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1. Das Haus

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Drei Jahre leben Inga und ich nun schon in diesem Haus.

Drei Jahre, ohne zu wissen, wie wir hierhergekommen sind und warum wir hier gefangen gehalten werden.

Drei Jahre ohne Sonne auf der Haut. Die Sonne sehen wir nur durch bruchsichere Fensterscheiben.

Drei Jahre ohne ein Geräusch aus der Außenwelt. Die schalldichten Wände schlucken jeden Laut.

Drei Jahre ohne eine andere Menschenseele, bis auf den Mann, der uns einmal wöchentlich mit Lebensmitteln versorgt. Ich mag nicht daran denken, was passiert, wenn er eines Tages nicht mehr zu uns kommt.

Drei Jahre ohne ein Lebenszeichen an unsere Eltern. Dieser Gedanke ist für Inga und mich wohl der schlimmste. Wissen unsere Eltern, was mit uns geschehen ist? Suchen sie noch nach uns, oder haben sie die Hoffnung, uns wiederzusehen, längst aufgegeben? Hat jemand Lösegeld von unseren Eltern, die trotz harter Arbeit gerade genug zum Leben verdienen, gefordert? Und wie beurteilt Britta mit ihrem scharfen Verstand die Situation?

Britta und Inga heißen meine Schwestern, wie die Kinder in einer Fernsehserie. Nur heiße ich nicht Lasse oder Bosse, sondern Wolfgang. Fast alle nennen mich Wolf, niemals Wolfi. Meine Feinde würden mich Wolfi nennen, denke ich. Habe ich Feinde? Hat meine Familie Feinde? Hasst uns jemand so sehr, dass er Inga und mich jahrelang einsperren würde?

Zu Beginn hatte ich Bernd Fliege, einen meiner Mitschüler, der nach eigener Aussage mein bester Freund war, in Verdacht, weil er Inga und mich an dem Tag, an dem wir entführt wurden, wüst beschimpft hatte. Ich habe den Gedanken aber schnell wieder verworfen. Bernd mag ein Hitzkopf sein, und er schreckt auch vor Gewalt nicht zurück, aber für so ein ausgeklügeltes Verbrechen, wie es Inga und mir angetan wird, ist er nicht intelligent genug.

Eine furchtbare, unaussprechliche Vermutung, weshalb Inga und ich hier sind, habe ich noch. Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, denke ich darüber nach. Inga erzähle ich nichts davon, denn ich habe Angst davor, wie sie auf meinen Verdacht reagieren könnte.

Inga hat in den ersten Tagen in diesem Haus viel geweint und geschrien, weniger aus Angst, sondern vielmehr aus Wut, dass es jemand wagt, uns hier festzuhalten. Obwohl mir meine zwei Jahre jüngere Schwester mit ihrem wilden Temperament näher steht als Britta, die sechs Jahre älter ist als ich und jede Handlung vorher gründlich durchdenkt, wodurch sie oft unterkühlt wirkt, frage ich mich insgeheim, ob ich nicht mit Britta an meiner Seite bessere Chancen hätte, von hier wegzukommen.

Inga ist während der Zeit, die wir hier sind, schweigsam geworden und schläft viel. Immer wieder ermuntere ich sie, einen der Romane in dem gut gefüllten Bücherregal im Wohnzimmer zu lesen oder mit mir eines der im Wohnzimmerschrank aufbewahrten Gesellschaftsspiele zu spielen. Das Spiel, in dem man Straßen und Häuser kaufen kann, mag ich am liebsten. Da gewinne ich garantiert immer. Ich liebe es, mit Geld umzugehen. Betriebswirtschaft wollte ich studieren und irgendwann ein großes Unternehmen leiten. Doch daraus wird nichts werden, denn ich konnte nicht einmal mein Abitur machen. Einige Tage vor den Prüfungen wurde ich zusammen mit Inga entführt.

Es gibt nur zwei Dinge, über die Inga sprechen möchte, seit wir hier sind. Das eine sind Kindheitserinnerungen. „Weißt du noch“, beginnt jede ihre Erzählungen, und sie fordert mich auf, ebenfalls in meinem Gedächtnis nach alten Geschichten zu kramen.

Inga fallen Dinge ein, die ich am liebsten für immer vergessen würde. „Weißt du noch, als du mit dem Fahrrad auf dem Schotterweg hingefallen bist und du dich unterhalb des Knies dermaßen verletzt hast, dass die Wunde genäht werden musste?“ Aufmerksam sieht sie mich an, während ich das Gesicht verziehe, als würde ich die Schmerzen von damals noch einmal durchleben.

„Weißt du noch, als wir bei Frau Lehmann klingelten und sie nicht öffnete?“

Frau Lehmann war unsere Nachbarin, eine alleinstehende ältere Dame, die Inga und ich gelegentlich besuchten, da ihr Küchenschrank stets voller Süßigkeiten war und sie uns hin und wieder etwas Geld zusteckte, wenn wir uns nur geduldig ihr Geplapper anhörten.

Das ist Ingas Lieblingsgeschichte, die sie immer wieder gern erzählt und die ich hasse. Sie trug sich an einem regnerischen Herbsttag zu, als Inga sechs und ich acht war. Wir wussten nichts mit uns anzufangen, und so entschlossen wir uns, wieder einmal an der Haustür von Frau Lehmann zu klingeln. Sie öffnete nicht.

„Also gingen wir in den Garten“, fährt Inga mit ihrer Geschichte fort. „Es goss in Strömen. Ich wollte viel lieber nach Hause und fernsehen, solange Mama und Papa noch in der Gärtnerei waren. Das habe ich dir auch gesagt, Wolf.“

„Ja, das hast du mir gesagt“, gebe ich zu und wünschte, Inga würde nicht weitererzählen. „Aber das hätte uns Britta sowieso nicht erlaubt.“

„Ach, Britta! Du wolltest jedenfalls unbedingt in den Garten, um nach dem Rechten zu sehen. Schon damals warst du so verantwortungsbewusst. Und was sahen wir, als wir um die Hausecke nach hinten kamen?“

Wir sahen Frau Lehmann auf dem Rücken im regennassen Gras neben einem kleinen Apfelbaum liegen. Ihre leeren Augen starrten in den bleigrauen Himmel. Neben Frau Lehmann lag ein Korb, aus dem ein paar mickrige Äpfel gefallen waren. Ich wusste sofort, dass sie tot war.

„Du wusstest natürlich sofort, dass sie tot war“, erzählt Inga weiter. „Aber ich habe mich gewundert, weshalb Frau Lehmann bei dem Wetter im Garten liegt, und wollte ihr aufhelfen, damit sie sich nicht erkältet. Du hast mich davon abgehalten. Dann sind wir nach Hause gelaufen und haben es Britta erzählt. Natürlich hat sie uns nicht geglaubt. Doch schließlich hat sie selbst nachgesehen und dann endlich den Krankenwagen gerufen. Später, als Mama und Papa nach Hause kamen und davon erfuhren, waren sie sehr stolz auf Brittas Heldentat.“

„Lass uns doch lieber über schöne Erinnerungen reden“, versuche ich jedes Mal, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken.

„Okay, fang an.“

„Weißt du noch, wie es Weihnachten immer war?“

Der Gedanke daran ist, wie alle schönen Erinnerungen in Gefangenschaft, wunderbar und schmerzlich zugleich.

„Ich weiß noch genau, wie unser letztes Weihnachtsfest war, bevor ... bevor wir hierherkamen“, erinnert sich Inga. „Mama stand den ganzen Nachmittag in der Küche. Gänsebraten sollte es geben. Mit Klößen, weil Britta die immer so gern aß.“

Meine ältere Schwester studierte und lebte damals in Hamburg. Nur selten kam sie nach Hause.

„Zu viel zu tun“, entschuldigte sie sich, wenn meine Eltern sie ab und zu anriefen. Von selbst meldete sie sich nie.

„Wir haben mit Papa den Weihnachtsbaum geschmückt“, erzählt Inga weiter. „Richtig schön bunt mit viel Lametta. Papa ist zwischendurch immer wieder vor die Haustür gegangen, um zu sehen, wo Britta bleibt, denn es wurde schon langsam dunkel. Eigentlich hatten wir vor dem Essen noch in die Kirche gehen wollen, um uns anzusehen, wie einige Kinder die Weihnachtsgeschichte nachspielen, doch stattdessen blieben wir alle zu Hause und warteten in der Küche auf Britta. Inzwischen war es längst dunkel geworden, die Geschenke lagen unter dem Weihnachtsbaum, der Küchentisch war festlich gedeckt, der Gänsebraten drohte zu verkohlen, und die Klöße waren bereits matschig. Und wer war nicht da? Britta. Mama und Papa wollten unbedingt mit dem Essen und der Bescherung warten, bis sie nach Hause kam. Dann klingelte das Telefon.

‚Das wird die Deern sein‘, rief Mama. ‚Bestimmt kommt ihr Zug nicht aus Hamburg weg, bei dem ganzen Schnee.‘“ Inga ahmt den breiten norddeutschen Akzent unserer Eltern perfekt nach. „Mama ist dann schnell in den Flur, um den Hörer abzunehmen. ‚Na Bridda, hat dein Zug wohl Verspätung?‘, hörten wir sie fragen. ‚Ach so. Na dann ... viel Spaß und schöne Weihnachten, Deern.‘ Als Mama wieder in die Küche kam, war sie blass.

‚Was ist los, Renate?, fragte Papa. ‚Hat die Deern den Zug verpasst?‘

‚Sie will gar keinen Zug nehmen, Egon. Ist ihr zu voll an Weihnachten. Sie feiert lieber mit ein paar Freunden und hat ganz vergessen, uns Bescheid zu sagen.‘“

Ich sehe die enttäuschten Gesichter meiner Eltern wieder genau vor mir. Weshalb will Inga unbedingt über dieses Weihnachtsfest sprechen? Es gab so viele andere.

Während ich nach tröstenden Worten für meine Eltern suchte, platzte es aus Inga heraus. „Das ist doch wieder typisch Britta! Die egoistische Kuh versaut uns das ganze Fest! ‚Vergessen, Bescheid zu sagen‘, dass ich nicht lache! Britta vergisst nichts. Wir sind ihr einfach scheißegal! Mir ist die Lust auf Weihnachten vergangen!“ Mit diesen Worten verließ Inga die Küche und knallte die Tür hinter sich zu. Meine Mutter ging ihr nach, um sie zu beruhigen. Danach aßen wir vier schweigend das verkochte Essen. Nach Feiern war niemandem mehr zumute.

Das zweite Thema, das Inga immer wieder anschneidet, ist die Frage nach dem Grund, weshalb wir hier sind. Ich höre ihr dann zu, ohne viel dazu zu sagen.

„Wir werden hier zu Beobachtungszwecken festgehalten“, ist Ingas überzeugte Meinung. „Es geht nicht um Geld oder Rache, oder glaubst du, die Idioten an meiner Schule würden so etwas fertigbringen? Jemand will herausfinden, was eine jahrelange Isolation mit Menschen macht.“

Inga meint zu wissen, dass wir von Außerirdischen entführt wurden. Schon als Kind hat sie immer wieder nächtliche Entführungen in ein Raumschiff geschildert und mit erstaunlicher Genauigkeit von ihren Begegnungen mit diesen Wesen berichtet.

„So‘n Tüdelkram“, pflegte unser Vater dann zu sagen. „Das kommt bloß vom ganzen Fernsehen.“

Ingas stärkstes Argument für ihre Theorie ist das Haus, in dem wir gefangen sind. „Du musst doch zugeben, dass das kein normales Haus ist, Wolf. Es ist nicht von dieser Welt“, hat sie schon oft gesagt.

Inga hat Recht, das Haus ist seltsam, und doch hat hier allem Anschein nach vor uns eine Familie gelebt.

Ungewöhnlich sind zunächst die absolut bruchsicheren Fenster, die sich nicht öffnen lassen. Die Glasscheiben befinden sich nicht einmal in einem Rahmen, sondern sind direkt im Mauerwerk verankert. Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. In den ersten Tagen unserer Gefangenschaft habe ich mit aller Kraft mit einem Küchenstuhl auf jedes einzelne Fenster eingeschlagen. Die metallenen Stuhlbeine waren schließlich schief und krumm und die Stuhllehne verbogen, doch die Fenster hatten nicht einmal einen Kratzer.

Dann sind da die schallisolierten Außenwände. Sie scheinen sehr dick zu sein und halten selbst beim stärksten Gewitter das Donnerkrachen von uns fern. Gleichzeitig müssen die Wände über so etwas wie Poren verfügen, denn die Luft ist fast im ganzen Haus immer frisch. Obwohl das Haus nicht geheizt wird, wird es im Winter nie kalt, während es im Sommer in allen Räumen, außer im Gäste-WC, angenehm kühl ist. Ich habe mir die Wände im ganzen Haus immer wieder genau angesehen, doch ich kann ihr Geheimnis nicht entschlüsseln.

Wir wissen nicht, ob wir in einer Stadt oder am Ende der Welt gefangen gehalten werden. Dass wir an Silvester das Leuchten von Feuerwerkskörpern sehen, ist unser einziger Hinweis, dass es in unserer Nähe Menschen gibt. Der Blick aus den Fenstern verrät nichts über unsere Umgebung, denn um das ganze Haus herum stehen sehr hohe, dichte Zypressen. Sie sehen alle gleich aus. Genau gleich.

Die vordere Hauswand trennt nur eine schmale, seit Jahren ungemähte Rasenfläche von dieser dunkelgrünen Armee und der schwarzen massiven Pforte, von der aus von Unkraut und Moos überwucherte Betonplatten zur Haustür führen. Es ist schwer zu sagen, aus welchem Material die Pforte besteht. Ich vermute, dass es Metall ist. Die Pforte ist in etwa so hoch wie eine Tür, doch die schwarze Wand darüber ragt hinauf bis zu den Zypressenspitzen. Ich habe noch nie so eine Gartenpforte gesehen. Sie gleicht dem Eingang einer Festung. Eine Garage scheint es nicht zu geben, jedenfalls ist sie oder eine Auffahrt nicht in unserem Blickfeld. Das Sonnenlicht erreicht den nach Norden ausgerichteten Vorgarten nie.

Der hintere Garten ist größer, wenn auch nicht riesig. Hier wächst ebenfalls nur ungepflegter Rasen. Es gibt im gesamten Garten keine anderen Pflanzen. In der Rasenmitte steht ein Gerüst mit zwei Schaukeln und Turnstangen an den Seiten. Hinten an den Zypressen hat eine große Hundehütte einem Vierbeiner als Behausung gedient. Wir haben inzwischen herausgefunden, dass es ein Bernhardiner war.

Hinter der Küche befindet sich eine Terrasse. Ein Tisch und vier Gartenstühle aus Holz stehen noch darauf. Zwei weitere Stühle sind umgekippt. Ich stelle mir manchmal die Familie vor, wie sie an einem warmen Sommertag draußen gefrühstückt hat. Duftender Kaffee und frische Brötchen mit Butter und Erdbeermarmelade. Wir vermuten, dass es einmal eine Tür von der Küche zur Terrasse gegeben hat. Jedoch sind davon keine Spuren mehr sichtbar.

Das Haus ist eingeschossig. Wir haben nicht einmal eine Luke zu einem Dachboden oder eine Tür zu einem Keller gefunden.

Fast den ganzen Tag halten wir uns im geräumigen Wohnzimmer auf, da man von dort – im Gegensatz zur ebenfalls großen, mit orangebraunen Schränken eingerichteten Küche – in den Vorgarten sieht.

Die Sitzgarnitur im Wohnzimmer ist mit dunkelbraunem Cord bezogen. Der Wohnzimmerschrank und das große Bücherregal scheinen aus massiver Eiche zu sein. An den mit einer gelbbraun gemusterten Tapete verkleideten Wänden hängen Bilder mit Blumenmotiven. Ein Fernseher steht im Wohnzimmerschrank, doch können wir ihn nicht nutzen, da sämtliche Kabel entfernt wurden und es außerdem im gesamten Haus keinen Strom gibt. So enden die Wintertage mangels Licht für uns früh, wenn es zu dunkel zum Spielen und Lesen wird.

Es ist wichtig, immer die schwarze Pforte im Blick zu behalten. Sollte ein Besucher das Grundstück betreten, was in den letzten Jahren nicht geschehen ist, werden wir sofort das auf der Fensterbank bereitliegende Blatt Papier, das ich aus einem Schreibblock herausgerissen und mit dem Wort HILFE beschrieben habe, an die Fensterscheibe des Wohnzimmers halten. Wir trauen uns nicht, das Blatt dauerhaft an der Fensterscheibe zu befestigen oder mit Zahnpasta Botschaften auf das Glas zu schreiben, denn, obwohl ich es ungern zugebe, habe ich wie Inga das Gefühl, ständig beobachtet zu werden. Außerdem könnte der Mann, der uns die Lebensmittel bringt, einmal unerwartet an einem anderen Wochentag zu uns kommen, obwohl das bisher nicht vorkam.

Schreibmaterial haben wir genug. In der ersten Zeit habe ich eine Strichliste geführt, um jeden Tag in Gefangenschaft zu dokumentieren. Dann bin ich dazu übergegangen, für jeden Monat einen Kalender aufzuzeichnen. Obwohl es unwichtig scheint, will ich unbedingt den Überblick über das aktuelle Datum behalten.

Es gibt in diesem Haus nur zwei funktionierende Uhren: einen Wecker auf dem Nachttisch neben meinem Bett und meine Armbanduhr. Ich achte peinlich genau darauf, diese beiden Uhren täglich aufzuziehen. Alle anderen Uhren – auch Ingas Armbanduhr – sind stehen geblieben. Ich weiß, dass es seit wenigen Jahren eine Sommerzeit gibt, doch ist mir nicht klar, an welchem Tag die Uhren in welche Richtung verstellt werden müssen. Glücklicherweise werden wir jeden Sonntagmittag um Punkt 12:00 Uhr mit Lebensmitteln beliefert. Wenn der Mann an einem Tag im März um 11:00 Uhr zu uns kommt, weiß ich, dass die Sommerzeit begonnen hat. Beliefert er uns, wenn die Tage kürzer werden, um 13:00 Uhr, müssen die Uhren wieder eine Stunde zurückgestellt werden.

Neben dem Wohnzimmer befindet sich das Elternschlafzimmer, das ich mir als mein Zimmer ausgesucht habe. Obwohl ich in dem Ehebett viel Platz habe, nutze ich nur die linke, dem Fenster zugewandte Seite. Auf dem Nachttisch an der rechten Bettseite stand anfangs ein Hochzeitsfoto. Es zeigte einen braunhaarigen jungen Mann im dunklen Anzug und eine wunderschöne Braut mit goldblonden langen Haaren in einem weißen Kleid mit einem Strauß roter Rosen im Arm. Beide kamen anscheinend gerade aus der Kirche und sahen sich lächelnd an. Ich habe das Foto in den Nachttisch gelegt, weil ich den Anblick nicht ertrage. In dem Nachttisch befindet sich auch noch eine Bibel. Ich habe zwischendurch immer wieder darin gelesen, doch bietet sie mir weder Trost noch eine Erklärung für unsere Situation.

Inga hat zum Schlafen das Gästezimmer am Ende des Flurs mit Blick in den hinteren Garten gewählt. Das Zimmer ist sehr einfach eingerichtet, nur ein schmales Bett an der Wand, ein Kleiderschrank und ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. Doch gibt es etwas in diesem Zimmer, das Inga fasziniert, und auch ich muss zugeben, dass ich mich davon angezogen fühle. Es ist ein etwa vierzig mal fünfzig Zentimeter großer Kunstdruck hinter Glas, der an der Wand neben dem Kleiderschrank hängt. Ich kenne mich mit Kunstrichtungen nicht gut aus, doch ich würde sagen, dass es sich um naive Landschaftsmalerei handelt. Das Bild zeigt grüne Hügel, auf denen kleine rote Häuser mit braunen Dächern stehen, dazwischen winzige Bäume. Einige tragen rote Früchte. Die Häuser sind durch Wege miteinander verbunden, auf denen kleine bunte Autos fahren. Die Sonne scheint, und der Himmel ist nur von ein paar weißen Wolken durchzogen. In so einer Welt muss einfach jeder glücklich sein. In so einer Welt kann nichts Schlimmes geschehen, da sind Inga und ich uns sicher. Niemand wird dort jahrelang eingeschlossen. Deshalb sieht sich insbesondere Inga das Bild immer wieder lange an.

An das Gästezimmer grenzen die beiden Kinderzimmer. Das Zimmer des Mädchens ist hauptsächlich in Rosa eingerichtet und beherbergt neben anderem Spielzeug viele Puppen und ein Puppenhaus. Inzwischen verblichene Kinderzeichnungen hängen an den Wänden.

Inga war schon immer ein Wildfang und hat nie gern mit Puppen gespielt. Die paar, die sie besaß, verloren schnell ihre Köpfe und Gliedmaßen, und ein Puppenhaus hätte sie wahrscheinlich auch innerhalb kürzester Zeit in alle Einzelteile zerlegt.

Der Junge scheint wie ich Flugzeuge zu lieben. Einige Modelle stehen im Wandregal seines Zimmers, und die Zimmerwände sind mit selbstgemalten Flugzeugbildern dekoriert.

Inga und ich haben uns immer wieder vorgenommen, die Kinderzimmer zu durchsuchen, um Hinweise oder nützliche Gegenstände zu finden. Wir können es nicht. Es ist, als würden wir in den Sachen toter Kinder herumwühlen. Wir haben die Zimmer lange nicht mehr betreten.

Ebenfalls meiden wir das Esszimmer, das zwischen den Kinderzimmern und der Küche liegt. Es ist anscheinend für besondere Anlässe gedacht, denn in der gemütlichen Küche gibt es einen Esstisch mit sechs Stühlen, von denen ich einen durch meine Ausbruchsversuche unbenutzbar gemacht habe. Das Esszimmer beherbergt einen langen massiven Tisch mit glatter rotbrauner Tischplatte und acht Stühle mit weinrotem Stoffpolster. Mit dem schweren Tisch haben Inga und ich anfangs zu zweit versucht, das Esszimmerfenster zu zerstören, bis unsere Arme und Schultern schmerzten. Der Tisch hat an dem einen Ende nun einige kleine Dellen und Kratzer. Das Fensterglas ist unversehrt. An der Wand steht eine Holzanrichte. In ihr befinden sich allerhand weiße und bunte Tischdecken. Bestimmt wurden in der Anrichte auch feine Gläser, Geschirr und Besteck aufbewahrt, doch sind diese Sachen alle verschwunden.

Dass Inga und ich uns nur ungern in dem Esszimmer aufhalten, liegt an dem großen Familienporträt an der Wand, das uns zu beobachten scheint. Es zeigt die vier Menschen, die vor uns in diesem Haus gelebt haben. Die schöne Frau mit den großen blauen Augen, deren goldblondes langes Haar in der Mitte gescheitelt ist, lächelt in die Kamera, als würde sie für ein Shampoo werben.

Der ebenfalls lächelnde Mann an ihrer Seite hat dunkle Augen, dunkelbraunes glattes, seitlich gescheiteltes Haar, das seine Ohren halb bedeckt, und trägt Koteletten. Er erinnert mich an einen deutschen Schlagersänger. Mir fällt der Name gerade nicht ein.

Der etwa achtjährige Junge vor ihm sieht seinem Vater sehr ähnlich. Er trägt sein dunkles Haar als Rundschnitt. Selbstbewusst wie der Junge auf einer Schokoladenschachtel lächelt er den Betrachter an.

Das Haar des etwa fünfjährigen Mädchens ist heller als das seiner Mutter. Etwas schüchtern blickt es mit großen blauen Augen in die Kamera. Vielleicht ist ihm die Situation nicht ganz geheuer. Vielleicht wurde es von dem Fotografen auch ermahnt, nicht so frech zu grinsen.

Wir wissen nicht, was mit dieser so glücklich aussehenden Familie geschehen ist. Vielleicht ist es besser, es nicht zu wissen.

Weitere Fotos der Familie gibt es in den vier Fotoalben im Wohnzimmerschrank. Inga und ich sehen sie uns immer wieder widerwillig und gleichzeitig neugierig auf der Suche nach Hinweisen, die unsere Situation erklären, an.

Ein rosa und ein hellblaues Kunstlederfotoalbum sind auf dem Deckel jeweils in goldener Gravur mit „Unser Baby“ beschriftet. Bilder zeigen den Jungen und das Mädchen als Babys und Kleinkinder und die stolzen Eltern. Auf einigen im Garten aufgenommenen Fotos des Jungen ist auch noch ein junger verspielter Bernhardiner zu sehen. Auf späteren Bildern ist er ausgewachsen und wirkt ruhiger. Aus handschriftlichen Notizen in den Fotoalben geht hervor, dass der Junge Anton, das Mädchen Anita und der Hund Arthur heißt.

Auf dem weißen Fotoalbum steht in Silberprägung „Unsere Hochzeit“. Darin gibt es zahlreiche Bilder des glücklichen Paars mit den Hochzeitsgästen nach der Trauung vor der Kirche und auf der anschließenden Feier. Die beiden haben anscheinend viele Freunde, denn es war ein großes Fest. Wie sich wohl die Freunde das Verschwinden der Familie erklären?

Das vierte Fotoalbum ist mit gelbroten Blumen auf hellgrünem Untergrund bedruckt. Auf dem Buchdeckel steht in dunkelgrüner Schnörkelschrift „Unsere Familie“. Hier sehen wir das Paar und die Kinder an Weihnachten vor dem geschmückten Tannenbaum, im Urlaub am Meer sowie die jährlichen Geburtstagsfeiern der Kinder und Feste der Eltern mit Freunden. In manchen erkennen wir die Gäste von der Hochzeitsfeier wieder. Die älteren Herrschaften sind wahrscheinlich die Großeltern. Wissen sie, was mit ihren Kindern und Enkeln geschehen ist?

Zwischen der schweren schwarzen Eingangstür – sie ist vielleicht aus demselben Material wie die Gartenpforte - und dem Wohnzimmer gibt es ein Gäste-WC, das wir nie benutzen, weil die Luft in dem kleinen Raum, warum auch immer, unerträglich warm und feucht ist und sich große schwarze Schimmelheere über die Zimmerdecke und an den Wänden ausbreiten.

Auf der anderen Seite der Haustür, vor der Küche, befindet sich das Badezimmer. Die Fensterscheiben des Badezimmers sind wie die des WCs aus milchigem, aber nicht weniger unnachgiebigem Glas. Wir haben kein Warmwasser, doch daran haben wir uns inzwischen gewöhnt. Es gibt eine Badewanne, keine Dusche. Vielleicht härtet uns das kalte Wasser sogar ab. Können wir uns in dieser Isolation überhaupt mit irgendeiner Krankheit anstecken? Aber was sollen wir nur tun, wenn sich einer unserer Zähne oder unser Blinddarm entzünden sollte?

Ingas Verbrechen

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