“, bestimmte er und sah dabei meine Mutter an. „Aber zu den Mahlzeiten bist du rechtzeitig zu Hause, wenn du Ärger vermeiden willst.“
„Ja, klar, ich ...“
„Und was ist mit mir?“, unterbrach Melissa ungeduldig. „Ich will auch allein mit dem Rad fahren dürfen.“
„Du kannst Constantin begleiten“, entschied mein Vater. Dann wandte er sich an mich. „Du trennst dich nicht von deiner Schwester, wenn sie mit dir unterwegs ist, verstanden?“
Ich nickte, obwohl ich ganz und gar nicht damit einverstanden war.
„Schön, dass ihr drei euch einig seid“, warf meine Mutter mit leicht zitternder Stimme ein. Sie war kurz davor zu weinen. Auf einmal tat sie mir leid. Aber ihr ständiges Bemuttern konnte einem wirklich auf die Nerven gehen.
Mein Vater warf einen Blick auf seine teure Armbanduhr, ohne darauf einzugehen. „Entschuldigt mich bitte. Ich muss jetzt los zu meinem Termin. Esst in Ruhe ohne mich zu Ende.“ Mit diesen Worten stand er auf und verließ den Raum.
An den darauffolgenden Tagen wurde es wärmer und sonniger – das ideale Wetter zum Fahrradfahren. Leider hatte ich dabei die ganze Zeit Melissa im Schlepptau. Um allein zu sein, hatte ich ihr sogar angeboten, mit ihr „Prinzessin und Aristokrat“ zu spielen, wenn sie anschließend zu Hause bliebe. Doch davon wollte Melissa überhaupt nichts wissen. So fuhren wir gemeinsam, unsere Badesachen auf den Gepäckträger geklemmt, an den See, wo viele unserer Klassenkameraden versammelt waren, um sich in dem flachen Gewässer zu erfrischen. Außerdem hatte Melissa stets ihre türkisfarbene „Prinzessinnentasche“ bei sich, um die sie ihre Freundinnen beneideten. Meine Schwester band die Tasche jedesmal sorgfältig an ihrem Fahrrad fest, bevor sie es abschloss und sich auf ins Wasser machte, damit ihre kostbare Tasche auch ja nicht abhanden kam. Auf dem Rückweg nach Hause bestand ich jedes Mal darauf, noch einen Schlenker durch den Ort zu machen, vorbei am Salon „Engelshaar“, in der Hoffnung, einen Blick auf Angelina Angelo zu erhaschen. Melissa nahm den Umweg glücklicherweise in Kauf, ohne nach dem Grund dafür zu fragen. Einmal sahen wir am späten Nachmittag neben der Eingangstür des Friseursalons einen Jungen mit dunklen Locken, der etwa so alt war wie ich, auf den Steinplatten knien und mit Murmeln spielen. Vielleicht war das ja Guido. Ich hielt so abrupt an, dass meine Schwester, die hinter mir fuhr, fast in mein Fahrrad gefahren wäre.
„He, du Blödmann, was soll das denn?“, beschwerte sie sich, doch ich achtete schon gar nicht mehr auf sie, sondern ging mit meinem Fahrrad auf den Jungen zu, der bei meinem Näherkommen von seinem Murmelspiel aufsah. Der Junge hatte vorstehende Zähne – vielleicht war das der Grund, dass sein Mund halb offen stand - und trug eine Zahnspange.
„Hallo Guido“, begrüßte ich ihn.
„Woher weißt du denn, wie ich heiße?“, erwiderte Guido und sah mich hinter den dicken Gläsern seiner Brille verwundert an, statt den Gruß zu erwidern. Wegen seiner Zahnspange sprach er etwas undeutlich.
„Ich kann hellsehen“, behauptete ich.
„Kannst du gar nicht!“, widersprach Melissa, die ebenfalls von ihrem Rad abgestiegen und mir gefolgt war.
„Dürfen meine Schwester und ich mitspielen?“, fragte ich.
„Aber wir müssen doch nach Hause“, erinnerte mich Melissa.
„Ein paar Minuten haben wir noch Zeit“, widersprach ich, obwohl wir in der Tat schon ziemlich spät dran waren.
Eine Weile kullerten wir die Murmeln hin und her, nachdem wir Guido unsere Namen verraten hatten. Dann wurde die Tür des Salons geöffnet, und Angelina Angelo trat gefolgt von ihrer Schwester und Emily nach draußen. Ihre gelben Kittel hatten die drei im Salon gelassen. Die Friseurinnen trugen bunte T-Shirts mit irgendwelchen Aufschriften zu ihren Jeans. So etwas würde meine Mutter im Leben nicht anziehen. Ihre Kleidung musste stets Eleganz ausstrahlen und entsprechend viel kosten.
Während Emily und Sabrina nicht weiter Notiz von uns nahmen und zu ihren Fahrrädern gingen, kam Angelina zu meiner großen Freude auf uns zu. „Na, Guido, hast du Freunde gefunden?“, fragte sie und strich ihrem knienden Sohn über das Haar.
Guido stand auf und nickte. Melissa und ich erhoben uns ebenfalls. „Hallo Angelina“, sagte ich mutig.
„Hallo ihr zwei“, begrüßte Angelina meine Schwester und mich lächelnd. „Leider kenne ich eure Namen nicht.“
„Constantin und Melissa“, antwortete ich schnell.
„Che bello“, fand Angelina. „Was für schöne Namen.“
„Bist du öfter hier?“, fragte ich Guido, während mein Herz wegen Angelinas Kompliment noch raste. Dabei hatte ich ihren Sohn ja zum ersten Mal dort spielen gesehen.
„Manchmal“, antwortete Guido.
„Guido war ein paar Tage bei seine Papa“, erklärte Angelina. „Aber jetzt ist er wieder bei mir.“
„Dann sehen wir uns morgen wieder?“, wollte ich wissen.
Guido nickte.
„Er freut sich, euch zu sehen“, übersetzte Angelina die Geste ihres Sohnes. „Aber jetzt müssen wir nach Hause.“
„Ja, wir auch“, fiel mir siedend heiß ein. „Bis morgen, Guido!“
„Bis morgen!“, wiederholte Melissa.
Guido hob zum Abschied die Hand, während meine Schwester und ich auf unsere Fahrräder stiegen. Dann traten wir schnell in die Pedalen, um die beim Murmelspiel verlorene Zeit wieder aufzuholen, obwohl das natürlich unmöglich war.
Unsere Mutter erwartete uns bereits an der Straße vor dem hohen Metallzaun stehend, der unser Grundstück umgab. Als sie uns näherkommen sah, hielt sie beide Hände wie zum Gebet vor ihren Mund.
„Wo kommt ihr jetzt her?“, wollte sie mit unangenehm schriller Stimme wissen, nachdem Melissa und ich abgestiegen waren. Sie öffnete die Pforte, damit meine Schwester und ich unsere Fahrräder hindurchschieben könnten. „Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist und was für Sorgen ich mir gemacht habe? Ich habe gedacht, ihr wärt im See ertrunken!“
„Mama, in dem See kann man nicht ertrinken“, erklärte ich. „Dafür ist er nämlich zu flach.“
„Trotzdem!“, beharrte meine Mutter. „Euch hätte sonst was passiert sein können! Ihr wisst, was euer Vater gesagt hat! Zu den Mahlzeiten sollt ihr pünktlich wieder zu Hause sein!“
„Entschuldigung“, lenkte ich ein. „Das wird nicht wieder vorkommen.“
„Das will ich auch hoffen! Ihr wisst gar nicht, was ich für Ängste um euch ausgestanden habe!“
Nachdem Melissa und ich unsere Fahrräder abgestellt hatten, hinderte uns unsere Mutter daran, ins Haus zu gehen, indem sie uns an sich drückte, als wollte sie uns nie wieder loslassen.
„Du reißt an meinen Haaren, Mama“, beschwerte sich Melissa schließlich und machte sich aus der Umarmung frei.
„Ich bin nur so froh, dass euch nichts passiert ist“, sagte unsere Mutter. Zu meinem Entsetzen liefen ihr Tränen über die Wangen.
„Ist Papa gar nicht da?“, fragte ich, nachdem wir das Haus betreten hatten, hauptsächlich, um das Thema zu wechseln, denn mein Vater war um diese Uhrzeit selten schon zu Hause.
„Nein“, erklärte meine Mutter. „Er hat noch etwas im Büro zu tun. Es kann wieder einmal spät werden, hat er gesagt. Wir sollen ohne ihn essen. Aber zuerst wascht ihr euch die Hände.“
„Freut ihr euch denn schon auf unseren Urlaub?“, wollte meine Mutter mit aufgesetzt fröhlicher Stimme wissen, als wir alle etwas von dem asiatischen Gericht, das die Haushälterin auf Wunsch meiner Mutter zum ersten Mal zubereitet hatte, auf dem Teller hatten.
Anfang nächster Woche wollten wir an die Côte d‛Azur aufbrechen, also in einigen Tagen, denn es war schon Freitag. Normalerweise freute ich mich auf die Familienurlaube, in denen mein Vater ausnahmsweise Zeit für Melissa und mich hatte, doch diesmal würden mich die zwei Wochen in Frankreich nur von Angelina Angelo fernhalten. Also würde ich die nächsten Tage umso intensiver nutzen müssen, um ihr nah zu sein.
„Klar!“, antwortete Melissa begeistert und verzog, nachdem sie den ersten Bissen von dem Essen gekostet hatte, den Mund. „Das schmeckt aber komisch.“
„Das ist thailändisch und hat extra wenig Kalorien“, erklärte unsere Mutter. „Genau das Richtige für abends. Ich habe das Rezept aus einer Zeitschrift und Frau Hubertus gebeten, es nachzukochen. Es ist ihr sehr gut gelungen.“
„Na ja, geht so“, meinte Melissa mit wenig Begeisterung.
Mich überzeugte der süßsäuerliche Geschmack ebenfalls nicht, doch wollte ich die Laune meiner Mutter nicht unnötig trüben und aß daher schweigend, bis das Klingeln des Telefons die Stille unterbrach. In mehreren Räumen unseres Hauses stand ein Apparat, so auch im Esszimmer.
„Ich gehe schon“, bot ich an. So irrational es auch sein mochte, ich hoffte insgeheim, Angelina Angelo könnte am anderen Ende der Leitung sein.
„Constantin Hart“, meldete ich mich.
Für einen Moment antwortete niemand. Dann fragte eine weibliche Stimme: „Ist dein Vater zu sprechen?“
„Nein“, antwortete ich. „Der ist im Büro.“
„Aha, im Büro ist er also. Bist du sicher?“ Die Anruferin lachte amüsiert.
„Ja“, bestätigte ich leicht irritiert.
„Na, wenn das so ist, werde ich sehen, dass ich deinen Vater schnell im Büro anrufe, bevor er seinen wohlverdienten Feierabend macht“, sagte die Frau immer noch heiter. Dann legte sie einfach auf.
„Wer war das?“, fragte meine Mutter, nachdem ich wieder Platz genommen hatte.
Mir entging nicht der leicht alarmierte Tonfall ihrer Stimme. „Weiß ich nicht.“
„Was soll das heißen: ‚Weiß ich nicht?‛ Du musst doch wissen, mit wem du gerade gesprochen hast.“
„Die Frau hat ihren Namen nicht genannt.“
„Die Frau. Aha.“ Meine Mutter nahm, wohl um sich zu beruhigen, einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Gezwungen beiläufig fragte sie anschließend: „Und was wollte ... die Frau?“
„Mit Papa sprechen.“
„Aha.“ Meine Mutter presste ihre Lippen aufeinander und griff nach der Stoffserviette neben ihrem Teller, die sie mit ihrer rechten Hand fest zusammenknüllte. „Aha“, wiederholte sie. Nach einer kurzen Pause noch einmal: „Aha.“
„Ich mag nicht mehr“, sagte Melissa, der das seltsame Verhalten unserer Mutter anscheinend nicht auffiel, und legte ihr Besteck auf den noch halb gefüllten Teller.
Unsere Mutter blickte ins Leere. „Aha.“
„Mama“, sprach ich sie an und griff nach ihrer linken Hand, die zur Faust geballt auf dem Tisch lag, während die rechte noch die Serviette krampfhaft umfasste. „Ist alles in Ordnung?“
Meine Mutter sah mich an und blinzelte kurz. „Wie? Ja, ja. Mit mir ist alles in Ordnung. In bester Ordnung sogar.“ Sie nahm ihr Besteck wieder in die Hand und begann energisch weiterzuessen. Plötzlich hielt sie inne, schluckte mühsam den Bissen, den sie gerade gekaut hatte, hinunter und hielt sich eine Hand vor den Mund, während sie am ganzen Körper zu zittern begann und Tränen in ihre Augen traten.
„Mama, hast du dich verschluckt?“, wollte Melissa erschrocken wissen.
Ich wusste es besser und stand auf, um unsere Mutter zu trösten. Melissa sah mir einen Moment lang zu und tat es mir schließlich gleich. Beide umarmten wir unsere Mutter, die nun hemmungslos schluchzte. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie sich wieder einigermaßen in der Gewalt hatte. Dann machte sie sich aus unserer Umarmung frei und erhob sich. „Sagt eurem Vater nichts davon“, bat sie meine Schwester und mich leise und verließ das Esszimmer.
Am nächsten Tag war ich mit Melissa wieder am Badesee. Ich konnte es kaum erwarten, zum Salon „Engelshaar“ zu gelangen, denn samstags schloss das Friseurgeschäft früher als an den anderen Tagen, wie ich am Vortag durch einen Blick auf das Schild an der Eingangstür, das die Öffnungszeiten zeigte, in Erfahrung gebracht hatte. Daher fragte ich meine Schwester schon bald, während wir uns im Wasser aufhielten, ob wir wieder fahren wollten.
„Nein“, gab diese entschlossen zurück. „Ich will noch weiterbaden. Außerdem sind wir doch gerade erst angekommen.“
Ein paar Minuten später versuchte ich es erneut. „Ich habe keine Lust mehr zum Baden. Komm, lass uns fahren und sehen, ob Guido da ist.“
„Ich will aber nicht zu Guido!“, lautete die abwehrende Antwort meiner Schwester.
„Aber er sitzt ganz allein vor dem Friseursalon und wartet bestimmt schon auf uns“, appellierte ich an ihr schlechtes Gewissen.
„Das ist mir doch egal! Guido kann ja zu uns an den See kommen!“
„Du bist echt bescheuert!“, beschimpfte ich meine Schwester.
„Nein, du bist bescheuert!“, wehrte sie sich. „Und jetzt lass mich in Ruhe!“
„Ich fahre jetzt zu Guido“, kündigte ich an. „Bleib doch hier, wenn du nicht mitkommen willst.“
„Aber Papa hat gesagt, dass wir immer zusammenbleiben sollen, wenn wir unterwegs sind“, erinnerte mich Melissa.
„Dann musst du mit zu Guido kommen.“
„Ich will aber nicht!“
„Du bestimmst aber nicht, was gemacht wird, weil ich von uns beiden älter bin!“ Mir fiel nichts Besseres ein, als meine Schwester mit der Absicht, sie im Wasser zu Fall zu bringen, zu schubsen. Sie hielt jedoch ihr Gleichgewicht.
„He, was soll das, Constantin!“, wollte sie verärgert wissen. „Jetzt komme ich erst recht nicht mit zu deinem blöden Guido!“
„Er ist kein blöder Guido!“, verteidigte ich den Jungen, den ich kaum kannte, weil er Angelinas Sohn war. „Dann bleib doch hier, bis du schwarz wirst!“ Mit diesen Worten watete ich aus dem Wasser, trocknete mich ab und zog mich wieder an. Dabei hoffte ich, Melissa werde mir doch folgen, aber sie hatte sich im See schon zu einigen ihrer Freundinnen gesellt und beachtete mich gar nicht mehr.
Ich nahm mir vor, zu Guido zu fahren, dort so lange zu bleiben, bis Angelina den Salon verließ, mich etwas mit ihr zu unterhalten und anschließend zurück an den See zu fahren, um Melissa abzuholen. Ich würde ihr einen Nachmittag „Prinzessin und Aristokrat“ versprechen, wenn sie unseren Eltern nicht verriet, dass ich sie allein am See gelassen hatte. Sicher würde sie darauf eingehen.
Guido war bei meiner Ankunft wieder ganz in sein Murmelspiel vertieft. Das bedeutete wohl, dass sich seine Mutter noch im Salon aufhielt. Bei der Feststellung, nicht zu spät zu sein, atmete ich erleichtert aus. „Hallo Guido“, begrüßte ich meinen neuen Freund und stieg von meinem Rad.
Guido blickte von den Murmeln auf. „Hallo.“
„Da bin ich, wie ich es gestern versprochen habe.“ Mit diesem Hinweis auf meine Zuverlässigkeit kniete ich mich zu Guido auf die Steinplatten, die durch die Sonne stark aufgeheizt waren. Schöner wäre es jetzt in der Tat am Badesee, musste ich insgeheim eingestehen. Aber schließlich ging es um ein Wiedersehen mit Angelina, vermutlich das letzte vor unserer Frankreichreise, und dafür mussten nun einmal Opfer gebracht werden. Konzentriert begannen wir unser Murmelspiel, doch wenn die Tür des Friseursalons geöffnet wurde, fuhr ich hoch in der Hoffnung, es sei Angelina, und war enttäuscht, da nur frisch frisierte Kunden nach draußen traten.
Dann endlich verließen Angelina, Sabrina und Emily den Salon. Wieder trugen alle drei bunte T-Shirts, doch Angelina hatte heute, im Gegensatz zu ihren Kolleginnen, statt einer Jeans eine kurze weiße Hose an. Wieder war Angelina die Einzige, die auf uns zukam, während die anderen beiden Frauen nach einem Abschiedsgruß auf ihre Fahrräder stiegen und davonfuhren.
„Constantin, das ist aber schön, dass du mit Guido spielst“, begrüßte mich Angelina Angelo.
Ich erhob mich, während Guido noch die Murmeln einsammelte. „Ja, das habe ich ja versprochen.“
„Du bist ein sehr lieber Junge“, stellte Angelina anerkennend fest, und mir wurde ganz warm ums Herz.
Nachdem Guido die Murmeln in einem kleinen Beutel verstaut hatte, ging er auf seine Mutter zu.
„Na, wie wäre es mit einem Eis?“, fragte Angelina ihren Sohn und strich ihm über das Haar.
Guido nickte nur. Er war nicht sehr gesprächig, wie ich bereits festgestellt hatte.
„Möchtest du mitkommen, Constantin?“, fragte mich Angelina zu meiner großen Freude. „Wir wohnen gleich da drüben.“ Sie zeigte zu einem Mehrfamilienhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Ich habe noch Eis zu Hause. Wir können es auf dem Balkon essen.“
„Ja, sehr gern!“, nahm ich das Angebot hastig an.
„Dann komm.“ Angelina legte einen Arm um Guido. Als ich den beiden folgen wollte, wies sie mich auf mein Fahrrad hin, das ich auf dem Parkplatz vor dem Friseursalon abgestellt hatte und beinahe vergessen hätte. „Das solltest du besser mitnehmen, Constantin.“
Ich Idiot! Schnell ging ich zu meinem Rad und schob es hinter Angelina und Guido her.
Wir erreichten das vierstöckige Backsteinhaus, in dem Angelina und ihr Sohn wohnten. Beim Näherkommen fiel mir auf, wie schäbig es aussah. Der Garten bestand lediglich aus einer kleinen Rasenfläche, die, soweit ich sehen konnte, das Haus umgab und stark von Moos und Löwenzahn durchwuchert war. An den vormals weißen Fensterrahmen des Hauses blätterte die Farbe ab, und die breite braune Eingangstür, in die mehrere Buchstaben und sonstige Zeichen geritzt waren, hätte ebenfalls einen neuen Anstrich vertragen können. Im stickigen Treppenhaus roch es widerlich, eine Mischung aus Zigarettenrauch, Bratfett und Urin. Wir fuhren mit dem klapprigen Aufzug, dessen Innenwände mit Graffiti verziert waren und in den mein Fahrrad gerade mit hineinpasste, nach oben in den vierten Stock.
„Du kannst dein Fahrrad ruhig hier im Hausflur stehen lassen“, teilte mir Angelina mit. „Auf dieser Etage wohnen nur anständige Leute. Ich habe alle, als Guido und ich eingezogen sind, zu einer kleinen Feier in unsere Wohnung eingeladen.“
Ich hoffte, dass Angelina Recht mit ihrer Einschätzung hatte, ließ mein Fahrrad samt Badetasche neben der Wohnungstür stehend zurück, ohne es abzuschließen, um Angelina nicht durch mein Misstrauen zu verärgern. Dann folgte ich ihr und Guido in den engen, dunklen Flur der Wohnung, der mit einem flauschigen weinroten Teppich ausgelegt war. Angelina schaltete die Deckenlampe an, und ich sah, dass sämtlicher Platz, den die ebenfalls weinrot tapezierten Wände boten, von Bildern eingenommen wurde. Bei einigen handelte es sich um Landschaftszeichnungen, bei anderen um Fotos von Angelina und Guido, teilweise zusammen mit Sabrina, teilweise mit anderen Personen, die ich nicht kannte.
„Geht schon einmal auf den Balkon“, forderte uns Angelina auf. „Ich mache das Eis in der Küche fertig.“
Auf den Balkon gelangten Guido und ich durch das kleine Wohnzimmer. Ich war es bereits gewohnt, dass die Zimmer anderer Leute kleiner waren als die in unserem Haus, aber dieses Wohnzimmer war auch im Vergleich zu denen in den Häusern meiner Schulkameraden winzig. Es bot gerade einmal Platz für ein braunes Sofa mit zwei dazupassenden Sesseln, einen Couchtisch, einen schmalen Schrank mit Glasfront und eine Kommode, auf der ein Fernseher stand. Dennoch wirkte der hell tapezierte Raum, nicht zuletzt wegen der vielen Bilder, die auch hier an den Wänden hingen, und der kleinen Porzellanfiguren, die überall herumstanden, sehr gemütlich.
Auch der Balkon hatte eine nur kleine Fläche, die fast komplett von einem runden weißen Tisch und vier Stühlen eingenommen wurde. An der Balkonbrüstung waren mehrere Blumenkästen befestigt, die farbenfroh bepflanzt waren. Die Aussicht über die umliegende Umgebung war fantastisch, und ich blieb einen Moment lang stehen, um sie zu bewundern, während Guido schweigend am Tisch Platz nahm.
„Na, was sagst du, Constantin?“, hörte ich auf einmal Angelina hinter mir fragen.
Schnell wandte ich mich ihr zu, als sie gerade im Begriff war, ein Tablett, auf dem sich drei mit Eiscreme gefüllte Glasschalen samt Löffeln befanden, auf dem Tisch abzustellen.
„Das ist ein toller Ausblick“, sagte ich.
„Ja, deshalb haben wir die Wohnung auch genommen, obwohl sie ziemlich klein ist. Wir haben leider nicht so viel Geld, um uns eine große Wohnung leisten zu können. Aber wir fühlen uns hier wohl. Nicht, Guido?“
Guido nickte und nahm sich eine der Eisschalen.
„Komm, Constantin, nimm dir dein Eis. Und dann erzähle Guido und mir ein bisschen davon, wie du so wohnst.“
Ich setzte mich wie Angelina zu Guido an den Tisch und hatte keine Ahnung, was ich den beiden berichten konnte. „Wir wohnen in einem weißen Haus“, sagte ich schließlich. „Es ist ziemlich groß. Eine Haushälterin macht es jeden Tag sauber. Und einen Gärtner haben wir auch. Weil der Garten auch groß ist.“
Ich fand das, was ich gerade von mir gegeben hatte, ziemlich dämlich, doch Angelina erwiderte fasziniert: „Dio mio, dann seid ihr reiche Leute, ja?“
Ich nickte und nahm einen Löffel von der Eiscreme. Es war jeweils eine Kugel Vanille-, Schokoladen- und Erdbeereis und schmeckte schön cremig.
„Und was macht deine Mama den ganzen Tag, wenn andere für euch saubermachen?“, wollte Angelina wissen.
„Sie trifft sich mit anderen im Gemeindehaus, um sich mit ihnen über wichtige Sachen zu unterhalten. Und sie sammelt oft Geld für arme Leute“, erklärte ich. „Und sie plant, wie die Zimmer in unserem Haus umdekoriert werden sollen.“
„Aha.“ Angelina schien zutiefst beeindruckt. „Und dein Papa verdient das viele Geld?“
Ich nickte. „Er arbeitet als Anwalt in der Stadt. Er ist nicht oft zu Hause.“
„Guidos Papa ist gar nicht mehr bei uns zu Hause“, berichtete Angelina, und ihre Stimme hatte einen traurigen Unterton. „Er wohnt in eine andere Stadt und hat jetzt eine andere Frau.“
Ich hielt es für klüger, nicht zu erwähnen, dass mein Vater auch andere Frauen hatte und meine Mutter damit zur Verzweiflung trieb.
„Ich habe einen Stiefbruder und einen Halbbruder“, sagte Guido.
„Guidos Stiefbruder ist der Sohn von der Frau, die Guidos Papa geheiratet hat“, erklärte Angelina und kostete nun ebenfalls von ihrem Eis. „Und zusammen haben sie auch noch einen kleinen Sohn bekommen. Das ist Guidos Halbbruder.“
„Mein Stiefbruder hat schon ein Motorrad“, ließ mich Guido wissen. „Neulich durfte ich da sogar mitfahren.“
„Willst du Fotos von unsere Familie sehen?“, bot Angelina an.
Ich nickte.
Sie stand auf und kehrte kurz darauf mit zwei Fotoalben zurück. Dabei war ich davon ausgegangen, dass sämtliche Familienbilder bereits an den Wänden der Wohnung hingen. Angelina stellte das Tablett, auf dem sie die Eisbecher serviert hatte, auf den Boden und schlug eines der auf dem Tisch liegenden Fotoalben auf. Die ersten Bilder waren schon älter, teilweise noch schwarzweiß, und zeigten Angelinas Eltern. Sie sei mit fünf Geschwistern aufgewachsen, verriet sie mir.
Angelina wusste zu jedem Bild eine Geschichte zu erzählen. Die Zeit verging dabei im Nu. Zwischendurch klingelte einmal das Telefon im Wohnzimmer. Angelina verließ den Balkon und schloss die Balkontür hinter sich, als sollten Guido und ich nicht hören, was gesprochen wurde. Als sie zurückkehrte, machte sie einen enttäuschten Eindruck.
„Wer war es denn?“, fragte zum Glück Guido, denn mich interessierte es ebenfalls, aber es wäre mir zu neugierig vorgekommen, mich selbst danach zu erkundigen.
„Das war Harry. Er kann heute doch nicht kommen.“
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wer dieser Harry war, doch seine Absage schien Guido alles andere als traurig zu stimmen. Er lächelte zufrieden und zeigte dabei seine Zahnspange. Angelina kommentierte die Reaktion ihres Sohnes jedoch nicht und widmete sich wieder den Familienfotos.
Nachdem wir das erste Fotoalbum durchgeblättert hatten, sagte sie zu mir: „Ich glaube, die anderen Bilder heben wir uns für deine nächste Besuch auf. Es ist schon spät. Deine Eltern warten sicher schon auf dich.“
Da fiel mir siedend heiß Melissa ein, die ich vor Stunden am See zurückgelassen hatte. Schnell verabschiedete ich mich, versprach, nach dem Frankreich-Urlaub wieder zum Friseursalon zu kommen und verließ die Wohnung. Mein Fahrrad stand samt Badetasche zum Glück noch da, wo ich es im Hausflur abgestellt hatte.
Eilig machte ich mich, nachdem ich mit dem Aufzug endlich im Erdgeschoss angekommen war und das Haus verlassen hatte, mit dem Fahrrad auf zum See. Dabei wäre es schon höchste Zeit gewesen, auf kürzestem Wege nach Hause zu fahren. Der See lag etwas abseits von der Straße hinter einigen Bäumen. Ich machte mir noch die Mühe, bis ans Wasser heranzufahren, obwohl ich schon ahnte, dass sich dort niemand mehr aufhielt. Und richtig: Der See sowie das Ufer waren menschenleer. Sicher war Melissa zusammen mit ihren Freundinnen schon vor einer Weile nach Hause gefahren. Das hätte ich Blödmann mir auch gleich denken können. So hatte ich nun unnötigerweise einen Umweg auf mich genommen, der mir den Ärger meiner Eltern einbringen würde.
Ich geriet bei der Geschwindigkeit, die ich nun auf der Rückfahrt an den Tag legte, etwas außer Atem, doch es ging um jede Minute. Jede Minute, die ich früher zu Hause ankäme, würde die Panik, die meine Mutter jetzt sicher schon empfand, mildern, redete ich mir ein. Dann fiel mir ein, dass Samstag und mein Vater daher vermutlich sogar zu Hause war. Es würde ein Donnerwetter geben, egal wie sehr ich mich beeilte. Das Hochgefühl, das ich bei dem Besuch bei Angelina Angelo empfunden hatte, wurde von einem unguten Gefühl verdrängt, das sich nun in meinem Magen breitmachte und mich wünschen ließ, ich hätte das Eis nicht gegessen.
Bei meiner Ankunft zu Hause stand zum Glück weder meine Mutter noch mein Vater an der Straße. Ich wertete das als mögliches Zeichen, dass sich ihre Aufregung noch in Grenzen hielt. Ich stieg von meinem Fahrrad und klingelte an der Pforte, da sich diese von außen nicht öffnen ließ. Der Summer erklang ohne Nachfrage, und ich schob mein Fahrrad an der Hauswand entlang bis zur breiten Garage, die bis zu drei Wagen beherbergte und in deren Nebenraum ich es abstellte. Der Sportwagen meines Vaters fehlte, also war er wieder einmal unterwegs. Allerdings wunderte es mich schon, dass auch meine Mutter mich noch nicht an der Haustür erwartete. Daher klingelte ich dort erneut. Es dauerte einen Moment, bis die Tür durch Frau Hubertus, die Haushälterin, geöffnet wurde. „Hallo Constantin“, begrüßte sie mich. „Du bist gerade rechtzeitig zum Abendessen zurück. Deine Eltern haben sich kurzfristig mit Bekannten in einem Restaurant verabredet, soll ich dir und Melissa ausrichten.“ Ein Stein fiel mir vom Herzen. So würde mir die Strafpredigt vermutlich heute erspart bleiben. Die Erleichterung schwand sofort, als Frau Hubertus fragte: „Wo ist Melissa überhaupt?“
Mir fiel nichts Besseres ein als zurückzufragen, während ich Frau Hubertus in den geräumigen Flur folgte: „Ist Melissa denn noch nicht zu Hause?“
„Nein. Ich dachte, ihr wärt zusammen unterwegs. So sagte es mir jedenfalls deine Mutter. Na ja, vielleicht habe ich da auch etwas falsch verstanden.“
„Nein“, widersprach ich hastig. „Melissa und ich waren zusammen unterwegs. Aber sie wollte lieber bei ihren Freundinnen am See bleiben, und ich ... hatte keine Lust mehr zum Baden.“
„Ach, dann wird Melissa wohl bei einer ihrer Freundinnen sein“, meinte Frau Hubertus unbekümmert. „Dann hast du das Essen gleich für dich allein.“
Während ich kurz darauf allein am Esstisch sitzend auf dem Hackkloß herumkaute, den Frau Hubertus zusammen mit Kartoffelpüree und Erbsen serviert hatte, dachte ich darüber nach, dass das gar nicht Melissas Art war, einfach so mit zu einer Freundin zu fahren, ohne zu Hause Bescheid zu sagen. Sie wusste doch, wie schnell sich unsere Mutter ängstigte, und dass alleinige Unternehmungen nach so einer Aktion verboten werden könnten, konnte sie sich wohl auch denken. Ich ließ meinen noch halb vollen Teller zurück und ging in die Küche, in der Frau Hubertus noch mit Putzen und Aufräumen beschäftigt war. Wahrscheinlich hatten meine Eltern sie gebeten, länger zu bleiben, damit Melissa und ich nicht allein wären. „Frau Hubertus“, sprach ich die Frau an, die so in das Scheuern der Arbeitsplatte vertieft war, dass sie mein Eintreten gar nicht bemerkt hatte.
„Constantin. Was ist los? Willst du noch einen Hackkloß haben? Oder lieber noch etwas von dem Kartoffelpüree?“
Ich schüttelte energisch den Kopf. „Nein, Frau Hubertus. Aber wir müssen herausfinden, wo Melissa steckt.“
In einer Kommode im Flur lag ein Heft, in dem meine Mutter unter anderem die Telefonnummern von Melissas und meinen Klassenkameraden notiert hatte. Ich überredete Frau Hubertus, bei Melissas Freundinnen anzurufen und sich zu erkundigen, ob sich meine Schwester dort aufhielt. Die Haushälterin, die nun einen leicht beunruhigten Eindruck machte, kam meiner Bitte nach und wählte vom Telefon im Flur aus nacheinander fünf Nummern, um immer wieder dasselbe in Erfahrung zu bringen: Melissa wurde zuletzt am Badesee gesehen.
„Jetzt mache ich mir langsam Sorgen“, murmelte Frau Hubertus, als sie den Hörer nach dem fünften Telefonat auf die Gabel legte. „Vielleicht ist es doch besser, wenn ich deine Eltern verständige.“
Meine Eltern pflegten für die Haushälterin oder die Babysitterin, die Melissa und mich manchmal abends betreute, immer eine Telefonnummer zu hinterlassen, wenn sie gemeinsam unterwegs waren. Frau Hubertus wählte die Nummer des Restaurants, das meine Eltern an diesem Abend besuchen wollten, und ließ meinen Vater ans Telefon kommen. Sie fasste für ihn die Situation zusammen. Dann legte sie auf. „Deine Eltern kommen sofort nach Hause“, teilte sie mir mit.
Als ich einen Wagen in der Auffahrt zur Garage hörte, zog sich mein Magen unangenehm zusammen. Das Donnerwetter, das nun folgen würde, mochte ich mir gar nicht ausmalen. Kurz darauf betraten mein Vater und meine Mutter den Flur. Meine Mutter trug ein grünes kurzes Kleid, das ihre schlanke Figur sehr gut zur Geltung brachte, und mein Vater eine helle Stoffhose, dazu ein Jackett in derselben Farbe über einem hellblauen Oberhemd. „Was ist mit Melissa?“, fragte er mich ruhig, während meine Mutter den Eindruck machte, als werde sie gleich in Ohnmacht fallen, und sich kraftlos auf einen Stuhl im Flur fallen ließ.
„Ich weiß es nicht“, gab ich zu. „Sie wollte nicht mit mir fahren.“ Ich verschwieg, dass es schon Stunden zurücklag, dass sie mir das mitgeteilt hatte. „Ich konnte sie nicht überreden mitzukommen und dachte, sie würde gleich mit ihren Freundinnen fahren. Ich habe auf dem Rückweg noch kurz angehalten und mich mit Guido, dem Sohn der Friseurin, unterhalten.“
„Und bei ihren Freundinnen ist sie nicht?“
„Nein, Herr Hart“, antwortete nun Frau Hubertus. „Dort habe ich schon angerufen.“
„Sagen Sie mir genau, wen Sie angerufen haben“, verlangte mein Vater und ließ es sich von Frau Hubertus in dem Heft, in dem diverse Telefonnummern notiert waren, zeigen.
„Ich werde noch einige weitere anrufen“, entschied mein Vater. Dann sah er zu meiner Mutter. „Marianne, vielleicht ist es das Beste, wenn du dich etwas hinlegst.“
Meine Mutter nickte. Sie wollte sich vom Stuhl erheben, doch ihre Beine versagten ihr den Dienst. Mein Vater beachtete sie nicht weiter, während sie auf Frau Hubertus gestützt den Flur verließ.
Mein Vater führte noch einige Telefonate, durch die er den Aufenthaltsort meiner Schwester ebenfalls nicht in Erfahrung brachte. Mit jedem Gespräch wurde mir mulmiger zumute. Dann wandte er sich an mich. „Wie spät war es, als du Melissa zum letzten Mal gesehen hast?“
„Kurz bevor ich nach Hause gefahren bin“, log ich aus Angst, damit bestraft zu werden, nicht mehr allein mit dem Fahrrad unterwegs sein zu dürfen.
„Also etwa um halb sechs?“, wollte mein Vater wissen.
Ich nickte.
Er nickte verstehend. Die Nummer, die er dann wählte, war die der Polizei.
Die nächsten Stunden waren die schlimmsten meines Lebens. Frau Hubertus wurde gebeten, am Telefon zu wachen, während sich mein Vater erneut mit seinem Wagen auf den Weg machte, um die Gegend nach Melissa abzusuchen. Meine Mutter hatte auf Drängen meines Vaters ein Beruhigungsmittel genommen und war zu Bett gegangen.
Voller Unruhe saß ich in meinem Zimmer, ohne etwas Gescheites mit mir anfangen zu können. Wie gern würde ich für Melissa jetzt den verliebten Aristokraten spielen, wenn sie nur wohlbehalten zurückkäme. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus, ging hinaus in den Flur und öffnete leise die Tür von Melissas Zimmer, das auf ihren Wunsch hin vorrangig in Rosa und Weiß gehalten war. Wie oft hatte ich sie wegen der Farbwahl geneckt und es ein Babyzimmer genannt. Was würde ich dafür geben, wenn meine Schwester jetzt zur Tür hereinkäme und mich wütend beschimpfte, weil ich sie am See allein zurückgelassen hatte. Ich setzte mich auf den rosafarbenen Stuhl, der meiner Schwester als Thron diente, wenn sie die Prinzessin spielte, um deren Gunst ich als Aristokrat warb. Lange saß ich ganz still. Das Einzige, was ich wahrnahm, war das leise Ticken der rosafarbenen Kinderuhr an der Wand und das ängstliche Klopfen meines Herzens.
Ich saß noch auf dem kleinen rosa Stuhl in Melissas Zimmer, als ich Schritte die Treppe nach oben kommen hörte. Inzwischen war es draußen stockdunkel, doch hatte ich kein Licht eingeschaltet. Ich erhob mich und ging hinaus in den Flur, wo ich meinem Vater begegnete. An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich sofort, dass seine Suche nach Melissa erfolglos geblieben war. Ich musste einen sehr verstörten Eindruck gemacht haben, denn mein Vater kam schweigend auf mich zu und drückte mich an sich, was er normalerweise nie tat. „Die Polizei wird Melissa schon finden“, sagte er schließlich leise. „Geh jetzt schlafen. Wir sollten alle versuchen, uns etwas auszuruhen.“
Die Stimmung während des üppigen Frühstücks am nächsten Morgen, das wir im Esszimmer statt in der Küche zu uns nahmen und im Gegensatz zu sonst nicht von meiner Mutter, sondern auf Wunsch meines Vaters von Frau Bäumler, unserer zweiten Haushälterin, zubereitet worden war, die dafür extra zu uns gekommen war, denn normalerweise arbeitete sonntags weder sie noch Frau Hubertus, war genauso gedrückt wie am Vorabend, die quälende Ungewissheit fast unerträglich. Noch immer gab es kein Lebenszeichen von meiner Schwester, keinen Hinweis, wo sie sich aufhielt. Das hatte die Polizei meinem Vater auf seine telefonische Nachfrage hin mitgeteilt, bevor er sich zu mir setzte. Meine Mutter war nur kurz aufgestanden, um sich einen Tee zuzubereiten, und hatte sich anschließend wieder ins Schlafzimmer zurückgezogen. So saß ich mit meinem Vater allein am reichlich gedeckten Esstisch. Frau Bäumler hatte es wirklich gut mit uns gemeint und anscheinend alles aufgetischt, was sie im Kühlschrank vorgefunden hatte. Mein Vater hatte die Sonntagsausgabe einer Zeitung neben sein Gedeck gelegt, doch las er nicht darin. Stattdessen starrte er grübelnd ins Leere und rührte gedankenversunken in seinem Kaffee. Er reagierte nicht einmal, als ich ihn fragte, ob ich nach dem Frühstück draußen ein wenig mit meinem Fahrrad umherfahren dürfe. Ich hatte nämlich den Entschluss gefasst, meine Schwester zu suchen und auch zu finden, wenn es die Polizei schon nicht konnte. Als ich von meinem Vater keine Antwort erhielt, stand ich einfach auf. Bevor ich das Haus verließ, sagte ich Frau Bäumler Bescheid, damit sich niemand um mich sorgte. Dann machte ich mich auf den Weg. Dabei wusste ich selbst nicht genau, wo ich eigentlich suchen sollte. Schließlich schlug ich den Weg zum See ein, wo sich an diesem Sonntagmorgen niemand aufhielt. Das Wetter war auch deutlich kühler als am Vortag, und es hatte sich bewölkt. Ich fror ein wenig in meinem T-Shirt. Sicher fror Melissa jetzt auch, wenn sie ganz allein hier draußen war. Vielleicht war sie vom Fahrrad gestürzt, hatte sich verletzt und lag nun irgendwo hilflos am Boden. Die bloße Vorstellung war fürchterlich. Ich musste meine Schwester finden und sicher nach Hause bringen. Ich stellte mein Fahrrad ab und ging am See entlang, sah zwischen den Bäumen und Büschen nach, rief den Namen meiner Schwester, doch da war niemand, kein Hinweis auf Melissa.
Nachdem ich alles gründlich abgesucht hatte, fuhr ich zurück in den Ort und dort ziellos durch die Straßen. Ich begegnete nur wenigen Passanten, einige waren vermutlich auf dem Weg zum Bäcker. Als ich mich dem Haus, in dem Angelina und Guido wohnten, näherte, sah ich, dass Angelina in einem gelben T-Shirt auf ihrem Balkon stand und Blumen goss. Sie erkannte mich und hob ihre Hand lächelnd zum Gruß. Ich winkte zurück. Wie gern hätte ich angehalten und ihr erzählt, dass meine Schwester verschwunden war. Dann kam mir der Gedanke, es einfach zu tun. Ich stieg von meinem Fahrrad und klingelte an der maroden Haustür. Schon einen kurzen Moment später wurde der Summer betätigt.
Im Treppenhaus roch es nicht besser als am Vortag, wie ich feststellte, als ich mein Rad in den Aufzug schob.
„Hallo Constantin. Das ist aber schön, dass du mich besuchst“, begrüßte mich Angelina lächelnd in der Wohnungstür stehend.
Mir fiel auf, dass sie „mich“ statt „uns“ gesagt hatte. War Guido denn nicht da? „Guten Morgen“, grüßte ich zurück. „Ist Guido da?“ Ich hielt es für das Beste, so zu tun, als wäre ich vorrangig wegen ihres Sohnes hier.
„Leider nein. Er wurde gerade von seine Papa abgeholt und verbringt den Tag mit ihm.“
„Schade.“
„Und: Freust du dich schon auf die Reise?“, wollte Angelina von mir wissen.
Für einen Moment lang hatte ich nicht die geringste Ahnung, wovon sie sprach. Dann fiel es mir ein: unsere Frankreich-Reise. Morgen sollte es schon losgehen. Daraus würde wahrscheinlich nichts werden.
Angelina sah vermutlich an meiner bedrückten Miene, dass etwas nicht stimmte. „Ist alles in Ordnung, Constantin?“
Ich schüttelte langsam den Kopf und spürte, dass mir Tränen in die Augen stiegen.
„He, was ist denn?“, fragte Angelina besorgt und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Willst du hereinkommen und es mir erzählen?“
Ich nickte, ließ mein Fahrrad wie am Tag zuvor im Hausflur zurück und folgte ihr in das kleine Wohnzimmer, in das die kühle Sommerluft durch die offene Balkontür wehte.
„Setz dich doch“, bot mir Angelina an.
Ich nahm auf dem grünbraun gemusterten Sofa Platz und sie auf einem der beiden Sessel. Der ganze Tisch lag voll mit Schnittmustern. „In meine Freizeit schneidere ich gern“, erklärte Angelina. „Aber ich bin nicht gut. Das meiste kann man gar nicht anziehen, weil es so schief und krumm ist. Ein Strandkleid will ich mir nähen, aber ich weiß noch nicht, nach welche Schnittmuster. Am besten nehme ich das einfachste. Aber das sieht dann nicht so hübsch aus.“
„Du willst zum Strand?“, fragte ich neugierig und vergaß einen Moment lang meine Sorgen um Melissa.
„Ja, mit meine Freund“, bestätigte Angelina unbekümmert. „Er hat ein Ferienhaus am Meer und ein Boot. Es ist sehr schön dort. Aber Guido gefällt es nicht so sehr.“
„Aha.“ Darauf war ich nicht vorbereitet gewesen. Ich hoffte, dass Angelina mir nicht ansah, wie sehr mich die Neuigkeit, dass es einen Mann in ihrem Leben gab, traf.
„Und was macht dich so traurig?“, wollte Angelina wissen und sah mich mit ihren großen braunen Augen offen an.
Dass sie einen Freund hatte, machte mich traurig. Sehr traurig sogar. „Meine Schwester ist seit gestern verschwunden“, erklärte ich. „Mein Vater hat die Polizei verständigt. Er war gestern Abend noch lange unterwegs, um nach Melissa zu suchen, aber ohne Erfolg. Und ich suche heute Vormittag die Gegend nach ihr ab.“
„Dio mio!“, rief Angelina schockiert. „Das kleine Mädchen, mit dem du bei meine Salon warst, ist verschwunden?“
Ich nickte.
„Das ist ja sehr schlimm! Ich wünschte, ich könnte dir helfen.“
„Willst du deinen Freund heiraten?“, fragte ich unvermittelt.
„Was?“ Angelina lachte. „Dio mio! Nein, dazu ist es noch viel zu früh. Ich glaube auch, dass Guido es nicht gut finden würde. Er war so froh, als Harry, der uns gestern besuchen wollte, angerufen und noch kurzfristig abgesagt hat.“
Harry hieß der Kerl also. Jetzt verstand ich auch, weshalb Guido nach dem gestrigen Anruf so gegrinst hatte.
Als Angelina mein betrübtes Gesicht sah, wurde sie sofort wieder ernst. „Ich lache, und du machst dir Sorgen um deine sorella. Du tust mir so leid. Deine Schwester wird sicher wohlbehalten wieder nach Hause kommen. Und morgen fahrt ihr zusammen mit eure Eltern in den Urlaub. Das wird eine wundervolle Zeit. Du wirst sehen.“
„Ja, hoffentlich.“ Plötzlich verspürte ich den Drang, schnell nach Hause zu fahren. „Es ist wohl besser, wenn ich mich jetzt wieder auf den Weg mache.“
„Natürlich. Komm gern vorbei, wenn du aus Frankreich zurück bist. Guido und ich freuen uns immer über deinen Besuch.“
Ich nickte. Es tat gut, diese Worte von Angelina zu hören. Doch wollte mir nicht aus dem Kopf, dass sie einen Freund hatte. Einen Freund, der Harry hieß. Einen Freund mit Ferienhaus am Meer und eigenem Boot.
Ich folgte Angelina zur Wohnungstür. Nachdem ich in den Hausflur getreten war, strich sie mir sanft über meinen Kopf, und ich roch ihr Zitronenparfum. „Verlier nicht den Mut, Constantin. Es wird bestimmt alles gut. Ich wünsche es dir.“
„Vielen Dank.“
„Vielleicht ist deine Schwester schon wieder da, wenn du gleich nach Hause kommst“, versuchte sie, mir Mut zu machen, während ich mein Fahrrad zum kleinen Fahrstuhl schob.
Ich drehte mich noch einmal nach Angelina um. „Ja, vielleicht.“ Doch mein Gefühl sagte mir, dass es nicht so sein würde.
Stattdessen stand bei meiner Ankunft ein Polizeiwagen vor unserem Grundstück, und sofort ergriff mich helle Panik. Hektisch klingelte ich an der Pforte. Kurz darauf wurde der Summer betätigt, und Frau Bäumler öffnete die Haustür. Ich warf mein Fahrrad achtlos auf den Rasen und eilte zu ihr.
„Ist Melissa wieder da?“, fragte ich hastig. Frau Bäumler schüttelte den Kopf, ohne eine Miene zu verziehen, und sagte kein Wort. Sie war sowieso eine recht schweigsame Person. Ich mochte sie nicht sonderlich, was vermutlich auf Gegenseitigkeit beruhte, und war immer froh, wenn die umgänglichere Frau Hubertus Dienst hatte. Ich hatte stets das Gefühl, dass die ebenfalls etwa fünfzigjährige Frau Bäumler die Tätigkeit als Haushälterin, noch dazu inklusive Wochenenddienste, nicht sonderlich mochte und sie nur ausführte, weil sie auf das Geld angewiesen war. Ohne die Haushälterin weiter zu beachten, lief ich in unser riesiges, vorrangig in Schwarzweiß gehaltenes Wohnzimmer, wo mein Vater mit zwei uniformierten Polizeibeamten stand, die offensichtlich gerade im Begriff waren, sich zu verabschieden.
„Danke für Ihre Mühe“, sagte mein Vater und führte die Männer, die beide einen kurzen Blick auf mich warfen, zur Haustür.
„Was wollten die denn?“, fragte ich meinen Vater, nachdem er die Haustür geschlossen hatte. „Haben sie Melissa gefunden?“
Mein Vater nickte. Doch war er nicht sofort bereit, mir mehr zu sagen, sondern verließ kurz darauf das Haus.
„Wo ist Melissa denn?“, drängte ich, als er nach fast zwei Stunden endlich zurückkehrte. „Ist sie verletzt? Liegt sie im Krankenhaus?“
Mein Vater ging schweigend ins Wohnzimmer, und ich folgte ihm. „Setz dich mal zu mir“, forderte er mich auf, und ich nahm neben ihm auf einem schwarzen Ledersofa Platz, das meine Mutter gern durch ein weißes ersetzen würde, weil das den Raum ihrer Ansicht nach heiterer erscheinen lassen würde. Sie hatte ihre Idee aber noch nicht umgesetzt, weil sie sich nicht zwischen diversen Möbelangeboten entscheiden konnte.
Erwartungsvoll sah ich meinen Vater an, der mir eine Hand auf die Schulter legte. „Constantin“, sagte er schließlich, „ich weiß nicht, wie es dir am besten beibringen soll. Aber Melissa ... wird nicht zurückkehren.“
„Wird ... nicht zurückkehren?“, fragte ich verwirrt.
Mein Vater nickte. „Sie ... wurde gestern an einer Landstraße angefahren. Kein Mensch weiß, was sie da verloren hatte. Der Autofahrer ... hat ihr nach dem Unfall nicht geholfen.“
„Was?“, rief ich entsetzt. „Heißt das etwa, Melissa ist tot?“
Mein Vater antwortete nicht. Das musste er auch nicht. Sein versteinerter Gesichtsausdruck war Antwort genug.