Читать книгу Sie war meine Königin - Janina Hoffmann - Страница 5

2. Kapitel

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Meine Schwester hatte sich am See kurz nach meinem Aufbruch mit ihren Freundinnen gestritten und ihn daraufhin ebenfalls allein auf ihrem Fahrrad verlassen. Diese Informationen kamen in den darauffolgenden Tagen nach und nach ans Licht, und die Polizei fügte sie wie Puzzleteile zusammen, um zu rekonstruieren, was meiner Schwester genau zugestoßen war. Bei dem Streit war es darum gegangen, dass Melissa unbedingt Walderdbeeren hatte sammeln und meine Eltern und mich damit hatte überraschen wollen. Auslöser für dieses Vorhaben war vermutlich ein schwedischer Kinderfilm gewesen, den Melissa kürzlich zusammen mit mir gesehen hatte und in dem Kinder Walderdbeeren genascht hatten, sowie die Tatsache, dass Melissa einige Tage zuvor Frau Hubertus dabei geholfen hatte, aus Erdbeeren, die diese selbst in einem Erdbeerfeld gepflückt hatte, Marmelade für unsere Familie zu kochen und in Gläser zu füllen. Die gesammelten Beeren hatte Melissa in ihrer „Prinzessinnentasche“ transportieren wollen, die sie sowieso meistens inhaltslos mit sich geführt hatte. Melissas Freundinnen waren jedoch der Ansicht gewesen, dass es in unserer Gegend keine Walderdbeeren gebe, und hatten meine Schwester daher nicht begleiten wollen. Deshalb war Melissa auf ihrem Fahrrad allein losgezogen, hatte sich weiter von unserem Wohnort entfernt und war eine nicht viel befahrene Landstraße, die durch ein Waldgebiet führte, entlanggeradelt, was zwei Radfahrer, die die Polizei glücklicherweise ausfindig machen konnte, bestätigten. Vermutlich war der Autofahrer, der Melissa erfasst hatte, während sie am Straßenrand stehend Ausschau nach Walderdbeeren gehalten hatte, mit viel zu hoher Geschwindigkeit in Richtung auf unseren Ort unterwegs gewesen. Vielleicht hatte meine Schwester in dem Moment, als das Auto auf sie zugekommen war, auch gerade die Straße überquert. Melissa hatte dunkle Kleidung getragen und war im Schatten der Bäume sicher nicht leicht zu erkennen gewesen. Meine Schwester war jedenfalls durch den Aufprall schwer verletzt worden, hatte aber wahrscheinlich noch gelebt. Der Autofahrer musste ausgestiegen sein, jedoch nicht, um Melissa zu helfen, sondern um sie und ihr Fahrrad am Waldrand in einen ausgetrockneten Graben zu legen, wo sie fast ganz von Büschen verdeckt war. Dies war der Grund, weshalb sie erst am darauffolgenden Tag von einem älteren Ehepaar, das dort mit seinem Hund spazieren gegangen war, gefunden worden war.

Meine Mutter erlitt einen Zusammenbruch, als sie die Einzelheiten, die zum Tod meiner Schwester geführt hatten, erfuhr. Sie verbrachte die Tage bis zur Beerdigung, ruhiggestellt durch Medikamente, in ihrem Bett.

Mein Vater hingegen machte zumindest nach außen hin einen gefassten Eindruck. Er übernahm alles Organisatorische, hatte sogar meine tote Schwester gleich nach dem Besuch der beiden Polizisten in der Gerichtsmedizin identifiziert. Er stornierte unsere Frankreich-Reise und kümmerte sich um die Vorbereitung der Beisetzung, deren Termin jedoch erst festgelegt werden konnte, nachdem der Leichnam meiner Schwester durch die Gerichtsmedizin freigegeben worden war.

Ich kam mir während dieser Tage völlig verloren und wie in einem bösen Traum vor. Außerdem plagten mich schwere Schuldgefühle. Schließlich hatte ich meine Schwester alleingelassen. Wären wir zusammengeblieben, würde sie jetzt noch leben. Die Frage „Wieso hast du Melissa alleingelassen?“, hing wie ein Damoklesschwert über mir, wenn sie auch niemand laut aussprach. Frau Hubertus, der Melissas Tod ebenfalls sehr naheging, versuchte, mir so gut es ging beizustehen, und machte freiwillig Überstunden, um meine Familie in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Obwohl ich ihre Bemühungen zu schätzen wusste, konnte ich ihre ständige Anwesenheit und ihre Versuche, mir die Schuld am Tod meiner Schwester auszureden, kaum ertragen. Wann immer ich die Gelegenheit dazu hatte, zog ich mich in Melissas Zimmer zurück, wo ich mich meiner Schwester am nächsten fühlte. Jedesmal, wenn ich den Raum betrat, rechnete ich so sehr damit, Melissa darin vorzufinden, die auf mich zustürmte und mich fragte, ob wir „Prinzessin und Aristokrat“ spielen wollten. Und immer wieder war ich enttäuscht, wenn sie nicht da war, sondern nur Leere. Nur Leere. Wie gern hätte ich für Melissa den verliebten Aristokraten dargestellt, und obwohl sie nicht mehr da war, zog ich mehr als einmal die Wildlederweste über und setzte dazu den Cowboyhut auf in der Hoffnung, sie könne meinen guten Willen doch von irgendwo aus sehen.

Die Trauerfeier für meine Schwester fand bei sonnigem Wetter, das einen absurden Gegensatz zu dem traurigen Anlass bildete, in engstem Familienkreis statt. Das hatte mein Vater, nicht zuletzt wegen des besorgniserregenden Zustands meiner Mutter, entschieden. In ihrem schwarzen Kleid wirkte das blasse Gesicht meiner Mutter, die auf jegliches Make-up verzichtet hatte, umso kränklicher, und es schien mir, dass sie seit Melissas Tod an Gewicht verloren hatte. Ich hatte meine Mutter in den Tagen zuvor kaum zu Gesicht bekommen. Erst am Tag der Beerdigung fühlte sie sich in der Lage, ihr Bett länger als für ein paar Minuten zu verlassen. Sicher stand sie noch unter dem Einfluss von Medikamenten, denn ihre Augen wirkten seltsam leer. Wie mein Vater trug ich einen schwarzen Anzug, den Frau Hubertus am Vortrag noch sorgfältig gebügelt hatte, obwohl er meiner Ansicht nach bereits makellos aussah. Ferner nahm ich Melissas „Prinzessinnentasche“, die wir ironischerweise völlig unversehrt von der Polizei zurückerhalten hatten, mit zur Trauerfeier. Meine Eltern waren zu sehr mit sich selbst und ihren Sorgen beschäftigt, um ihre Verwunderung darüber zu äußern oder mich nach dem Grund zu fragen.

Vor der Kapelle, in der die Trauerfeier stattfinden sollte, trafen meine Eltern und ich auf meine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, und deren Lebensgefährten. Ich bekam meine Großmutter nicht oft zu Gesicht, da es, obwohl sie nicht weit entfernt in der Stadt lebte, nur selten gegenseitige Besuche gab. Ich hatte den Eindruck, dass mein Vater dafür die Ursache war, weil er des Öfteren spitze Bemerkungen über seine Schwiegermutter fallen ließ, womit er meine Mutter jedesmal sehr traf. Auch von dem betuchten Lebensgefährten meiner Großmutter hielt mein Vater nicht viel, weil dieser nach Ansicht meines Vaters sein Vermögen nur geerbt und selbst im Leben nichts erreicht habe. Dafür hatte mein Vater schon mehr als einmal in sarkastischem Tonfall tiefe Bewunderung geäußert. Meine Großmutter war ungefähr einen Kopf kleiner als meine Mutter und recht füllig. Ihre kurzen dauergewellten Haare waren kupferrot gefärbt. An den Fingern trug sie mehrere goldene Ringe, und ihre Fingernägel waren rot lackiert, wie mir auffiel, als sie mich an sich drückte. Meinen Großvater hatte ich nie kennengelernt. Er war vor langer Zeit spurlos verschwunden, wie meine Mutter mir einmal auf meine Nachfrage hin erzählt hatte. Anschließend sprach sie nie wieder über das Thema. Meine Großmutter hatte vor einigen Jahren beim Bingo, ihrer großen Leidenschaft, einen wohlsituierten Herrn in ihrem Alter kennengelernt, mit dem sie nun ihr Leben teilte. Dieser Mann besaß ein Ferienhaus auf Teneriffa, wo er zusammen mit meiner Großmutter die Monate verbrachte, in denen es in Deutschland kalt und trist war.

„Wie groß du geworden bist, Constantin“, sagte meine in dunkles Grau gekleidete Großmutter zu mir. Sie hatte Tränen in den Augen, und ich fragte mich, wie es noch werden solle, wenn erst der Trauergottesdienst beginnen würde, vor dem mir insgeheim graute. „Erich kennst du doch noch, oder?“ Sie wies auf den glatzköpfigen, sonnengebräunten Mann in einem dunkelgrauen Anzug neben sich, der einen ausladenden Bauch hatte. „Tag, Constantin“, begrüßte mich Erich freundlich.

„Hallo“, erwiderte ich und gab ihm die Hand.

Mein Vater begrüßte die beiden ebenfalls mit Handschlag. Dann warf sich meine Mutter in die Arme meiner Großmutter und hielt sie fest, als wollte sie sie nie wieder loslassen, während Erich tröstend die Schulter meiner Mutter tätschelte. Frau Hubertus, die es sich nicht hatte nehmen lassen, an der Trauerfeier teilzunehmen, während Frau Bäumler die Einladung mit den Worten, dass sie das nicht ertrage, abgelehnt hatte, beobachtete die Szene von einer diskreten Entfernung aus. Die Eltern meines Vaters waren nicht anwesend, da sie schon vor meiner Geburt mit ihm zerstritten waren. Den Grund dafür kannte ich nicht. Ich vermutete, dass mein Vater seine Eltern nicht einmal telefonisch über Melissas Tod informiert, sondern ihnen nur eine Traueranzeige geschickt hatte. Er konnte in diesen Dingen sehr hart und unnachgiebig sein.

„Sollen wir hineingehen?“, fragte Erich schließlich. „Es wird Zeit.“

Dem finsteren Gesichtsausdruck meines Vaters sah ich an, dass er diese Äußerung alles andere als passend fand, da Erich schließlich nicht zur Familie gehörte. Ohne zu antworten, umfasste mein Vater meine Mutter und ging mit ihr an seiner rechten Seite und mir an seiner linken auf den Eingang der Kapelle zu. Hinter uns folgten meine Großmutter und Erich, ganz zum Schluss Frau Hubertus.

Melissas weißer Sarg, der im hinteren Bereich inmitten von zahlreichen brennenden weißen Kerzen stand und mit vielen rosa und weißen Rosen geschmückt war, war kleiner, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Bei dem Anblick und der Vorstellung, dass Melissa darin lag, bildete sich ein schmerzhafter Kloß in meinem Hals. Ich kannte Särge nur aus Filmen, und dort hatte ich bisher nur erlebt, dass Erwachsene zu Grabe getragen wurden. Der Pfarrer, ein schlanker Mann mit Brille, der trotz seines noch nicht fortgeschrittenen Alters bereits eine Halbglatze hatte, hielt sich bereits auf uns wartend vor den Sitzbänken auf. Bei unserem Näherkommen nickte er uns ernst und feierlich zugleich zu. Meine Eltern und ich nahmen in der vordersten Reihe Platz, meine Großmutter und Erich ebenfalls, allerdings auf der anderen Seite des schmalen Gangs. Frau Hubertus wählte einen Platz in der Reihe hinter meinen Eltern und mir. Der Organist begann, ein trauriges Stück zu spielen, und ich versuchte, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken, während mir gegen meinen Willen Tränen in die Augen stiegen.

„Wir haben uns heute hier versammelt, um von Melissa Hart Abschied zu nehmen, die uns im Alter von nur acht Jahren verlassen hat“, begann der Pfarrer anschließend seine Predigt.

Bei diesen Worten begann meine Großmutter geräuschvoll zu weinen. Ich warf unauffällig einen Blick auf meine Eltern neben mir, deren Gesichter keine Regung zeigten.

„Die Wege des Herrn sind für uns unergründlich, und doch müssen wir ihnen vertrauen. Was Gott tut, das ist wohlgetan, so schwer es auch mitunter für uns sein mag, dies nachzuvollziehen.“ Daraufhin erzählte der Pfarrer von einem finsteren Tal, von Prüfungen, die Gott uns auferlegte und von noch mehr seltsamen Dingen, die für mich nur schwer begreiflich waren und nicht einmal so recht Sinn ergaben. „Melissa war der Sonnenschein der Familie“, schloss der Pfarrer, begleitet vom Schniefen meiner Großmutter, seine Rede. „Sie war ein fröhliches, lebhaftes Mädchen, eine vorbildliche Tochter und Enkelin sowie eine liebevolle jüngere Schwester. So werden wir sie in Erinnerung behalten. Melissa wird in unserer aller Herzen eine schmerzhafte Lücke hinterlassen.“ Anschließend forderte der Pfarrer uns zum Singen eines für den Anlass passenden Liedes auf. Seine durchdringende, melodische Stimme übertönte dabei alle anderen.

Dann traten die Sargträger durch eine Seitentür in die Kapelle und trugen den Sarg meiner Schwester hinaus zum offenen Grab. Meine Eltern und ich folgten dem Sarg hinter dem Pfarrer, hinter uns gingen meine Großmutter und Erich und zum Schluss Frau Hubertus, die äußerst mitgenommen wirkte.

Nachdem Melissas Sarg langsam in das Erdloch hinuntergelassen worden war, neben dem unzählige Blumengestecke und Kränze als Beileidsbekundungen lagen, las der Pfarrer am offenen Grab noch ein paar passende Verse aus der Bibel, und wir sprachen zusammen das Vater Unser. Die fürsorgliche Frau Hubertus hatte mir den Gebetstext in weiser Voraussicht am Vortag extra beigebracht, damit ich während des Trauergottesdienstes einen guten Eindruck machen würde. Nach Beendigung des Gebets nahm der Pfarrer eine kleine Handschaufel voll von der Erde, die neben dem Grab in einem Behälter bereitgestellt war, und ließ sie auf Melissas Sarg rieseln. Mit einer einladenden Geste forderte er uns auf, es ihm gleichzutun. Meine weinende Großmutter hielt meine Mutter fest, während diese etwas Erde in das Grab schüttete. Zwar war das Gesicht meiner Mutter dabei von einer seltsamen Ruhe, doch hatte es den Anschein, als würden sie ihre Beine nicht mehr lange tragen. Ich wartete bewusst ganz bis zum Schluss. Dann warf ich nach dem bisschen Erde die kleine türkisfarbene Tasche, deren bunte Glasverzierungen im Licht der Sonne funkelten, in das Grab meiner Schwester. „Tschüss Melissa“, sagte ich leise und spürte Erichs tröstende Hand auf meiner Schulter.

Mein Vater hatte in einer Gastwirtschaft einen Imbiss für die Trauernden bestellt und auch den Pfarrer dazugeladen, der das Angebot dankend annahm. Zunächst war die Stimmung während des Essens noch sehr gedrückt, doch dann begann ausgerechnet meine Mutter, von lustigen Begebenheiten mit Melissa zu erzählen. Daraufhin fiel auch meiner Großmutter eine Geschichte ein, und Frau Hubertus erlaubte sich, von der Herstellung der Erdbeermarmelade zu berichten, bei der ihr Melissa so vorbildlich geholfen habe. Der Pfarrer brach als Erster auf, nachdem er sich bei allen mit Händedruck und Segenswünschen verabschiedet hatte. Anschließend fühlte sich auch Frau Hubertus veranlasst, die trauernde Familie nun allein zu lassen. Meine Eltern dankten ihr herzlich für ihr Kommen und die wertvolle Unterstützung während der vergangenen Tage. Nachdem die Haushälterin gegangen war, entstand eine etwas peinliche Gesprächspause, die meine Großmutter schließlich mit der Frage unterbrach, ob sie noch etwas für uns tun könne. Mein Vater lehnte dankend ab, bevor meine Mutter den Mund aufmachen konnte. „Ruf mich an, wenn du irgendetwas brauchst, Anni“, wandte sich meine Großmutter an meine Mutter, als hätte sie die Worte meines Vaters nicht gehört. „Ich komme sofort zu dir. Du musst das nicht allein durchstehen. Erich und ich sind für dich da, wann immer du willst. Ich möchte, dass du das weißt.“

„Danke, Mami“, erwiderte meine Mutter leise.

„Tja, wir sollten uns jetzt auch auf den Weg machen“, schlug Erich vor und erhob sich.

Meine Großmutter tat es ihm gleich. Zum Abschied gaben sie und ihr Lebensgefährte meinen Eltern und mir die Hand. „Ruf mich unbedingt an, wenn es Neuigkeiten über den ... Unfallverursacher gibt“, bat meine Großmutter noch an meine Mutter gewandt, bevor sie den Raum an der Seite von Erich verließ.

Leider gab es auch in den nächsten Tagen keine Neuigkeiten über Melissas Mörder. Denn so nannte ich den Mann - für mich stand fest, dass es ein Mann war - insgeheim. Er hatte meine Schwester angefahren und schwer verletzt. Dann hatte er sie einfach wie Müll in einem Graben abgelegt. Die Vorstellung allein ließ mich vor Wut kochen. Die Polizei hatte in der Zeitung gleich nach dem Auffinden meiner Schwester einen Zeugenaufruf geschaltet, doch bis auf die beiden Radfahrer, die Melissa zuletzt lebend an der Landstraße gesehen hatten, hatte sich niemand gemeldet. Es gab keinen einzigen Hinweis auf den Unfallwagen. Keine Werkstatt hatte verdächtige Schäden an einem Auto gemeldet. Der Wagen, der doch Spuren des Aufpralls aufweisen musste, war wie vom Erdboden verschluckt. Es waren nach wie vor Sommerferien. Meine Mutter hatte ihren Konsum von Beruhigungsmitteln offensichtlich reduziert. Sie stand nun wieder zur gewohnten Uhrzeit auf und versuchte, in einen geregelten Tagesablauf hineinzufinden. Manchmal fand ich sie aber im Wohnzimmer oder auf der Terrasse sitzend vor. Sie las wieder und wieder die vielen Beileidskarten, die wir erhalten hatten, und weinte dabei still vor sich hin. Ob Angelina uns auch eine Karte geschrieben hatte? Ich traute mich nicht, meine Mutter, die auf die Friseurin nicht gut zu sprechen war, danach zu fragen. Stattdessen versuchte ich, so gut es ging, meine Mutter zu trösten. Dabei war für mich selbst durch Melissas Tod eine Welt zusammengebrochen, und ich wusste nicht, wie ich dauerhaft ohne meine Schwester zurechtkommen sollte. Weiterhin suchte ich täglich ihr Zimmer auf. Ich hatte mir inzwischen angewöhnt, mich dort hinter geschlossener Tür leise mit ihr zu unterhalten und ihr zu berichten, was vor sich ging, seit sie nicht mehr da war. Ich war davon überzeugt, dass sie mir zuhörte. Meine Mutter hatte mir strengstens untersagt, Ausflüge auf meinem Fahrrad zu unternehmen. Sie wollte, dass ich mich auf unserem Grundstück aufhielt, da sie in panischer Angst lebte, auch noch mich an einen Raser zu verlieren. Dabei wäre ich so gern zu Angelina gefahren und hätte ihr mein Herz ausgeschüttet oder zum Spielen zu einem meiner Freunde, um auf andere Gedanken zu kommen. Ich sprach mit meinem Vater in der Hoffnung, er werde meiner Mutter das Verbot ausreden. Stattdessen bat er mich, mich bis auf Weiteres daran zu halten, bis sich die Situation beruhigt hatte, um meiner Mutter nicht noch mehr Kummer zu bereiten. Widerwillig fügte ich mich und fragte mich dabei, wann sich die Situation wieder beruhigen werde. Ob sie sich überhaupt jemals wieder beruhigen werde.

Dass die Polizei weiterhin hinsichtlich des geflüchteten Fahrers im Dunkeln tappte, war in unserem Ort kein Geheimnis. Die lokale Zeitung brachte sogar hin und wieder einen kurzen Artikel über den Unfall, der keine Neuigkeiten enthielt. Um das Sommerloch zu füllen, wie meine Mutter verbittert feststellte. Wer das getötete Mädchen gewesen war, war ebenfalls weitläufig bekannt.

Am letzten Ferientag, als ich mir den Nachmittag damit vertrieb, vor dem Haus allein ein wenig Fußball zu spielen - meine Mutter konnte die Anwesenheit und das Gelächter anderer Kinder zurzeit nicht ertragen -, sah ich eine kleine dicke Frau, eindeutig älter als meine Mutter, mit schwarzem kinnlangem Haar, die ein rotes, zeltartiges Kleid trug, an der Gartenpforte stehen und klingeln. Ich war mit meiner Mutter allein zu Hause. Frau Hubertus war unterwegs, um Lebensmittel einzukaufen, und mein Vater flüchtete sich schon seit einer Weile wieder in seine Arbeit. Wie zuvor verbrachte er viel Zeit in seinem Büro und hatte spätabends auch noch Termine wahrzunehmen. Vielleicht war das seine Art, um Melissa zu trauern.

Ich wusste, dass meine Mutter draußen auf der Terrasse saß und sich mit der Auswahl des Grabsteins befasste. Das Beerdigungsinstitut hatte ihr hierzu kürzlich mehrere Prospekte zukommen lassen. Daher ging ich an die Pforte.

„Hallo“, sprach die Frau mich an. Ihre Stimme klang heiser, als wäre sie erkältet oder starke Raucherin. „Sind deine Eltern da?“

„Nur meine Mutter“, gab ich zurück.

„Ob ich die mal sprechen könnte?“

Meine Eltern hatten mir von klein auf eingebläut, mich nicht von Fremden einlullen zu lassen. „Wer sind Sie denn?“, fragte ich daher etwas misstrauisch.

„Ich möchte deinen Eltern helfen“, lautete die ausweichende Antwort der Frau.

„Moment bitte.“ Ich trottete hinter das Haus zur Terrasse. Meine Mutter, die wie die Frau an der Pforte ein rotes Kleid trug - allerdings in einer viel kleineren und vermutlich um einiges teureren Variante -, saß auf einem der weißen Korbstühle mit gelbem Stoffpolster und war in die Prospekte vertieft, die sie auf dem ebenfalls weißen Holztisch für einen besseren Vergleich der verschiedenen Ausführungen vor sich ausgebreitet hatte.

„Da steht eine Frau an der Pforte. Sie sagt, sie will dir und Papa helfen“, machte ich mich bemerkbar.

Meine Mutter hob ihren Kopf und sah mich an. Ihr Gesicht hatte zum Glück wieder etwas mehr Farbe als in den ersten Tagen nach Melissas Tod, wenn es für meinen Geschmack auch nach wie vor zu hager war. „Dann sei doch so nett und bringe die Frau her. Hören wir uns gemeinsam an, was sie möchte.“

Es machte mich schon etwas stolz, dass meine Mutter mich in das Gespräch anstelle meines abwesenden Vaters mit einbeziehen wollte, und ich rannte zurück zur Pforte, um sie von innen zu öffnen. „Kommen Sie bitte mit“, lud ich die Frau ein, mir zu folgen. „Meine Mutter erwartet Sie hinter dem Haus.“

„Ihr habt aber einen schönen großen Garten“, stellte die Frau fest, während wir zur Terrasse gingen. „Wie herrlich hier alles blüht und gedeiht. Und alles ist so gepflegt. Macht das nicht eine Menge Arbeit?“

Ich fand es etwas merkwürdig, dass die Frau davon ausging, ich als Neunjähriger könnte mich näher mit dem Arbeitsaufwand, den unser Garten erforderte, auskennen. „Darum kümmert sich der Gärtner“, erwiderte ich nur.

„Verstehe.“

Meine Mutter, die die Prospekte offenbar ins Haus gebracht hatte, kam unserem Gast entgegen. „Marianne Hart. Guten Tag.“ Sie gab der Frau die Hand.

„Gesine Knop. Sehr erfreut.“ Die Frau sah sich um. „Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

„Ich habe vor meinem Sohn keine Geheimnisse“, stellte meine Mutter klar. „Und sonst ist hier niemand. Setzen Sie sich doch bitte.“

Die Frau setzte sich auf einen der Korbstühle – bei ihrer Leibesfülle musste sie sich regelrecht zwischen die Armlehnen zwängen - und faltete ihre Hände über ihrem wuchtigen Bauch. Ihre Finger sahen aus wie kleine Würste. Meine Mutter und ich nahmen ebenfalls Platz. Auf der umfangreichen Brust der Frau lag an einer langen goldenen Kette ein großer runder Anhänger, der die Erde darstellte. An mehreren Stellen auf den Kontinenten befanden sich kleine rote Steine, die wie Rubine aussahen, vielleicht aber auch nur aus Glas waren wie die Steine auf Melissas „Prinzessinnentasche“.

„Das sind die bedeutendsten Energiepunkte der Erde“, erklärte die Frau, der mein neugieriger Blick nicht entgangen war, und berührte mit ihrer rechten Hand den Anhänger. „Ich habe sie bereits alle mindestens einmal besucht.“

Mit der Aussage konnte ich nichts anfangen und hielt es daher für besser zu schweigen.

„Was führt Sie denn zu uns?“, wechselte meine Mutter das Thema, und zum ersten Mal seit Melissas Tod lag Interesse in ihrer Stimme.

„Ich habe davon erfahren, was Ihrer Tochter Schreckliches passiert ist“, erklärte die Frau. „Mein herzliches Beileid.“

Meine Mutter nahm die Beileidsbekundung mit einem ernsten Nicken zur Kenntnis.

„Dass der Täter immer noch frei herumläuft, muss für Sie unerträglich sein“, sprach die Frau weiter. „Ich möchte helfen, dass die Person, die das getan hat, zur Rechenschaft gezogen wird und Sie und Ihre Familie Ihren inneren Frieden wiederfinden. Soweit dies nach einem solchen Verlust überhaupt möglich ist.“

„Sind Sie eine Zeugin?“, wollte meine Mutter verwundert wissen.

„Ja, in gewisser Hinsicht. Ich arbeite als Medium und bin spezialisiert auf die Kontaktherstellung mit dem Jenseits, denn die Toten sind die besten Zeugen.“

Ich erwartete, dass meine Mutter die Frau angesichts dieses Unsinns hinauswerfen werde, doch das war nicht der Fall. Im Gegenteil, Frau Knop hatte die volle Aufmerksamkeit meiner Mutter. „Sie meinen, ...“ Meine Mutter suchte nach Worten. „Sie meinen, Sie wollen Kontakt zu Melissa aufnehmen?“

Frau Knop nickte. „So ist es. Ich könnte Ihre Tochter nach dem Tathergang und dem Autokennzeichen des Unfallfahrers befragen. In einer Trance würde ich alles, was Melissa beschreibt, vor mir sehen, inklusive des Menschen, der am Steuer saß.“

Meine Mutter atmete tief durch. „Das wäre ... Wenn Sie wüssten, was für eine Erleichterung es für uns wäre, diesen Menschen hinter Gittern zu sehen!“

„Ich weiß“, erwiderte Frau Knop sachlich. „Deshalb bin ich hier.“

„Und ... könnten Sie Melissa auch andere Fragen stellen?“, fragte meine Mutter begierig. „Wie ... es ihr dort, wo sie jetzt ist, geht, zum Beispiel?“

„Sicher. Das ist kein Problem. Sie können mir die Fragen an Ihre Tochter geben, und ich werde die Antworten für Sie in Erfahrung bringen.“

„Das wäre ...“ Die Augen meiner Mutter glänzten feucht. Leise sprach sie weiter. „Wenn Sie wüssten, was uns das bedeuten würde.“

Die Frau nickte nur wissend.

„Wann ... können Sie denn anfangen?“

„Im Grunde genommen sofort. Nachdem wir uns über mein Honorar einig geworden sind.“

„Über Ihr ... Honorar.“

„Ja. Schließlich kostet mich die Kontaktaufnahme mit dem Jenseits immense Energie und schwächt regelrecht meinen Körper. Das merke ich noch Tage später und muss dafür schon um eine Entschädigung bitten.“

Ich fragte mich, ob die Frau deshalb als vorbeugende Maßnahme so viel aß, um dem Energieentzug entgegenzuwirken, hütete mich aber davor, die Vermutung laut auszusprechen.

„Und dann habe ich natürlich auch Spesen“, fuhr Frau Knop fort. „Allein die Anfahrts- und Hotelkosten. Und von etwas leben muss ich ja auch noch.“

„Verstehe“, erwiderte meine Mutter nachdenklich.

„Aber nicht, dass Sie jetzt denken, dass ich Ihre Situation ausnutzen will“, stellte Frau Knop hastig klar.

„Nein, natürlich nicht. An ... welchen Betrag hatten Sie denn gedacht?“

„Fünftausend?“, schlug Frau Knop, ohne mit der Wimper zu zucken, vor.

„Fünftausend Mark?“, fragte meine Mutter nach.

Frau Knop nickte. Als meine Mutter nichts weiter sagte, kam sie ihr entgegen. „Also gut, weil Sie es sind: viertausendfünfhundert.“

„Darüber muss ich erst mit meinem Mann sprechen“, gab sich meine Mutter nun doch etwas zögerlich.

„Wie Sie möchten. Aber bedenken Sie bitte, dass ich dann noch eine weitere Nacht in einem Hotelzimmer bleiben muss. Die Kosten kommen dann noch dazu. Also viertausendsiebenhundert.“

„Könnten Sie uns vorab eventuell schon eine Kostprobe Ihres Könnens geben? Mein Mann steht diesen Dingen sehr misstrauisch gegenüber, und das würde ihn vielleicht überzeugen.“

„Ich habe mich in der Tat schon mit Ihrem Fall beschäftigt und mich gestern in eine leichte Trance begeben, um die Energien zu spüren, die zu dem schrecklichen Ereignis geführt haben“, teilte Frau Knop ganz selbstverständlich mit. Sie sah meine Mutter eindringlich an. „Und eines kann ich Ihnen mit Sicherheit sagen: Die Unglücksserie ist noch nicht vorbei. Insbesondere hat es der Unfallverursacher weiter auf Sie und Ihre Familie abgesehen.“

„Was ...?“ Meine Mutter war bei diesen Worten blass geworden.

„Ja“, bestätigte Frau Knop. „Aber dagegen lässt sich zum Glück etwas unternehmen. Eine energetische Reinigung Ihres Hauses würde Sie schon enorm gegen negative Energien von außen schützen. So etwas biete ich auch an. Gegen einen entsprechenden Aufpreis.“

„Das ist ja interessant“, hörten wir plötzlich die sarkastische Stimme meines Vaters, der, noch in Oberhemd und Anzughose gekleidet, in der offenen Terrassentür stand. Ich hatte keine Ahnung, wie lange er dem Gespräch schon gelauscht hatte, doch war er genau zum richtigen Zeitpunkt nach Hause gekommen, obwohl es für seinen Feierabend noch viel zu früh war. Als hätte er geahnt, dass er hier gebraucht wurde.

Meine Mutter stand auf und ging auf meinen Vater zu. „Konrad, das hier ist Frau Knop.“ Sie wies auf die Besucherin. „Sie möchte uns helfen, den Menschen zur Rechenschaft zu ziehen, der uns Melissa genommen hat.“

Frau Knop stemmte sich mühsam aus ihrem Stuhl, näherte sich meinen Eltern und hielt meinem Vater lächelnd ihre Hand entgegen. „Gesine Knop, von Beruf Medium, und Ihnen sehr gern für die Kontaktaufnahme mit Ihrer Tochter zu Diensten, Herr Hart. Wir können sofort beginnen. Bei dem Preis sind Ihre Frau und ich uns schon so weit einig. Bargeldzahlungen sind mir am liebsten, aber in Ihrem Fall ...“

„Verschwinden Sie“, erwiderte mein Vater verärgert, ohne die Hand zu ergreifen und das schockierte Gesicht meiner Mutter zu beachten.

„Wie?“ Frau Knops Lächeln erstarb.

„Verlassen Sie sofort mein Grundstück. Oder ich rufe die Polizei.“

„Aber ...“, suchte Frau Knop nach Worten. „Aber Ihre Frau und ich ...“

„Wird‛s bald“, drängte mein Vater.

„Nun gut“, gab Frau Knop pikiert zurück. „Aber eins sage ich Ihnen: Das werden Sie noch bitter bereuen.“

„Und Sie werden es bereuen, wenn Sie uns auch nur noch eine Minute weiter belästigen.“

„Ich bringe Sie zur Pforte“, bot meine Mutter an, die wohl einsah, dass es keinen Sinn hatte, mit meinem Vater zu diskutieren.

„Machen Sie sich keine Mühe. Ich finde allein zurück“, lehnte Frau Knop ab, bevor sie sich in leicht watschelndem Schritt davonmachte.

Mein Vater wartete einen Moment, bevor er nachsah, ob sie das Grundstück auch tatsächlich verlassen hatte.

„Wie konntest du das nur tun!“, griff ihn meine Mutter bei seiner Rückkehr auf die Terrasse in vorwurfsvollem Ton an. „Frau Knop war unsere einzige Möglichkeit, die Person zu finden, die Melissa auf dem Gewissen hat, und du behandelst sie wie eine Betrügerin! Außerdem hätten wir Melissa mit der Hilfe von Frau Knop Fragen stellen können! Weißt du, wie gern ich mit meiner Tochter sprechen würde? Weißt du das?“

Im Gegensatz zu meiner Mutter blieb mein Vater vollkommen ruhig. „Dieses sogenannte Medium ist nichts als eine miese Betrügerin, Marianne, die deine hilflose Situation schamlos ausnutzen wollte.“

Meine hilflose Situation?“ Die Stimme meiner Mutter war unangenehm schrill geworden. „Und du? Fühlst du dich nicht hilflos, weil der Täter weiterhin auf freiem Fuß ist? Kümmert dich das alles gar nicht?“

„Natürlich kümmert es mich. Aber deshalb lasse ich mich doch nicht von irgendwelchen dahergelaufenen Scharlatanen einwickeln.“

„Das werden wir bereuen, dass wir ihre Hilfe nicht in Anspruch genommen haben, hat Frau Knop gesagt.“ Meine Mutter begann zu weinen.

„Das war keine Hilfe.“

Doch meine Mutter hörte meinem Vater gar nicht zu. „Und dass unsere Unglücksserie noch nicht vorbei ist. Dass Melissas Mörder es auch auf uns abgesehen hat!“

Mein Vater ließ sich von dem verzweifelten Klagen nicht im Geringsten beeindrucken. „Ich habe jedes Wort von diesem Unsinn gehört.“ Er stellte sich meiner Mutter dicht gegenüber und umfasste sie an beiden Schultern. „Denn alles, was diese Betrügerin von sich gegeben hat, ist Unsinn. Sieh mich an, Marianne. Hörst du mir zu? Verstehst du, was ich sage?“

„Es wird noch schlimmer kommen“, stammelte meine Mutter und sah dabei über die Schulter meines Vaters hinweg ins Leere. „Wir werden weiter vom Unglück verfolgt werden.“ Dann schrie sie ihn an: „Und du allein bist schuld daran!“ Sie riss sich los und lief ins Haus.

„Es tut mir leid, dass du das miterleben musstest, Constantin“, wandte sich mein Vater an mich.

Ich war am Tisch sitzen geblieben und hatte alles fassungslos mit angesehen. Nun erhob ich mich und ging auf meinen Vater zu. „Und ... wenn diese Wahrsagerin doch Recht hat?“

„Das ist eine Betrügerin, Constantin“, widersprach mein Vater mit fester Stimme. „Die die Verzweiflung von Menschen ausnutzt und nur ihren eigenen Vorteil im Sinn hat. Es scheint, dass ich gerade im rechten Moment nach Hause gekommen bin. Gleich muss ich aber noch einmal los zu einem Termin. Kümmere dich bitte um deine Mutter. Sie braucht dich.“

Nachdem mein Vater die Terrasse verlassen hatte, blieb ich noch eine Weile dort und dachte über die warnenden Worte von dieser Frau Knop nach. Und wenn sie doch Recht hatte und weiteres Unglück auf uns zukommen würde? Meine Befürchtung, die Weissagung des Mediums könnte eintreffen, sollte sich als nicht unberechtigt erweisen. Denn an diesem Abend sah meine Mutter zum ersten Mal den fremden Mann in unserem Garten.

Ich hatte meine Mutter, weil es der letzte Ferientag war, dazu überreden können, unser Abendessen, bestehend aus von Frau Hubertus zubereitetem Pfannengemüse mit Reis, ausnahmsweise vor dem Fernseher einzunehmen. Vermutlich kam meiner Mutter etwas Zerstreuung sehr gelegen, und so sahen wir uns nebeneinander auf dem Sofa sitzend, beide mit einem Teller auf dem Schoß, eine Vorabendserie an. Meine Mutter lachte sogar wie ich an einigen lustigen Stellen, was mich sehr freute. Als wir unser Essen beendet hatten, trug meine Mutter das Geschirr in die Küche, während ich, da die Serie zu Ende war, zwischen den Programmen hin- und herschaltete, um etwas ebenso Unterhaltsames zu finden. Plötzlich stieß meine Mutter in der Küche einen durchdringenden Schrei aus. Ich dachte, sie habe sie verletzt, und eilte sofort zu ihr, um ihr zu helfen. Meine Mutter stand am Küchenfenster, das einen Blick auf den Garten neben dem Haus bot, und starrte hinaus.

„Mama ...“ Ich umfasste sie von hinten. Ihr Körper war ganz steif, und sie reagierte überhaupt nicht. „Mama, was hast du denn?“

„Geh vom Fenster weg“, forderte mich meine Mutter unvermittelt auf und zog die orangegelb karierten Vorhänge vor dem Fenster energisch zu. Zusammen mit mir ging sie zurück ins Wohnzimmer und lugte hinter der Gardine auf die Terrasse und in den dahinter gelegenen Garten.“

„Mama, was ist denn?“, fragte ich erneut.

„Schsch!“ Meine Mutter legte kurz einen Finger an ihre Lippen. „Sonst hört er uns noch“, flüsterte sie und verdunkelte den Raum, indem sie auch dort die Vorhänge vor die Fenster und die Terrassentür zog.

„Wer?“, flüsterte ich nun ebenfalls.

„Es ist am besten, wenn du jetzt schlafen gehst“, forderte mich meine Mutter unvermittelt mit leiser Stimme auf, ohne auf meine Frage einzugehen. „Morgen fängt die Schule wieder an.“

„Was, jetzt schon?“, protestierte ich. „Ich bin doch kein Baby und außerdem überhaupt nicht müde! Ich will noch aufbleiben und fernsehen!“

„Du sollst leise sein, habe ich gesagt!“, zischte meine Mutter. „Und jetzt gehst du nach oben und machst dich fürs Bett fertig!“

„Mann!“ Wütend stapfte ich die Treppe hinauf. Ich hatte keine Ahnung, was auf einmal in meine Mutter gefahren war, sah aber ein, dass Diskussionen sinnlos waren. Ich hoffte inständig auf die sofortige Rückkehr meines Vaters. Vielleicht könnte er ein zweites Mal an diesem Tag zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein und mich vor einer viel zu frühen Bettruhe bewahren.

Ich war im Badezimmer und putzte mir die Zähne, als ich meine Mutter kurz darauf die Treppe hinaufkommen hörte. Meinen Schlafanzug hatte ich mir noch nicht angezogen, weil ich das einfach zu blöd fand. Wahrscheinlich hatte meine Mutter nun ihren Irrtum eingesehen und wollte sich bei mir entschuldigen und mich auffordern, wieder nach unten zu kommen, um weiter fernzusehen. Bei dem Gedanken spülte ich schnell meinen Mund aus. Doch meine Mutter kam nicht zu mir ins Badezimmer. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet und wieder geschlossen wurde. Es konnte doch nicht wahr sein, dass meine Mutter jetzt auch schon schlafen ging! Dann wäre sie bald wieder in genauso einem schlechten Zustand wie direkt nach Melissas Tod. Dabei hatte ich angenommen, dass es ihr von Tag zu Tag langsam besser ging. Diese verdammte Frau Knop war schuld an alledem! Sie hatte meine Mutter mit ihrem dummen Geschwätz vom Jenseits ganz verrückt gemacht! Ich verließ das Badezimmer und war im Begriff, die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern zu öffnen, um nach dem Rechten zu sehen, als ich die Stimme meiner Mutter hörte, die offenbar telefonierte. Ich ließ die Türklinke los und horchte angespannt.

„Mami?“, sagte meine Mutter und klang dabei wie ein kleines Mädchen. „Hat Erich dich endlich gefunden? Wo warst du denn?“ ... „Er ist wieder da, Mami.“ ... „Na, wer wohl?“ ... „Bruno Buhr!“ Meine Mutter klang schrecklich verängstigt, als sie den Namen, der mir nicht das Geringste sagte, aussprach, und begann zu weinen. „Es geht alles wieder von vorn los, Mami! Bruno hat unsere Melissa überfahren, und jetzt hat er es auf uns alle abgesehen!“ ... „Weil mir das ein Medium heute gesagt hat!“ ... „Aber ich habe ihn doch gesehen! Heute Abend! In unserem Garten! Er stand nur da und hat mich angestarrt!“ ... „Das weiß ich doch nicht! Er wird wohl irgendwie hinübergeklettert sein!“ ... „Was soll ich denn jetzt machen, Mami?“ ... „Konrad? Auf gar keinen Fall! Der weiß das doch alles nicht! Kannst du nicht zu uns kommen, Mami, und für eine Weile bei uns wohnen? Ich habe Angst allein. Morgen muss Constantin wieder zur Schule, und Frau Bäumler fühlt sich schnell gestört, wenn ich mich dort aufhalte, wo sie saubermacht.“ ... „Ja. Ja, ist gut. Auf dich ist Verlass, Mami. Was sollte ich nur ohne dich machen? Dann bis später.“

Ich zog mich zurück in mein Zimmer, legte mich sicherheitshalber in mein Bett und zog die Decke hoch bis unter mein Kinn, falls meine Mutter nach mir sehen sollte, obwohl mir das unwahrscheinlich schien, denn offensichtlich beschäftigten sie zurzeit ganz andere Dinge. Bruno Buhr. Wer mochte das nur sein? Und es hatte sich während des Telefonats meiner Mutter so angehört, als würde meine Großmutter diesen Bruno Buhr ebenfalls kennen. Wieso kam meine Mutter auf einmal darauf, er könnte Melissa überfahren haben? Ich verstand das alles nicht.

Es war draußen immer noch hell, als ich die Klingel der Pforte hörte. Kurz darauf vernahm ich die Stimme meiner Großmutter und schlich zum Treppenabsatz, um zu lauschen.

„Mami, endlich!“, schluchzte meine Mutter.

„Anni, mein Mädchen. Was ist denn nur los?“

„Das habe ich dir doch schon am Telefon gesagt! Bruno Buhr ist wieder hier! Hast du ihn denn nicht im Garten herumlungern sehen?“

„Nein, mein Kind“, erwiderte meine Großmutter mit beschwichtigender Stimme. „Da war niemand. Soll ich auch noch im Rest des Gartens nachsehen?“

„Um Gottes willen, Mami! Das ist viel zu gefährlich! Wenn Bruno dir nun etwas antut! Er ist doch viel stärker als du und kann dich ohne Schwierigkeiten überwältigen!“

„Wann erwartest du Konrad denn zurück?“ Die Stimme meiner Großmutter klang, als wäre ihr die Situation unangenehm. „Und wo ist Constantin?“

„Constantin habe ich in sein Zimmer geschickt. Oben ist er am sichersten. Und Konrad? Was weiß ich, wann der nach Hause kommt! Das kann bei ihm spät werden! Dafür taucht er in den unpassendsten Momenten auf! Frau Knop, das Medium, das uns helfen wollte, hat er heute Nachmittag vertrieben! Einfach vom Grundstück gejagt hat er sie! Dabei hätte sie uns vor dem Unglück bewahren können, das nun im wahrsten Sinne des Wortes vor der Tür steht!“

„Nun beruhige dich erst einmal“, schlug meine Großmutter vor. „Komm, wir setzen uns in Ruhe ins Wohnzimmer und warten auf Konrad.“

„‚In Ruhe?‛“, fragte meine Mutter fassungslos. „Wie soll ich da ruhig bleiben, wenn Bruno Buhr draußen herumstreift?“

„Du solltest mit Konrad darüber sprechen.“ Die Stimme meiner Großmutter wurde leiser. Ich schlich die Treppe hinunter, um weiterhin zu verstehen, was im Wohnzimmer gesprochen wurde.

„Damit mich Konrad auslacht, oder was? Und dann müsste ich ihm auch von früher erzählen, was Bruno Buhr mit Dodo gemacht hat. Das weiß er doch alles gar nicht. Wahrscheinlich würde ich mich sofort verlassen.“

Wer um Himmels willen war Dodo? Ich hatte den Namen noch nie zuvor gehört.

„Ich spreche mit Konrad“, entschied meine Großmutter. „Lass dir helfen, Anni.“

„Nein! Mami, ich flehe dich an! Kein Wort zu Konrad! Wir tun einfach so, als hättest du dich spontan entschieden, uns zu besuchen und ein paar Tage zu bleiben. Ja, Mami?“

Meine Großmutter schwieg.

„Ja?“, drängte meine Mutter beinah verzweifelt. „Wir lassen uns Konrad gegenüber nichts anmerken und halten in den nächsten Tagen zusammen Ausschau nach Bruno Buhr. Und wenn wir ihn auf frischer Tat ertappen, wie er hier ums Haus schleicht, rufen wir die Polizei, damit sie ihn festnehmen kann. Ja, Mami? Ja?“

„Meinetwegen“, gab sich meine Großmutter geschlagen. „Aber wenn wir ihn nicht sehen, hörst du auf damit, Anni.“ Sie klang plötzlich streng. „Hast du mich verstanden! Dann siehst du ein, dass du dich geirrt hast, und gibst Ruhe von dem Thema!“

„Aber ich habe mich nicht geirrt, Mami. Nie im Leben! Ich kenne doch Bruno Buhr! Bis an mein Lebensende werde ich sein Gesicht nicht vergessen! Bis an mein Lebensende!“

In dem Moment wurde die Haustür aufgeschlossen, und mein Vater betrat den Flur. „Nanu, Constantin. Was stehst du denn hier herum?“ Dann hörte er die Stimmen aus dem Wohnzimmer und betrat den Raum, wobei ich ihm folgte. „Annemarie.“ Die sachliche Feststellung ließ nicht die geringste Freude über den Besuch seiner Schwiegermutter, die neben meiner Mutter auf dem schwarzen Ledersofa gesessen hatte und sich nun erhob, erkennen.

„Ja, Konrad. Ich habe mich spontan entschlossen, euch für ein paar Tage zu besuchen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.“

„Für ein paar Tage gleich?“ Mein Vater gab sich nicht die geringste Mühe zu verbergen, dass er davon alles andere als angetan war.

„Hallo Constantin.“ Meine Großmutter kam auf mich zu, statt auf die Bemerkung meines Vaters einzugehen, und drückte mich an sich. „Wie geht es dir? Morgen beginnt wieder die Schule, nicht war?“

Ich nickte nur. Dabei hätte ich am liebsten gefragt, wer Bruno Buhr und Dodo seien.

„Wieso habt ihr die Vorhänge zugezogen und sitzt hier im Dunkeln?“, wollte mein Vater verwundert wissen.

„Wir dachten, das wäre gemütlicher“, lautete die wenig überzeugende Antwort meiner Großmutter, die sich wieder zu meiner Mutter auf das Sofa setzte.

„So ein Unsinn.“ Mein Vater zog nacheinander die Vorhänge auf. Die Augen meiner Mutter weiteten sich vor Entsetzen, jedoch sagte sie nichts. „Im Sommer bleiben die Vorhänge gefälligst offen“, entschied mein Vater und wandte sich an meine Großmutter. „Untersteh dich, hier neue Sitten einzuführen.“

„Das hatte ich keineswegs vor“, erwiderte meine Großmutter ruhig.

„Ich weiß nicht, wie es euch geht“, sagte mein Vater und ging auf die Bar zu, die sich hinter einer der Schranktüren befand, „aber ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir und brauche jetzt erst einmal einen Drink. Und dann will ich mir im Fernsehen gleich eine politische Diskussion ansehen, die mich sehr interessiert. Falls das bei euch nicht der Fall ist, schlage ich vor, dass ihr euch woanders weiterunterhaltet.“

„Wir leisten dir gern Gesellschaft“, antwortete meine Großmutter freundlich, während es meiner Mutter angesichts dieser Unhöflichkeit offenbar die Sprache verschlagen hatte. „Und stoßen mit dir auf deine Erfolge an.“

„Wie ihr meint, obwohl ich nicht weiß, wie gut sich das mit den Tabletten verträgt, die Marianne konsumiert. Und du, Annemarie, nimmst doch sicher auch regelmäßig Medikamente ein. Würde mich in Anbetracht deines Alters jedenfalls wundern, wenn es nicht so wäre.“ Mein Vater goss seelenruhig etwas von einem bernsteinfarbenen alkoholischen Getränk in drei Gläser, während sich meine Großmutter und meine Mutter nur fassungslos ansahen. „Wie kommt es eigentlich“, fragte er, als er meiner Mutter und meiner Großmutter jeweils ein Glas reichte, „dass Constantin im Flur herumsteht, während ihr es euch in unserem abgedunkelten Wohnzimmer gemütlich macht?“ Mein Vater hatte eine sehr gute Beobachtungsgabe und konnte es förmlich wittern, wenn etwas auch nur ansatzweise verdächtig war.

Wieder antwortete meine Großmutter anstelle meiner Mutter. „Constantin war oben in seinem Zimmer und kam wohl gerade herunter, als du ihn im Flur antrafst.“

„Stimmt das?“, wandte sich mein Vater an mich.

Ich nickte aus Angst, etwas Falsches zu sagen.

„Nun gut. Belassen wir es dabei, obwohl ich weiß, dass ihr lügt. Ihr werdet schon eure Gründe dafür haben.“ Mein Vater stellte sein Glas auf dem Couchtisch ab und schaltete den Fernseher an, in dem bereits die politische Diskussionsrunde lief.

„Aber Konrad“, sprach nun endlich meine Mutter. „Wir lügen dich doch nicht ...“

Mein Vater hob abwehrend die Hand. „Ich habe gesagt, ich will mir das hier in Ruhe ansehen, Marianne. Hör jetzt also bitte mit dem Gerede auf.“

Meine Mutter presste beschämt die Lippen aufeinander.

„Komm, wir gehen in die Küche“, schlug ihr meine Großmutter flüsternd vor.

Ich zog es vor, bei meinem Vater zu bleiben, der konzentriert das Streitgespräch auf dem Bildschirm verfolgte. Obwohl ich nicht wusste, ob es ihn überhaupt interessierte, tat ich so, als fände ich die Diskussion ebenfalls sehr spannend. Dabei dachte ich die ganze Zeit darüber nach, was mein Vater dazu sagen würde, wenn ich ihm von Dodo und Bruno Buhr erzählen würde.

Am nächsten Morgen nahm mein Vater sein Frühstück demonstrativ allein im Esszimmer ein, während ich mit meiner Mutter und meiner Großmutter am Küchentisch saß. Ich fand es seltsam, dass meine Großmutter schon so früh aufstand, wo sie doch hätte ausschlafen können, aber sie erklärte mir mit einem Seitenblick auf meine Mutter, dass ältere Menschen nicht mehr so viel Schlaf benötigten und der frühe Vogel den Wurm fange.

Im Gegensatz zu sonst freute ich mich sehr auf meinen ersten Schultag nach den Ferien. Endlich würde ich wieder unter Menschen sein und mit meinen Freunden auf dem Schulhof spielen können. Große Hoffnung, dass mir meine Mutter demnächst wieder erlauben würde, mit dem Fahrrad unterwegs zu sein, machte ich mir angesichts ihrer seltsamen Sorge um Bruno Buhr derzeit nicht. Doch damit, dass mich meine Mutter an diesem Morgen sogar zur Bushaltestelle begleiten wollte, wie sie während des Frühstücks ankündigte, statt mir nur von unserem Grundstück aus hinterherzusehen, hätte ich nie und nimmer gerechnet.

„Es ist sicherer, wenn ich mitkomme“, erklärte sie, während ich mir im Flur meinen Schulranzen auf den Rücken schnallte, obwohl sie das während des Frühstücks sicher schon dreimal gesagt hatte, ohne Widerworte zuzulassen. „Ich will nicht, dass dir etwas so Schlimmes passiert wie Melissa. Das könnte ich nicht ertragen.“

„Mama ...“, versuchte ich ein letztes Mal, missmutig einzuwenden. „Ich werde demnächst zehn! Die anderen lachen mich doch aus, wenn du mit zur Bushaltestelle kommst.“

„So, tun sie das?“, gab meine Mutter spitz zurück. „Dann erzähle ihnen doch mal, was deiner Schwester zugestoßen ist! Dass sie ein Verrückter überfahren und anschließend wie Müll in einen Graben geworfen hat! Dann vergeht ihnen vielleicht das Lachen!“

„Was ist hier schon wieder los?“, fragte mein Vater in der Esszimmertür stehend.

„Ich begleite Constantin zur Bushaltestelle“, erwiderte meine Mutter entschlossen. „Das ist alles. Kein Grund für dich, dich da einzumischen.“

„Und ob das ein Grund für mich ist. Du lässt den Jungen gefälligst allein zur Bushaltestelle gehen! Und das morgendliche Hinterherschauen hört jetzt auch auf! Du machst uns alle noch zum Gespött der Leute mit deinem Geglucke!“

Einerseits tat es richtig gut, diese Worte, die ich meiner Mutter gern gesagt hätte, aus dem Mund meines Vaters zu hören. Andererseits lag nun schon wieder ein Streit in der Luft, nachdem sich beide während der letzten Zeit zusammengerissen hatten.

„Du kannst mir nicht verbieten, meinen Sohn zu beschützen!“, widersprach meine Mutter.

„Du kannst ihn nicht vor allem beschützen! Und er muss selbständig werden, Gefahren allein erkennen! Das kannst du ihm nicht abnehmen!“

„Und wenn er auch überfahren wird, Konrad? Was dann? Dann haben wir beide Kinder verloren!“ Meine Mutter begann zu weinen. „Ich will nicht, dass er da draußen allein ist. Außerdem muss ich gleich erst einmal nachsehen, ob jemand in unserem Garten ist!“

„Wie bitte?“ Mein Vater runzelte verständnislos die Stirn. „Wer soll denn in unserem Garten sein?“

„Weiß nicht“, antwortete meine Mutter ausweichend. „Irgendein ... Spinner eben.“

„Irgendein Spinner, soso. Das muss dann aber ein fliegender Spinner sein, oder wie soll er über den Zaun kommen?“

„Es gibt Leitern“, gab meine Mutter in würdevollem Tonfall zurück.

„Leitern. Aha. Marianne, wir haben in unserem Garten unnötigerweise mehrere Überwachungskameras, falls ich dich daran erinnern darf. Weil du es damals unbedingt so wolltest. Niemand schleicht ungesehen in unserem Garten herum.“

„Doch“, widersprach meine Mutter. „Gestern war da jemand. Deshalb habe ich auch die Vorhänge zugezogen.“

„Wusste ich doch, dass irgendwas faul war. Ich sehe mir heute Abend die Bilder der Überwachungskameras an. Dann werden wir Mister X ja durchs Bild huschen sehen.“ Sarkastisch fügte mein Vater hinzu: „Vielleicht hat er ja Flügel.“

„Ich glaube, mein Schulbus ist gleich weg“, traute ich mich, mich vorsichtig in das Gespräch einzumischen.

„Da siehst du mal wieder, wie viel kostbare Zeit uns deine hysterischen Anfälle kosten, Marianne. Herzlichen Glückwunsch.“ Lächelnd sah mich mein Vater an. „Weißt du, Constantin, ich habe mich schon länger gefragt, weshalb du bei dem schönen Wetter nicht mit dem Fahrrad fährst. Die Schule liegt doch nur einen Katzensprung entfernt.“

„Nein, Konrad, bitte nicht“, wimmerte meine Mutter.

„Doch. Komm, Constantin, nimm dein Fahrrad, und los geht‛s. Du hast lange genug darauf verzichtet. Und geholfen hat es anscheinend überhaupt nichts.“

„Nein ... nein.“ Meine Mutter hielt sich weinend beide Hände vor das Gesicht und schüttelte langsam ihren Kopf. „Bitte tu mir das nicht an, Konrad.“

Meine Großmutter erschien mit besorgtem Gesicht in der Küchentür.

„Du hältst dich gefälligst da raus“, befahl mein Vater ihr und zeigte dabei drohend mit dem Zeigefinger auf sie. Dann drängte er mich: „Los, Constantin. Beeil dich, damit du es noch rechtzeitig schaffst.“

Zweifelnd sah ich zu meiner Mutter.

„Du sollst dich beeilen, habe ich gesagt“, wiederholte mein Vater im Kommandoton. „Wird‛s bald.“

„Tschüss, Mama.“ Ich ging auf meine Mutter zu, um sie zu umarmen, doch sie wich zurück, drängte sich an meiner Großmutter vorbei und verschwand in der Küche.

„Was bist du nur für ein Mensch, Konrad“, sagte meine Großmutter leise, bevor sie zu meiner Mutter eilte, um sie zu trösten.

Glücklicherweise schaffte ich es, rechtzeitig zur ersten Unterrichtsstunde, in der Guido unserer Klasse von unserer Klassenlehrerin als neuer Mitschüler vorgestellt wurde, in der Schule zu sein. Die Tische in unserem Klassenzimmer waren in einer U-Form angeordnet. Ich forderte einige Klassenkameraden auf, jeweils einen Stuhl zur Seite zu rücken, damit Guido neben mir sitzen könne. Seltsamerweise kamen alle meiner Bitte ohne Widerworte sofort nach. Das lag sicher daran, dass sie wussten, was Melissa zugestoßen war, und sie deshalb besonders nett zu mir sein wollten. Alle wussten, dass Melissa tot war, dass ich in den Sommerferien meine kleine Schwester verloren hatte.

„Das ist aber sehr nett von dir, Constantin“, lobte mich meine Klassenlehrerin, Frau Jäger, die noch recht jung war und sehr krauses blondes Haar hatte, das ihr bis zu den Schultern reichte.

„Guido und ich kennen uns schon. Wir sind Freunde“, erwiderte ich nur.

Meine Klassenlehrerin nickte, und ihre Augen glänzten dabei seltsam feucht hinter den Gläsern ihrer Brille. Anschließend sollten alle der Reihe nach von ihren Erlebnissen während der Sommerferien erzählen. Guido berichtete von den Tagen, die er mit seinem Vater verbracht hatte, und sagte anschließend, da Frau Jäger aufgrund seines Namens vermutete, dass er italienische Wurzeln habe, zu ihrem Entzücken noch ein paar melodische Worte in der Muttersprache seiner Mutter. Ich persönlich hätte es viel interessanter gefunden, wenn ich etwas über Angelina selbst erfahren hätte.

Als ich nach Guido an der Reihe gewesen wäre zu berichten, was ich Schönes während der Sommerferien gemacht hatte, überging Frau Jäger mich einfach und rief stattdessen den Jungen auf, der zu meiner anderen Seite saß. Sicher wollte sie es mir ersparen, den anderen zu schildern, wie es war, seine Schwester durch einen leichtsinnigen Raser, der auch noch Fahrerflucht begangen hatte, zu verlieren.

Den ganzen Vormittag wich ich nicht von Guidos Seite, der anscheinend froh war, nicht auf sich allein gestellt zu sein, und nichts dagegen hatte, dass ich ihm alles zeigte und in den Pausen mit ihm über den Schulhof rannte.

„Wollen wir uns nachher zum Spielen treffen?“, fragte er mich, als wir nach dem Unterricht auf die Fahrradständer zugingen. Da erst fiel mir wieder die Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern vom Morgen ein. Glücklicherweise hatten mich der Schulalltag und Guido so abgelenkt, dass ich gar nicht mehr daran gedacht hatte.

„Ich weiß nicht, ob ich darf“, gab ich mich zögerlich, obwohl ich liebend gern zugesagt hätte, schon allein wegen der Chance, so Angelina wiederzubegegnen.

„Ist es ... wegen dem, was mit deiner Schwester passiert ist?“, wollte Guido vorsichtig wissen. Natürlich wusste auch er davon. Alle wussten davon. Doch niemand hatte mir gegenüber heute in der Schule auch nur ein Wort darüber verloren.

„Ja“, antwortete ich nur. Es fiel mir schwer, die für mich nicht nachvollziehbaren Ängste meiner Mutter in Worte zu fassen.

„Ich bin jedenfalls nachher mit meinen Murmeln vor dem Friseursalon“, ließ mich Guido wissen.

„Und wo isst du dein Mittagessen?“, erkundigte ich mich neugierig.

„Meine Mutter kocht was während ihrer Mittagspause“, erklärte Guido. „Obwohl sie nicht gut kochen kann.“

„Nicht?“ Das erstaunte mich. Ich hatte geglaubt, alle Italiener würden ständig Pizza backen und Pasta mit Tomatensauce kochen wie in dem italienischen Restaurant, das ich mit meinen Eltern und Melissa manchmal besucht hatte.

„Nee.“ Guido schüttelte den Kopf. „Was meine Mutter kocht, schmeckt überhaupt nicht, und sonst kriegt sie im Haushalt auch nicht viel hin.“

„Meine Mutter auch nicht“, versuchte ich, Guido zu trösten, obwohl mich seine harten Worte über Angelina schon etwas trafen. „Deshalb erledigen bei uns fast alles Frau Hubertus und Frau Bäumler. Das sind unsere Haushälterinnen, wobei ich Frau Hubertus lieber mag. Frau Bäumler hasst Kinder, glaube ich.“

„Bei uns zu Hause muss ich alles machen“, vertraute mir Guido an, ohne auf meinen Bericht einzugehen.

„Wie: Du musst alles machen? Was meinst du damit?“

„Na, waschen, putzen und so weiter. Seit Kurzem auch noch bügeln. Meine Mutter kümmert sich um gar nichts.“

„Was?“ Ich konnte es nicht fassen. Meine Mutter bestand ab und zu darauf, dass ich mein Zimmer aufräumte, damit ich Ordnung lernte. Das war aber auch alles, was ich an Arbeiten erledigen musste, wenn man das überhaupt als Arbeit bezeichnen konnte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass das nicht bei allen Kindern so war.

„Ja. Wirklich. Meine Mutter hat nur ihren Salon und ihre Freunde im Kopf.“

„Was denn für Freunde?“, erkundigte ich mich verdutzt. „Sabrina und Emily?“

„Nein, nicht Sabrina und Emily. Du kapierst aber auch gar nichts“, warf mir Guido mit leicht verärgerter Stimme vor. „Männer. Meine Mutter trifft sich ständig mit irgendwelchen Männern.“

Das war wie ein Schlag ins Gesicht. Schon, dass es diesen Harry mit Ferienhaus am Meer und eigenem Boot gab, war für mich schwer zu ertragen. Und das sollte noch nicht einmal der Einzige sein? Das durfte nicht wahr sein. „Das glaube ich nicht“, war alles, was mir als Erwiderung einfiel.

„Es stimmt aber“, bekräftigte Guido unbeeindruckt. „Meine Mutter mag Männer mit viel Geld. Weil sie selbst nicht viel hat und die Männer ihr viel schenken. Darum hat uns auch mein Vater verlassen. Wegen der anderen Männer. Er konnte es nicht mehr ertragen.“

„Echt?“

„Kannst du mir ruhig glauben. Und ich muss den Haushalt machen, während sie unterwegs ist. Und wehe, es ist nicht alles tipptopp, wenn sie zurück ist. Dann gibt‛s richtig Ärger.“

„Aber heute Nachmittag ... hättest du Zeit zum Spielen?“, wollte ich wissen.

„Ja, wenn schönes Wetter ist, darf ich raus. Dafür muss ich dann heute Abend putzen. Sonst gibt‛s ein Donnerwetter.“

„Okay, ich werde sehen, dass ich nachher zum Salon kommen kann“, lenkte ich hastig ein, um das mir äußerst unangenehme Thema zu beenden. „Kann ich aber nicht versprechen.“

„Ist schon in Ordnung.“ Guido lächelte mich an und zeigte dabei seine Zahnspange. „Ich finde es toll, dass du überhaupt was mit mir zu tun haben willst. An meiner alten Schule war ich ganz allein.“

Auf dem Nachhauseweg dachte ich darüber nach, was mir Guido soeben anvertraut hatte. Ich konnte das nicht glauben. Das durfte einfach nicht wahr sein. Angelina war so eine nette, freundliche Frau. Eine bezaubernde Frau, um genau zu sein. Die bezauberndste Frau, der ich je begegnet war. Jemand wie sie behandelte ihr Kind doch nicht wie einen Sklaven. So etwas hatte ich von überhaupt noch niemandem gehört. Guido musste sich das ausgedacht oder im Fernsehen gesehen haben. Mein Vater hatte mich schon oft darauf aufmerksam gemacht, dass im Fernsehen viel Blödsinn gezeigt werde, was die meisten auch noch glaubten, weil sie zu dumm seien zu erkennen, dass alles gelogen sei. Er hatte mir geraten, höchstens zehn Prozent von dem zu glauben, was ich im Fernsehen sah. Wobei ich nicht wusste, was zehn Prozent waren, was ich meinem Vater gegenüber aber nicht zugegeben hatte. Vielleicht nahm Guido es auch einfach mit der Wahrheit nicht so genau wie einige andere meiner Freunde, die zum Beispiel unglaubliche Geschichten über ihre Väter erzählten, die darüber hinwegtäuschen sollten, dass ihre Väter längst nicht so viel Geld verdienten wie mein Vater.

An unserem Grundstück angekommen, klingelte ich an der Pforte und stellte mein Fahrrad ordnungsgemäß ab, bevor ich das Haus betrat. Frau Bäumler erwartete mich im Flur. „Na, ersten Tag geschafft?“, wollte sie wissen.

Ich wunderte mich, dass sie freiwillig mit mir sprach. Das tat sie sonst nie. Etwas stimmte nicht. „Ja“, antwortete ich.

„Ich hoffe, du hast Hunger mitgebracht.“

„Klar.“

„Willst du heute oben in deinem Zimmer essen?“

„Wieso?“ Sonst nahm ich mein Mittagessen immer in der Küche ein.

„Nur so. Wäre mal was anderes.“ Frau Bäumler lächelte etwas gezwungen.

Entschlossen ging ich an ihr vorbei, öffnete die Küchentür und sah in den großen Raum, der völlig im Dunkeln lag. Nicht nur die Vorhänge vor dem Fenster waren zugezogen, auch die Außenjalousien waren heruntergelassen worden. Ich drehte mich zu Frau Bäumler um und sah sie fragend an.

„Deine Mutter wollte das so“, erklärte sie. „Weil sie vorhin jemanden im Garten herumstreunen gesehen hat. Die Polizei war deswegen erst hier, hat aber niemanden gefunden. Alle Fenster im Erdgeschoss mussten verrammelt werden.“ Mit einem verständnislosen Kopfschütteln fügte sie hinzu: „Da kann einem ganz anders werden. Nur durch die Scheiben neben der Haustür kommt noch Licht.“

„Wo ist meine Mutter jetzt?“

„Oben in ihrem Schlafzimmer. Oder bei deiner Großmutter in einem der Gästezimmer. So genau weiß ich das nicht. Bin ja schließlich hier nicht der Babysitter.“

„Constantin.“ Meine Großmutter kam die Treppe herunter und strich mir zu Begrüßung über das Haar. „Wie war es in der Schule? Nimm doch den schweren Tornister ab, Junge.“

Ich nahm den Schulranzen von meinem Rücken und stellte ihn ab. „Hier war ein Dieb auf dem Grundstück?“, fragte ich an meine Großmutter gewandt.

„Ja ...“, bestätigte diese zögerlich. „Deine Mutter hat deswegen erst die Polizei gerufen.“ Sie strich mir wieder über mein Haar. „Aber du musst dir keine Sorgen machen. Die Polizei konnte niemanden finden.“

„Und warum ist dann alles abgedunkelt?“

„Ach.“ Meine Großmutter machte eine wegwerfende Bewegung. „Weil deine Mutter das erst so wollte. Alles halb so wild. Frau Bäumler, Sie können jetzt wieder überall Licht hereinlassen.“

Frau Bäumler verdrehte kurz die Augen, als wollte sie fragen, was der ganze Zirkus solle, und verschwand in der Küche.

„Dann kann ich auch wie immer in der Küche essen?“

„Ja, sicher. Aber zuerst wäschst du dir die Hände.“

„Wieso kommt Mama nicht nach unten?“, wollte ich wissen, als ich mir kurz darauf in Gesellschaft meiner Großmutter belegte Brote und Salat, die es bei uns gewöhnlich mittags gab, schmecken ließ.

„Oh, deine Mutter ist noch etwas ... aufgewühlt wegen vorhin. Das wird sich bestimmt bald geben“, versicherte mir meine Großmutter aufgesetzt heiter.

„Oma, gibt es Kinder, die zu Hause alles machen müssen?“ Diese Frage brannte mir schon die ganze Zeit seit dem verstörenden Gespräch mit Guido unter den Nägeln.

„Was meinst du damit?“, fragte meine Großmutter freundlich.

„Na, den Haushalt. Gibt es Kinder, die zu Hause den Haushalt machen müssen?“

„Oh, es gibt sicher Kinder, die zu Hause mehr mithelfen müssen als du und ...“ Meine Großmutter presste ihre Lippen aufeinander. „Jedenfalls hast du es ziemlich gut, was deine Pflichten angeht, glaube ich“, fuhr sie schließlich fort.

„Ja, aber gibt es Kinder, die alles machen müssen?“

„Nein, ... ich denke nicht, dass das erlaubt ist. In Deutschland gibt es nämlich für alles Gesetze, weißt du?“

„Ein Junge in meiner Klasse muss aber den ganzen Haushalt machen, weil seine Mutter lieber mit reichen Männern unterwegs ist.“

„Was ...?“ Meine Großmutter sah mich vermutlich genauso ungläubig an, wie ich erst Guido bei seiner Schilderung angesehen hatte. Dann lachte sie heiter. „Da hat dir der Junge bestimmt einen Bären aufgebunden. So was gibt es doch wohl nur im Fernsehen.“

„Mmh.“ Nachdenklich kaute ich auf meinem Brot herum. Doch wirklich überzeugt war ich nicht.

Nach dem Essen machte ich mich mit dem Fahrrad auf zum Friseursalon, nachdem mir meine Großmutter die Erlaubnis dazu erteilt hatte. Meine Mutter hatte ich nicht zu Gesicht bekommen, da diese sich nach der Aufregung hingelegt habe, wie mich meine Großmutter informierte.

Guido hockte wieder einmal auf den Steinplatten vor dem Friseursalon und kullerte Murmeln hin und her. Als ich von meinem Rad abstieg, bemerkte er mich und sah mich lächelnd an. „Du durftest ja doch kommen.“

„Ja, meine Großmutter hat es erlaubt.“

Wir spielten eine Weile mit den Murmeln, wobei ich immer wieder zu der Tür des Friseursalons lugte in der Hoffnung, Angelina möge eine kurze Pause machen und mir sagen, dass das alles nicht stimme. Dass sie ihren Sohn nicht sämtliche Hausarbeiten erledigen lasse, während sie sich mit reichen Männern vergnügte. „Wollen wir deine Mutter im Salon besuchen?“, fragte ich schließlich, als es fast Zeit für mich war, zum Abendessen nach Hause zu fahren.

Guido schüttelte den Kopf. „Lieber nicht.“

„Wieso nicht?“, wollte ich wissen. Angelina hatte mir doch gesagt, wie sehr sie sich freuen würde, mich wiederzusehen.

„Weil ich Mist gebaut habe und meine Mutter noch sauer auf mich ist.“

„Wieso, was hast du denn gemacht?“

„Ich habe gestern das Bügeleisen zu heiß eingestellt und Mamas Strandkleid, das sie sich selbst genäht hat, verbrannt. Das hat sie herausgefunden, und heute Mittag hat sich mich deswegen ausgeschimpft und mir das Taschengeld für diesen Monat gestrichen.“

Jetzt fing Guido schon wieder von diesen Geschichten an. Das war für mich unerträglich. „Das glaube ich nicht“, erwiderte ich gerade trotzig, als die Salontür geöffnet wurde und Angelina nach draußen trat. „Hallo Constantin“, begrüßte sie mich wie immer mit dieser warmherzigen Stimme.

Ich stand auf. „Hallo Angelina. Wie geht es dir?“

Angelina lachte. „Oh, mir geht es sehr gut.“ Sie drückte Guido, der sich ebenfalls erhoben hatte, an sich und küsste sein Haar. „Uns geht es beiden sehr gut, nicht, mein Schatz?“ Dann wurde sie ernst. „Aber das, was mit deine Schwester passiert ist, ist schlimm. Das tut mir sehr, sehr leid.“

Ich blickte betroffen zu Boden und versuchte so, die Tränen, die mir bei der Erwähnung von Melissa sofort in die Augen gestiegen waren, zu verbergen.

„Komm mal her.“ Angelina nahm mich in die Arme. Ich roch ihr wunderbares Zitronenparfum und wünschte, dieser Moment möge nie vergehen. Viel zu schnell ließ sie mich wieder los. „Guido und ich gehen jetzt nach Hause“, erklärte sie mir. „Ich habe heute etwas früher Feierabend gemacht. Willst du noch mit uns kommen?“

Wie gern hätte ich das Angebot angenommen. Stattdessen schüttelte ich den Kopf. „Ich muss jetzt nach Hause. Vielleicht ein andermal.“

„Ja, sicher.“ Angelina lächelte mich an. „Irgendwann wird es schon besser passen.“ Sie wandte sich an Guido. „Dann gehen wir beide jetzt nach Hause und spielen nach dem Essen auf dem Balkon Memory. Das magst du doch so gern. Oder möchtest du heute lieber Mikado spielen, amore?“

Guido stand nur da und zuckte gleichgültig mit den Schultern. Angelina drückte ihn übermütig an sich. „Wenn du nicht antworten willst, entscheide ich, verstanden?“, neckte sie ihn lachend und küsste ihn mehrmals hintereinander auf die Wange. „Dann entscheide ich, amore, hörst du?“

Immer noch lachend nahm sie Guido an die Hand. „Tschüss, Constantin“, rief sie mir fröhlich zu. „Und vergiss nicht, uns mal wieder zu besuchen, ja? Wir könnten ja auch mal zu dritt Mikado spielen oder was immer ihr wollt.“

Auf meinem Nachhauseweg war ich noch ganz aufgewühlt von der Begegnung mit Angelina. Sie war immer so herzlich und gut gelaunt. Ich wünschte, meine Mutter könnte zumindest ein wenig so sein wie sie. Und wie lieb sie zu Guido gewesen war. Dabei hatte er behauptet, sie sei verärgert, weil er ihr Kleid beim Bügeln ruiniert habe. Er musste sich das alles ausdenken. Ich verstand nur nicht, wieso er diese Dinge über seine Mutter, die die netteste der Welt war, behauptete.

Meine Großmutter nahm mich an der Haustür in Empfang und teilte mir mit, dass meine Mutter wegen der heutigen Aufregung um den Eindringling auf unserem Grundstück noch immer im Bett lag, um sich auszuruhen. Kurz darauf verzehrten sie und ich im Esszimmer unser Abendessen. Meine Großmutter wirkte nachdenklich und ungewohnt schweigsam. Sicher machte sie sich Sorgen wegen meiner Mutter, vielleicht auch wegen des Mannes namens Bruno Buhr, der es ja wohl anscheinend auf uns abgesehen hatte, wenn mir der Grund dafür auch nicht ansatzweise bekannt war. Nach einer Weile entschloss ich mich, meine Großmutter einfach danach zu fragen. „Oma, wer ist eigentlich Bruno Buhr?“

„Was?“ Meine Großmutter, die mir gegenübersaß, sah mich schockiert an.

„Na, wer Bruno Buhr ist, will ich wissen.“

„Wie ... kommst du denn auf diesen Namen?“

„Ich habe gehört, wie Mama gestern mit dir über ihn gesprochen hat“, gab ich zu.

„Da musst du dich verhört haben“, widersprach meine Großmutter entschlossen und spießte, als wollte sie dieser Aussage Nachdruck verleihen, heftig einige Nudeln auf ihre Gabel.

„Nein, ich habe mich nicht verhört. Ich weiß ganz genau, dass Mama diesen Namen gesagt hat. Und außerdem, dass alles wieder von vorn losgeht. Was geht denn wieder von vorn los?“

„Nichts geht von vorn los. Überhaupt nichts.“ Meine Großmutter stopfte sich die Nudeln in den Mund, obwohl sie bei den vorherigen Mahlzeiten vorbildliche Tischmanieren an den Tag gelegt hatte, und kaute energisch, während sie mich geradezu wütend dabei ansah.

„Was hast du denn auf einmal?“, erkundigte ich mich arglos.

„Du sollst aufhören, solche Sachen zu behaupten“, antwortete meine Großmutter gereizt, nachdem sie den großen Bissen heruntergeschluckt hatte. „Hast du mich verstanden! Das ist genauso ein Unsinn wie die Kinderarbeit, von der du heute Mittag gesprochen hast! Du entwickelst dich noch zu einem richtigen Lügner!“

„Ich bin kein Lügner!“, verteidigte ich mich erbost. „Dass mein Klassenkamerad viel im Haushalt helfen muss, hat er mir sehr wohl erzählt! Und das mit Bruno Buhr habe ich mir auch nicht ausgedacht!“

„Erwähne diesen Namen nie wieder!“, schrie mich meine Großmutter an. „Deine Mutter ist schon unglücklich genug!“

„Ich bin auch unglücklich!“, antwortete ich in nicht geringerer Lautstärke. „Und zwar weil Melissa tot ist!“

Meine Großmutter sah mich betreten an. „Ja, ich weiß“, stimmte sie mir leise zu. „Wir sind alle traurig, sehr traurig sogar, weil Melissa tot ist. Komm, lass uns aufhören zu streiten. Aber versprich mir, dass du deine Mutter nicht aufregst, indem du sie nach dem Mann fragst, der auf euer Grundstück eingedrungen ist.“

„Bruno Buhr“, beharrte ich.

„Constantin.“ Im Tonfall meiner Großmutter schwang eine leise Drohung mit. „Mach es nicht noch schlimmer, als es ohnehin schon ist.“

Die abweisende Art meiner Großmutter und ihr bestimmender Tonfall ärgerten mich, und obwohl ich sie ganz gern hatte, wünschte ich in diesem Moment, sie würde nach Hause fahren und uns hier in Ruhe lassen.

„Guten Abend.“ Als hätte mein Vater, der plötzlich in der Tür aufgetaucht war, meine Gedanken gelesen, ging er mit ein paar großen Schritten auf meine Großmutter zu und fragte sie ohne Umschweife: „Was bildest du dir eigentlich ein, meinem Sohn vorzuschreiben, was er in meinem Haus sagen darf und was nicht?“

„Konrad, ich ...“

„Gib dir keine Mühe. Ich bin an deinen Ausreden nicht interessiert. Setzt dich hier an den gedeckten Tisch und spielst die Hausherrin, während deine Tochter vermutlich wieder mit den Nerven am Ende im Bett liegt. Kann ich verstehen, dass dir das gefällt. Aber mir nicht. Und zwar ganz und gar nicht. Es ist das Beste, wenn du wieder abreist, und zwar sofort.“

„Aber Konrad, du weißt ja nicht, was heute Vormittag passiert ist.“

„Was für ein tragisches Ereignis hat sich denn während meiner Abwesenheit zugetragen?“ Der Sarkasmus in der Stimme meines Vaters war nicht zu überhören.

„Marianne hat wieder einen Mann auf eurem Grundstück herumstreunen sehen und die Polizei gerufen.“

Mein Vater schien nicht sonderlich beeindruckt. „Und? Hat die Polizei einen Mann auf unserem Grundstück gefunden, der hier nichts verloren hat?“

Meine Großmutter schwieg betreten.

„Gut, dass ich heute extra früher nach Hause gekommen bin, um mir die Bilder der Überwachungskameras anzusehen. Ich werde zweifelsfrei herausfinden, ob hier jemand unbefugt das Grundstück betreten hat oder nicht.“

„Konrad, ich würde gern vorher mit dir über diese ... Vorfälle sprechen.“ Mit einem Blick auf mich fügte meine Großmutter hinzu: „Unter vier Augen.“

„So lange, dass ich vorher noch etwas essen kann, hat es hoffentlich noch Zeit.“ Mein Vater setzte sich auf den Platz neben mir, der ebenfalls eingedeckt war, und bediente sich an dem Nudelgericht. „Und Constantin wird auch in Ruhe zu Ende essen, bevor ich mir deine wichtige Mitteilung anhöre.“

„Dass du immer so garstig sein musst“, erwiderte meine Großmutter eher bekümmert als verärgert.

„Ich kenne dich nun einmal und weiß, dass das der geeignete Umgangston für dich ist“, teilte ihr mein Vater ganz selbstverständlich mit. „Und wenn er dir nicht passt: Da vorn ist die Tür.“ Dann leerte er mit gutem Appetit seinen Teller, während ich angesichts der schlechten Stimmung am Tisch keinen Bissen mehr herunterbekam und nur aus Anstand sitzen blieb, bis mein Vater zu Ende gegessen hatte.

„Darf ich in mein Zimmer gehen?“, erkundigte ich mich.

„Wenn du willst, nur zu“, lautete die gönnerhafte Antwort meines Vaters. „Du kannst dir aber auch gern die wichtigen Dinge anhören, die deine Großmutter mir zu sagen hat.“

„Konrad, bitte ...“, warf meine Großmutter fast flehentlich ein.

„Ich habe bereits versucht, dir zu vermitteln, dass du in meinem Haus nichts zu entscheiden hast“, unterbrach mein Vater sie in kühlem Tonfall. „Anscheinend hast du es nicht verstanden. Also noch einmal: Wenn Constantin bei unserem Gespräch anwesend sein will, dann ist er anwesend. Hast du das jetzt verstanden.“

Meine Großmutter schwieg betreten.

Ich hielt es für besser, das Zimmer zu verlassen. Zwar interessierte es mich brennend, was meine Großmutter mit meinem Vater besprechen wollte, aber ich vermutete, dass sie in meiner Gegenwart nicht so offen sein würde. „Ich gehe in mein Zimmer“, bot ich an.

Mein Vater nickte nur.

Ich schloss die Tür hinter mir und blieb im Flur horchend davor stehen.

„So, dann lass mal hören, was du für wichtige Neuigkeiten hast“, begann mein Vater sarkastisch. „Ich kann es kaum erwarten. Aber komm bitte ohne lange Vorreden zum Punkt, denn Zeit ist Geld.“

„Konrad ...“, begann meine Großmutter zögerlich, „ich glaube, dass ... das alles in letzter Zeit einfach zu viel für Anni ... für Marianne war.“

„Was du nicht sagst. Und ich muss dich korrigieren: Es war zu viel für uns alle.“

„Natürlich, so habe ich das auch nicht gemeint. Was ich damit sagen will, ist, dass der ganze Stress und dann auch noch der Besuch des Mediums ...“

„Das war eine Betrügerin“, stellte mein Vater klar.

„Ja, wahrscheinlich hast du Recht“, lenkte meine Großmutter ein.

„Nicht nur wahrscheinlich. Ich habe Recht. Punkt.“

„Ja. Wie auch immer. Jedenfalls denke ich, dass der ganze Stress bei Marianne zu der Neigung geführt hat, ... sich Dinge einzubilden.“

„Was du nicht sagst.“

„Und ich denke, es wäre an der Zeit, ... etwas dagegen zu unternehmen. Etwas ... in medizinischer Hinsicht.“

„Annemarie, wie dir sicher nicht entgangen ist, steht deiner Tochter ein nicht unwesentlicher Bestand an diversen Beruhigungstabletten, die sie von unserem Hausarzt bezieht, zur Verfügung. Es ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass sie, wenn es nicht ganz nach ihren Vorstellungen verläuft, an ihre psychischen Grenzen gelangt. In medizinischer Hinsicht dürfte sie also mehr als ausreichend versorgt sein. Aber danke, dass du deshalb deinen Kopf angestrengt hast. Das war nicht nötig.“

„Warte noch, Konrad ... Das meine ich nicht. Ich spreche nicht von Beruhigungsmitteln.“

„Sondern?“

„Ich denke, es wäre an der Zeit, dass Marianne sich ... in psychiatrische Behandlung begibt.“

„Ich hoffe sehr für dich, dass du Marianne nicht so einen Floh ins Ohr gesetzt hast. Sonst verlässt du schon deshalb auf der Stelle mein Haus.“

„Nein, nein ... Aber ich denke, dass Mariannes ... Probleme einer besonderen Behandlung bedürfen.“

„Jetzt hör mir mal gut zu, Annemarie. Du hast anscheinend wieder nicht verstanden, was ich gerade gesagt habe: Es ist nicht das erste Mal, dass Marianne psychisch nicht auf der Höhe ist. Eigentlich ist sie das nie. Sie weiß wie ich am besten, was dann, wenn es ganz schlimm wird, für sie zu tun ist: ein Beruhigungsmittel nehmen und viel schlafen. Nach ein paar Tagen sieht die Welt dann schon wieder ganz anders aus. Also hör auf so zu tun, als wüsstest du es besser.“

„Aber dieses Medium hat Marianne so verschreckt, dass sie sich nun fremde Männer auf dem Grundstück einbildet!“

„Noch einmal: Das war kein Medium, sondern eine Betrügerin. Und danke, dass du es mir gegenüber zugibst, dass die Eindringlinge auf unserem Grundstück nur in Mariannes Fantasie existieren. Das habe ich mir gleich gedacht. Dann kann ich mir zum Glück das Durchsehen der Videoaufnahmen sparen.“

„Aber so etwas muss man doch ernst nehmen!“, wandte meine Großmutter mit verzweifelter Stimme ein. „Wir können doch nicht dabei zusehen, wie Marianne vor Angst fast umkommt!“

„Keine Sorge, Marianne kommt nicht um. Nicht einmal fast. Das weiß ich aus Erfahrung. Sie hat nur einen Hang zum Drama.“

„Du willst ihren psychischen Zustand also nicht behandeln lassen.“

„Doch. Aber auf meine Weise.“

„Was soll das denn heißen?“

„Das hat dich nicht zu interessieren. Denn obwohl du dir offensichtlich etwas anderes einbildest, bist du hier lediglich zu Gast und durch mich nur geduldet. Ich werde mich um Mariannes Problem kümmern. Deine weitere Anwesenheit ist dafür nicht erforderlich. Ich würde daher vorschlagen, dass du deine Sachen packst und dich von deinem Erich abholen lässt.“

„Aber ...“

„Nichts aber. Du reist jetzt ab und kommst auch so schnell nicht wieder hierher, verstanden? Und da Marianne vermutlich schläft, solltest du sie nicht durch unnötige Abschiedsworte stören. Ich werde ihr schon mitteilen, dass du leider kurzfristig wieder nach Hause musstest. Glaube mir, sie wird den Verlust verkraften.“

„Was bist du nur für ein Mensch.“

„Und jetzt entschuldige mich. Ich muss mich noch mit einem komplexen Mandat beschäftigen. Hinaus findest du gleich ja sicher allein.“

Schnell zog ich mich in die Küche zurück. Frau Bäumler wartete darauf, den Tisch abräumen und Feierabend machen zu können. Normalerweise verließen sie oder Frau Hubertus das Haus, wenn das Abendessen zubereitet und der Tisch gedeckt war. Den Rest erledigte meine Mutter. Durch die frühe Rückkehr des Hausherrn sah sich Frau Bäumler offenbar veranlasst, länger als gewöhnlich zu bleiben. Vielleicht hatte sie mein Vater auch wegen irgendetwas kritisiert, und sie fürchtete nun um ihre Anstellung, an der sie sowieso nicht sonderlich hing. Bei meinem Erscheinen in der Küche sah sie mich verwundert an.

„Das Nudelgericht war heute sehr lecker, Frau Bäumler“, behauptete ich. „Das wollte ich Ihnen nur sagen.“ Ich hörte, wie die Esszimmertür geöffnet wurde, und die Schritte meines Vaters im Flur, der sich vermutlich in sein Arbeitszimmer begab, wo er den restlichen Abend verbringen würde.

„Danke ...“ Frau Bäumler war mit dem Lob sichtlich überfordert. „Das ist aber nett von dir, das zu sagen.“

„Gern geschehen“, beendete ich das Thema rasch, verließ die Küche und ging nach oben in mein Zimmer.

Meine Großmutter klopfte einige Minuten später an meine Tür, als ich gerade die Schubladen auf der Suche nach Murmeln durchwühlte, die ich Guido schenken könnte. Sicher würde das Angelina sehr gut gefallen.

„Was machst du denn da?“, wollte meine Großmutter in argwöhnischem Tonfall wissen.

„Ich räume auf.“

„Ach so.“ Sie klang erleichtert. Dann teilte sie mir mit trauriger Stimme mit, dass sie leider schon wieder nach Hause fahren müsse, da es Erich nicht gut gehe.

„Was hat er denn?“, stellte ich mich dumm.

„Ach, ich glaube, er vermisst mich einfach nur sehr“, lautete die nicht gerade überzeugende Ausrede meiner Großmutter.

„Na, dann ...“

Meine Großmutter drückte mich an sich. „Es hat mich jedenfalls sehr gefreut, hier sein zu dürfen. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.“

„Ja, hoffentlich.“

Sie strich mir über mein Haar. „Pass gut auf deine Mutter auf. Versprichst du mir das?“

Ich fand, dass das etwas viel von einem noch nicht einmal zehn Jahre alten Kind verlangt war, und nickte nur. „Sagst du Mama noch tschüss?“

„Nein, ich will sie nicht stören.“

Ich tat so, als bemerkte ich die Tränen, die meiner Großmutter bei diesen Worten in die Augen stiegen, nicht. „Okay.“

Sie nickte nur und schloss die Tür hinter sich.

Ich blieb zurück und fragte mich, wie mein Vater den Zustand meiner Mutter behandeln wollte. Denn so etwas in der Art hatte er doch gesagt. Dabei war mein Vater ja gar kein Arzt, aber auf jeden Fall sehr schlau. Ihm würde sicher etwas einfallen, wie es meiner Mutter schnell wieder besser ging. Die Vorstellung, sie könnte sich den Mann in unserem Garten nur eingebildet haben, war für mich, ähnlich wie die Vorstellung, dass Guido bei sich zu Hause den gesamten Haushalt erledigen musste, äußert unangenehm, und ich versuchte, sie für den Rest des Tages so gut es ging zur Seite zu schieben. Mein Vater würde schon eine Lösung finden, sagte ich mir immer wieder an diesem Abend. Schließlich war er ein sehr kluger Mann, viel klüger als meine Mutter und ich.

Tatsächlich fiel meinem Vater etwas ein, und zwar schon am darauffolgenden Tag. Ich verbrachte den Vormittag in der Schule, nachdem ich mein Frühstück wieder einmal allein mit meinem Vater eingenommen hatte. Als ich zum Mittagessen nach Hause kam, war mein Vater seltsamerweise immer noch da und nahm mich im Flur in Empfang.

„Wieso bist du denn nicht bei der Arbeit?“, fragte ich alarmiert. „Ist was mit Mama?“

„Nein, nein, alles in Ordnung.“ Mein Vater lächelte bei diesen Worten sogar leicht. „Ich bin heute zu Hause geblieben, um mich ein wenig um sie zu kümmern. Das können wir nicht alles Frau Hubertus und Frau Bäumler zumuten. Und es geht deiner Mutter auch schon viel besser. Sie kommt gleich nach unten, um mit uns zu essen.“

„Toll!“

Wie auf ein Stichwort kam meine Mutter die Treppe herunter. Sie hatte sich eine braune Hose und ein T-Shirt in derselben, nicht gerade sommerlichen Farbe angezogen. Sicher waren beide Kleidungsstücke aber sehr teuer gewesen. Meine Mutter hatte sich sogar dezent geschminkt, das erste Mal seit Melissas Tod. Das musste etwas zu bedeuten haben.

„Hallo Mama.“ Ich stellte meine Schultasche ab und umarmte sie.

„Hallo Constantin. Wasch dir bitte die Hände. Wir wollen essen.“

Als wir kurz darauf auf Wunsch meines Vaters nicht in der Küche, sondern am Esszimmertisch saßen, machte meine Mutter einen nervösen Eindruck und stocherte in ihrem Salat herum. Ich befürchtete schon, sie habe wieder diesen Bruno Buhr in unserem Garten gesehen, als sie mir erklärte: „Die Polizei kommt gleich zu uns. Sie ... haben den Kerl, der Melissa überfahren hat.“

„Was?“ Mir fiel vor Erstaunen fast das Besteck aus den Händen. So sehr hatte ich mir gewünscht, der Täter möge gefasst werden, und die Hoffnung inzwischen beinahe aufgegeben.

„Ja, es ist wahr“, bestätigte meine Mutter, und ihre Augen glänzten dabei tränenfeucht, während mein Vater einen eher zufriedenen Eindruck machte. „Das wurde auch Zeit“, sagte er nur.

Ein paar Minuten später klingelte es an der Gartenpforte. Mein Vater stand auf, um zu öffnen. Frau Bäumler, die an diesem Tag Dienst hatte, hatte er für den Rest des Tages freigegeben. Meine Eltern wollten unter sich sein, wenn die Polizei ihnen davon berichtete, wie es zu der Festnahme von Melissas Mörder gekommen war. Bei dem Gedanken wurde ich selbst auch ganz aufgeregt.

Mein Vater kehrte mit einem etwa gleichaltrigen Mann in unser Esszimmer zurück. Der Mann hatte kurzgeschorene schwarze Haare, vermutlich, weil er schon eine sichtbare Stirnglatze hatte. Er trug Jeans und ein weißes T-Shirt und hielt einen dünnen blassroten Papphefter in der Hand. Ein verdeckter Ermittler. So etwas kannte ich aus dem Fernsehen.

„Das ist Kommissar Stein“, stellte mein Vater den Mann vor. „Herr Stein: Meine Frau Marianne und mein Sohn Constantin.“ „Hallo, freut mich.“ Der Kommissar gab zunächst meiner Mutter, die sich kurz erhob, und dann mir, während ich ebenfalls aufstand, die Hand. „Aber ich sehe, ich störe Sie beim Essen.“

„Nein, nein“, widersprach meine Mutter. „Das Essen kann warten. Wir haben so lange gehofft, ...“ Tränen traten in ihren Augen, und sie konnte nicht weitersprechen.

„Setzen Sie sich doch bitte“, forderte mein Vater den Kommissar auf, der daraufhin am Kopf der Tafel Platz nahm und den Hefter vor sich auf den Tisch legte. Ich sah, dass auf dem Deckel in schwarzen Druckbuchstaben ein Aktenzeichen vermerkt war.

„Ich sagte es ja schon am Telefon“, begann Kommissar Stein. „Wir konnten tatsächlich den Mann dingfest machen, der Ihre Tochter überfahren und anschließend Fahrerflucht begangen hat. Von großer Hilfe war uns dabei ein Zeuge, der sich jetzt noch gemeldet und den Unfall sowie die ... Beseitigung des Opfers beobachtet hat. Der Zeuge hat sich das Kennzeichen des Wagens mittels einer Eselsbrücke eingeprägt. So konnte der Täter überführt werden. Er hat nach einem längeren Verhör alles gestanden, auch, dass ihn seine Schuldgefühle dazu getrieben haben, sich in der letzten Zeit, ... Zutritt zu Ihrem Grundstück zu verschaffen.“

„Was ...?“ Die Augen meiner Mutter weiteten sich vor Entsetzen.

„So ist es. Wir haben sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Das wollte ich Ihnen gern persönlich mitteilen. Damit Sie wieder ruhig schlafen können. Denn der Mann wird für seine Tat angeklagt werden und seine gerechte Strafe erhalten. Bis zum Prozess bleibt er in Untersuchungshaft.“

Meine Mutter wirkte nachdenklich. „Aber wie kommt es denn, dass sich jetzt noch ein Zeuge gemeldet hat? Das verstehe ich nicht ganz.“

„Der Zeuge stand verständlicherweise zunächst unter Schock und ist erst einmal wie geplant in den Urlaub gefahren. In einen längeren Urlaub. Eigentlich hatte er vorgehabt, das schreckliche Erlebnis zu vergessen. Das schlechte Gewissen hat ihn schließlich dazu gebracht, zu uns aufs Revier zu kommen und alles detailgenau zu schildern. Er wird sich dennoch wegen unterlassener Hilfeleistung verantworten müssen. Darauf können Sie sich verlassen.“

„Ist er da drin?“, fragte meine Mutter und zeigte auf den Papphefter.

„Der Zeuge?“, erkundigte sich Kommissar Stein. „Ja, natürlich. Seine persönlichen Daten und seine Aussage sind hier in der Akte. Aber das alles ist streng vertraulich. Ich bitte um Verständnis.“

„Nein, ich meine den Mann, der Melissa auf dem Gewissen hat“, stellte meine Mutter mit seltsam ruhiger Stimme klar. „Ist er da drin?“ Sie zeigte erneut auf den Hefter.

„Ja, auch sämtliche Angaben zum Täter sowie das Vernehmungsprotokoll finden sich in dieser Akte. Der Täter ist vorbestraft. So viel darf ich Ihnen wohl verraten. Wegen wiederholter Trunkenheit am Steuer.“

„O Gott ...“ Meine Mutter fasste sich an den Mund. „Hat er schon mehrere ...?“

„Nein“, antwortete Kommissar Stein. „Es sind glücklicherweise keine weiteren Menschen durch ihn zu Schaden gekommen. Bis auf Ihre Tochter. Leider.“

Einen Moment lang herrschte betroffenes Schweigen. Dann sagte meine Mutter: „Ich möchte sein Gesicht sehen.“

Der Kommissar zögerte. „Tut mir leid, aber ...“

„Kann ich bitte das Gesicht des Mannes sehen, der meine Tochter getötet hat?“, drängte meine Mutter.

„Wie gesagt, das geht leider ...“

„Hören Sie, Herr Kommissar“, schaltete sich nun mein Vater ein. „Wir wissen, Sie haben Ihre Vorschriften. Und die wollen meine Frau und ich auch gar nicht infrage stellen. Aber es würde insbesondere meiner Frau ungemein helfen, wenn sie den Mann sehen könnte, der für den Tod unserer Tochter verantwortlich ist. Es würde helfen zu verstehen, warum das alles passiert ist. Ich weiß nicht, ob das für Sie nachvollziehbar ist.“

„Natürlich kann ich das verstehen“, beeilte sich der Kommissar zu versichern. „Aber der Datenschutz ...“

Mein Vater sah ihn eindringlich an.

„Also ich denke, wenn ich den Namen unter dem Bild mit der Hand abdecke ...“, bot Kommissar Stein schließlich als Kompromiss an, nahm den Hefter hoch vor sein Gesicht und blätterte in dieser Position darin, so dass niemand von uns den Inhalt der Mappe sehen konnte. „Also gut ...“ Er legte die aufgeschlagene Akte auf den Tisch und seine Hand unter das Foto, das einen etwa fünfzigjährigen Mann zeigte, der mit seinem unrasierten Gesicht, dem dünnen, ungeschnittenen Haar und dem dafür umso dickeren Schnurrbart aussah wie ein gewöhnlicher, wenn auch etwas ungepflegter Durchschnittsbürger.

„Das also ist er“, flüsterte meine Mutter. „Wurde das Foto nach der Tat aufgenommen?“

„Nein“, erklärte Kommissar Stein. „Das Bild ist etwa drei Jahre alt. Der Mann ist wie gesagt vorbestraft und daher in unserer Datei.“ Er schloss die Akte, ohne einen Blick auf den Namen unter dem Foto zu gewähren.

„Aha ...“ Meine Mutter sah den Polizeibeamten an. „Wie lange wird es bis zum Prozess dauern?“

„Oh, schwer zu sagen“, lautete seine vage Antwort. „Einige Monate, schätze ich.“

„Und können wir in dem Prozess nicht als Nebenkläger auftreten?“, wollte meine Mutter wissen. „So etwas gibt es doch, oder? Ich habe so etwas schon im Fernsehen gesehen. Du kennst dich doch damit aus, Konrad. Können wir in dem Prozess als Nebenkläger auftreten?“

„Also, das halte ich für keine gute Idee“, wehrte mein Vater ab. „Allein der ganze Medienrummel. Das wird viel zu viel für dich. Und auch für Constantin. Wir wollen endlich wieder zur Ruhe kommen, statt dem Täter in der Gerichtsverhandlung zu begegnen. Und wir werden zur Ruhe kommen. Jetzt, wo dieser Mistkerl gefasst ist. Alles Weitere überlassen wir der Staatsanwaltschaft und dem Richter.“ Er sah zu Kommissar Stein. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn der ganze Prozess so diskret wie möglich und ohne Einbeziehung der Presse ablaufen könnte. Meine Frau hat schon genug durchgemacht. Unsere ganze Familie hat schon genug durchgemacht.“

„Ich fürchte, das liegt nicht in meiner Verantwortung ...“ Kommissar Stein machte eine hilflose Geste.

„Ich weiß. Ich kümmere mich darum. Noch heute werde ich mit dem zuständigen Staatsanwalt sprechen.“

„Ich denke, ich werde mich nun wieder auf den Weg machen.“ Der Kommissar nahm die Akte und erhob sich.

„Natürlich.“ Mein Vater stand ebenfalls auf. „Ich begleite Sie noch zur Tür.“ Dabei sah er den Kommissar auf, wie ich fand, verschwörerische Art an.

„Frau Hart.“ Kommissar Stein gab meiner Mutter und anschließend mir die Hand, bevor er mit meinem Vater das Esszimmer verließ. Mein Vater schloss hinter den beiden die Tür.

„Ich muss mal aufs Klo“, sagte ich zu meiner Mutter, die ganz in Gedanken versunken war, verließ eilig das Esszimmer und achtete darauf, ebenfalls die Tür hinter mir zu schließen.

Draußen vor der angelehnten Haustür hörte ich meinen Vater mit dem Polizeibeamten sprechen. Ich schlich mich im Flur so nah heran, dass ich jedes Wort verstehen konnte.

„Du warst wirklich überzeugend“, hörte ich meinen Vater anerkennend sagen. „‚Der Zeuge hat sich das Kennzeichen des Wagens mittels einer Eselsbrücke eingeprägt.‛ Darauf muss man erst einmal kommen.“ Er lachte wie über einen gelungenen Scherz.

„Weißt du eigentlich, dass ich durch so eine Aktion meinen Job verlieren kann?“, erwiderte der Kommissar verärgert.

„Du schuldest mir noch viel mehr als diesen Auftritt“, erwiderte mein Vater kalt. „Und das weißt du auch. Und zu gegebener Zeit werde ich die Restschuld einfordern. Verlass dich drauf.“

„Ich wünschte, ich wäre nie so einem Mistkerl wie dir über den Weg gelaufen“, schimpfte der Polizeibeamte.

„Vorsicht, Vorsicht“, drohte mein Vater ironisch. „Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen, Herr Kommissar Stein. Sei also besser weiterhin höflich zu mir. Dann passiert dir und deiner hart erarbeiteten Karriere auch nichts.“

„Du bist so ein verdammtes ...“

„Sollte ich erneut deine Hilfe benötigen, werde ich es dich wissen lassen. Bleib also besser jederzeit für mich erreichbar.“ Mein Vater trat in den Flur und schloss die Haustür. Dann sah er mich.

„Das war gar kein echter Kommissar!“, warf ich ihm wütend vor. „Du hast Mama und mich angelogen!“

„Doch, das war ein echter Kommissar“, widersprach mein Vater in ruhigem Tonfall.

„Er hat uns angelogen, weil du es so wolltest!“, beharrte ich.

Mein Vater legte seine Hände auf meine Schultern und sah mir fest in die Augen. „Deine Mutter ist in letzter Zeit sehr traurig, Constantin“, teilte er mir betrübt mit. „Sie ist traurig, weil Melissa tot ist. Und Melissa ist tot, weil du nicht auf sie aufgepasst hast. Du hast sie alleingelassen, obwohl ich euch gesagt habe, dass ihr immer zusammenbleiben sollt. Das habe ich euch gesagt. Erinnerst du dich?“ Seine Stimme klang bei diesen harten Worten, die für mich so schmerzhaft wie ein Faustschlag in die Magengrube waren, unpassend sanft. „Und haben deine Mutter und ich dir Vorwürfe gemacht, Constantin? Habe ich mit dir geschimpft, weil du Melissa im Stich gelassen hast? Habe ich dich bestraft, weil du mir hinsichtlich der Uhrzeit, als du Melissa zurückgelassen hast, ins Gesicht gelogen hast, wie sich später herausgestellt hat?“

Ich senkte den Blick und schüttelte den Kopf, während sich ein Kloß in meinem Hals bildete.

„Sieh mich an, wenn ich mit dir rede, Constantin“, forderte mich mein Vater streng auf. „Nur Feiglinge und Versager weichen den Blicken anderer aus.“

Ich gehorchte, denn ich wollte vor meinem Vater nicht als Feigling und Versager dastehen. Aber genauso wenig wollte ich jetzt vor ihm weinen, denn so etwas hasste er. Dann würde er anfangen, gnadenlos auf mir herumzuhacken. Dabei konnte er sehr gemein werden. Das wusste ich von früheren Begebenheiten sehr genau.

„Kommissar Stein ist ein alter Freund von mir“, erklärte mein Vater wieder in diesem sanften Tonfall. „Ein alter Freund, der mir noch einige Gefallen schuldet. Weil ich ihm früher einmal geholfen habe, als er in einer Notsituation war. Du darfst es nie vergessen, wenn du jemandem in einer Notsituation geholfen hast, Constantin, denn zu einem späteren Zeitpunkt musst du Wiedergutmachung fordern. Sonst hatte deine Hilfe für dich ja keinen Sinn. Und behalte auch immer Dinge im Blick, die du über andere weißt und gegen sie verwenden könntest. Das ist sehr wichtig im Leben.“

Ich nickte gelehrig, weil ich wusste, dass mein Vater das von mir in diesem Moment erwartete.

„Du hast Recht“, räumte mein Vater ein. „Kommissar Stein hat gelogen. Der Mann, der Melissa überfahren hat, ist nicht gefasst und wird es vermutlich auch nicht mehr werden. Es sei denn, er stellt sich freiwillig, wovon ich nicht ausgehe. Dafür ist er bei der Tat zu berechnend vorgegangen. Er ist niemand, der die Nerven verliert. Es ist wichtig, Menschen richtig einschätzen zu können. Merk dir das. Kommissar Stein hat gelogen, weil ich ihn darum gebeten habe. Weil ich möchte, dass es deiner Mutter wieder besser geht. Und möchtest du das nicht auch? Möchtest du sie nicht endlich wieder lachen und singen hören? Möchtest du nicht, dass sie wieder regelmäßig an ihrer Diskussionsrunde teilnimmt, dass sie sich für bedürftige Menschen einsetzt? Möchtest du nicht mit ihr wie früher Dinge unternehmen? Dir Dinge von ihr schenken lassen? Sie hat dir und Melissa doch immer gern viele Dinge geschenkt – von meinem Geld. Aber lassen wir das. Willst du nicht, dass es wieder so wird wie früher? Dass wir drei wieder eine glückliche Familie sind, auch wenn Melissa für immer von uns gegangen ist? Oder möchtest du weiter erleben, dass deine völlig verängstigte Mutter sämtliche Räume im Haus verdunkelt, dass sie den ganzen Tag nur noch im Bett verbringt? Möchtest du allein deine Mahlzeiten einnehmen, allein Hausaufgaben machen, allein fernsehen, niemandem mehr erzählen, was du in der Schule erlebt hast?“ Mein Vater machte eine rhetorische Pause. „Du hast die Wahl, Constantin. Du kannst deiner Mutter die Wahrheit sagen, wenn du das für richtig hältst. Du kannst ihr sagen, dass alles, was Kommissar Stein erzählt hat, gelogen war. Ich werde dir nicht widersprechen. Stell dich aber darauf ein, dass du hier anschließend tagtäglich die Hölle erleben wirst. Dass du täglich in Angst um deine Mutter aus der Schule kommen wirst. Aber es gibt zum Glück noch eine zweite Möglichkeit: Du siehst ein, dass es vorteilhafter ist, unser kleines Geheimnis für dich zu behalten. Dann hast du bald die Mutter, die du von früher kennst, zurück. Das verspreche ich dir.“ Wieder machte mein Vater eine Pause. „Also, wie lautet deine Entscheidung?“

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. „Okay.“ Ich nickte.

„Okay – was?“ Mein Vater wurde streng. „Sprich in ganzen Sätzen, Constantin. Das sage ich dir nicht zum ersten Mal.“

„Ich ... verrate nichts.“

„Sehr schön!“ Mein Vater grinste breit, wie er es zu tun pflegte, wenn er von dem erfolgreichen Abschluss eines Mandats berichtete, und klopfte mir herzlich auf die Schulter. „Und jetzt, würde ich sagen, gibt es zur Feier des Tages für uns drei eine große Portion Eis zum Nachtisch. Was hältst du davon?“

Sie war meine Königin

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