Читать книгу Ingas Verbrechen - Janina Hoffmann - Страница 5
3. Die Chance
ОглавлениеEs ist wichtig, einen geregelten Tagesablauf zu haben. Seit Inga und ich in Gefangenschaft leben, hat die Strukturierung unseres Tages eine immense Bedeutung für uns, denn sie hält uns davon ab, den Verstand zu verlieren. Ich wache immer noch jeden Morgen um 6:30 Uhr auf. Das ist die Zeit, zu der ich an Schultagen immer aufgestanden bin. Wenn es im Herbst und Winter noch dunkel ist, bleibe ich so lange im Bett, bis ich im Morgengrauen langsam die Umrisse des Schlafzimmers erkennen kann. Werden die Tage länger, stehe ich sofort nach dem Aufwachen auf. Zuallererst ziehe ich meine Armbanduhr und den Wecker in meinem Schlafzimmer auf, damit ich es nie vergesse und wir immer genau wissen, wie spät es ist. Obwohl es keine Rolle mehr spielen sollte, ist es mir sehr wichtig, stets die genaue Uhrzeit zu kennen. Ich habe Angst, sonst die Orientierung zu verlieren.
Nachdem ich mich gewaschen und angezogen habe, wecke ich Inga, die immer noch tief schläft, wenn ich an ihre Zimmertür klopfe. Ich gehe in ihr Zimmer, um sicherzugehen, dass sie auch aufsteht, denn ich weiß, dass sie am liebsten immer nur schlafen möchte. Schlafen und vergessen.
Wenn Inga aufwacht, sieht sie mich einen Moment lang verwirrt an, als wüsste sie nicht, wo sie ist. Dann huscht ein enttäuschter Ausdruck des Erinnerns über ihr Gesicht.
Während Inga im Badezimmer ist, decke ich den Frühstückstisch in der Küche, fülle kaltes Wasser in eine Porzellankanne und rühre Kaffeepulver sowie etwas Zucker hinein. Es klingt furchtbar, aber wir haben uns inzwischen an dieses Morgengetränk gewöhnt. Milch und Milchprodukte haben wir nicht. Sie würden auch ohne Kühlschrank verderben. Manchmal bringt uns jedoch der Mann, der die Lebensmittel liefert, zwei kleine Becher Joghurt, den Inga und ich dann sonntags zum Nachtisch essen.
Inga isst morgens am liebsten Brot mit Marmelade. Ich bevorzuge es herzhaft und esse Wurst aus der Konservendose zu meinem Brot. Der Konserveninhalt lässt sich ungekühlt zwei Tage lang aufbewahren.
Inga besteht darauf, nach dem Frühstück allein abzuwaschen und die Küche zu reinigen. Sie putzt die Küche nach jeder Mahlzeit. Zu Hause hat sie es gehasst sauberzumachen, aber jetzt wirkt es auf sie beruhigend, wie sie mir schon mehrfach gesagt hat.
Ich gehe nach dem Frühstück ins Wohnzimmer und streiche einen Tag auf meinem selbstgezeichneten Kalender ab. Anschließend setze ich mich mit einem Buch ans Wohnzimmerfenster und behalte die Gartenpforte im Blick.
Wenn Inga mit dem Putzen fertig ist, ist sie dran, am Wohnzimmerfenster Wache zu halten. Sie starrt meistens nur nach draußen, statt wie ich nebenbei zu lesen. Ich beginne dann mit meinem Trainingsprogramm. Um in Form zu bleiben, laufe ich zunächst im Flur auf und ab. Inga schließt dabei stets die Wohnzimmertür, denn das Herumgelaufe mache sie ganz verrückt, sagt sie. Nachdem ich eine Stunde lang gelaufen bin, gehe ich in das Schlafzimmer und mache dort weiter mit Rumpf- und Kniebeugen, Liegestütze und anderen Kraftübungen. So vergeht eine weitere Stunde. Anschließend leiste ich Inga im Wohnzimmer Gesellschaft, wo ich erst einmal mehrere Gläser Wasser trinke. Wenn Inga gut gelaunt ist, unterhalten wir uns und sprechen über Kindheitserinnerungen. Meistens möchte Inga nicht reden und starrt weiter aus dem Fenster, während ich lese.
Um 12:30 Uhr steht Inga auf, um das Mittagessen vorzubereiten. Eigentlich gibt es nicht viel vorzubereiten, denn wir ernähren uns größtenteils aus Konservendosen. Anfangs fanden wir das Essen sehr salzig und den Geschmack künstlich, doch auch daran haben wir uns mittlerweile gewöhnt. Aus dem bisschen frischen Gemüse, das uns geliefert wird, bereitet Inga sonntags und montags mit Plastikbesteck mühsam einen Salat als Beilage zum Mittagessen. An den anderen Tagen schneidet sie das Obst, das wir bekommen, ebenso mühsam in kleine Stücke, und wir essen es als Nachtisch. Ich würde unsere Mahlzeiten lieber im Wohnzimmer einnehmen, um die Pforte zu sehen, doch da spielt Inga nicht mit.
„Wir haben eine Küche, also essen wir auch dort. So wie früher zu Hause.“
Da es Inga so wichtig ist, habe ich es aufgegeben, dagegen zu argumentieren.
Nach dem Mittagessen putzt Inga wieder die Küche und verbringt einen Großteil des Nachmittags damit, auch im übrigen Haus sauberzumachen. Sie lehnt meine Hilfe strikt ab. Also mache ich es mir wieder im Wohnzimmer bequem und lese in einem der seltsamen Romane, die das Bücherregal im Wohnzimmer zu bieten hat. Viele handeln von Außerirdischen und ihrem Leben auf fernen Planeten. Obwohl mich diese Geschichten beunruhigen, sind sie gleichzeitig unterhaltsam, und die Zeit vergeht. Das ist das Wichtigste. Irgendwann kommt Inga, um mir Gesellschaft zu leisten. Wenn ich Glück habe, spielt sie dann mit mir mein Lieblingsspiel, sonst ein anderes Gesellschaftsspiel aus dem Wohnzimmerschrank. Der Nachmittag verrinnt dabei wie im Flug.
Spätestens wenn es dunkel wird, gehen wir zum Abendessen wieder in die Küche. Das ist im Winter schon früh. Nun isst auch Inga etwas aus der Wurstkonserve zu ihrem Brot, dazu Gurken aus dem Glas. Anschließend macht sie – im Winter zur Not auch vollkommen ohne Tageslicht - nochmals kurz die Küche sauber. In der hellen Jahreszeit warte ich auf Inga im Wohnzimmer, damit wir unser Spiel fortsetzen oder ein neues beginnen können. Dann spielen wir, bis es zu dunkel dafür ist.
Anschließend kommt die Zeit des Tages, die ich am wenigsten mag. Zu Hause habe ich in den letzten Jahren nachts immer mein Schlafzimmer abgeschlossen, um mich vor einem eventuellen Angriff meiner Schwester zu schützen, doch in diesem Haus haben die Zimmertüren keine Schlösser. Inga schläft immer sofort ein, nachdem sie ins Bett gegangen ist, doch ich liege noch lange wach und mache mir Vorwürfe. Wenn ich es an jenem Abend nur abgelehnt hätte, Inga ins Maximo zu begleiten. Wenn ich nur darauf bestanden hätte, dass mein Vater mir den Wagen gibt. Wenn wir nur vor dem Maximo gewartet hätten, bis uns Bekannte nach Hause fahren. Wenn ich nur nicht in den schwarzen Wagen gestiegen wäre. Wenn ich nur Inga nicht dazu gebracht hätte einzusteigen. Wenn es mir nur gelungen wäre, während der Fahrt die Tür zu öffnen und Inga und mich zu befreien. Ich grübele und grübele. Und dann, wenn ich endlich fast eingeschlafen bin, meldet sich die leise Stimme in meinem Kopf, eine Stimme, die ich tagsüber konsequent zum Schweigen bringe, und ich bin wieder hellwach. Die Stimme stellt jedes Mal dieselben Fragen: „Was mag Inga noch für schreckliche Dinge angestellt haben? Werden wir jetzt für ihre Taten bestraft? Oder hat unsere Gefangenschaft etwa mit dem zu tun, was ich Manuel Mock angetan habe?“
Sonntags wird unsere tägliche Monotonie durch den Mann unterbrochen, der uns die Lebensmittel bringt. Um Punkt 12:00 Uhr öffnet er die hohe Pforte und schiebt sich, einen großen Karton in beiden Händen tragend, hindurch. Etwas Weißes – ich vermute, dass es ein Auto ist – ist für einen kurzen Moment durch die offene Pforte erkennbar, bevor sie hinter dem Mann zufällt. Der Mann stellt den Karton vor der schweren Eingangstür ab. Durch ein kleines – natürlich unzerbrechliches – Fenster im oberen Bereich der Tür sowie durch die beiden hohen Glaselemente links und rechts neben der Tür hat der Mann bereits den gesamten vorderen Bereich des Flurs von draußen im Blick. Es dauert einen Moment, bis der Mann die Türschlösser aufgeschlossen hat. Das Aufschließen können Inga und ich durch die sehr mächtige Tür nicht hören. Wir sehen die drei Schlösser aber, während der Mann die Tür schließlich öffnet. Auf der Innenseite hat die Tür seltsamerweise kein einziges Schloss. Wenn der Mann das Haus betritt, hat er bereits die Pistole mit dem aufgesetzten Schalldämpfer in der Hand.
Der Mann ist schätzungsweise fünfzig Jahre alt, und sein rundes Gesicht ist stets gerötet. Es erinnert mich an das Gesicht meines Vaters. Unter der Schirmmütze des Mannes aus khakifarbenem Cord schauen meist fettige rotbraune Haare hervor. Das graue Jackett – es ist wohl immer dasselbe – ist an den Ellenbogen mit braunen ovalen Lederflicken ausgebessert worden. Seine khakifarbene Hose aus breitem Cord scheint er schon lange und oft getragen zu haben, denn der Cord glänzt und ist an einigen Stellen abgescheuert. Würde mir der Mann auf der Straße begegnen, würde ich ihn vermutlich für einen ungepflegten, aber braven Bürger halten. Ich habe mich schon oft gefragt, was der Mann wohl den Rest der Woche über macht. Beliefert er weitere Gefangene, oder geht er einem ganz gewöhnlichen Beruf nach? Anscheinend hat der Mann nie Urlaub und ist nie krank, denn bisher hat uns immer nur er beliefert. Ich habe viel darüber nachgedacht, ob der Mann etwas mit Ingas und meiner Entführung zu tun hat, bin aber schließlich zu der Auffassung gelangt, dass er für einen so ausgetüftelten Plan nicht intelligent genug ist. Vielmehr scheint er jemand zu sein, der Aufträge ausführt, ohne Fragen zu stellen. Fragen stellen sollten allerdings meiner Ansicht nach die Menschen, die in den Nachbarhäusern wohnen, wenn es Nachbarhäuser gibt. Es muss ihnen doch auffallen, dass jeden Sonntag ein weißer Wagen vor diesem Haus hält, sie aber die Familie, die hier einmal gewohnt hat, schon lange nicht mehr gesehen haben.
Der Mann kontrolliert zunächst mit einem schnellen Blick die sieben leeren, im Flur neben der Eingangstür von Inga und mir aufgestellten Konservendosen, die unser Mittagessen der vergangenen Tage enthielten, ob bei allen noch die scharfen Deckel vorhanden sind. Dabei steht die Haustür sperrangelweit offen, doch die Pistole des Mannes ist auf Inga und mich gerichtet. Während seines gesamten Besuchs spricht der Mann nie auch nur ein Wort, so dass es eine Weile gedauert hat, bis wir verstanden haben, was er von uns erwartet, bevor er uns als Gegenleistung unsere Lebensmittel und saubere Kleidung gibt. Auch haben wir längst aufgegeben, ihn nach dem Grund unserer Entführung zu fragen oder ihn anzuflehen, uns freizulassen. In einem Plastikbeutel steht unser Müll ebenfalls in der Nähe der Eingangstür und daneben ein Stoffsack mit unserer schmutzigen Wäsche. Es hat Inga und mich zunächst Überwindung gekostet, doch nachdem wir einige Tage in Gefangenschaft waren, haben wir schließlich unsere Kleidungsstücke gegen die des Familienvaters und seiner Frau aus dem Schlafzimmerschrank gewechselt. Inzwischen hat Inga sämtliche Garderobe der Frau in den Schrank des Gästezimmers gelegt. Kleiderbügel sind im ganzen Haus nicht zu finden. Die Kleidungsstücke des Ehepaars passen Inga und mir erstaunlich gut, um nicht zu sagen perfekt. Inga mit ihrem blonden langen lockigen Haar sieht der Frau sogar etwas ähnlich, und ich gleiche mit meinen braunen gescheitelten Haaren dem Familienvater. Es ist geradezu unheimlich.
Der Mann verfolgt meine Bewegungen mit der Pistole, während ich die sieben leeren Konservendosen in den Plastikbeutel, der den restlichen Müll enthält, werfe. Es ist unmöglich, den Mann zu überwältigen, ohne zu riskieren, erschossen zu werden. Wie oft habe ich mir in Gedanken schon ausgemalt, wie ich dem Mann die Waffe aus der Hand schlage und mit Inga aus dem Haus renne! Doch gegen die Pistole haben wir keine Chance. Wir haben im ganzen Haus auch nichts gefunden, was wir als Waffe benutzen könnten. Unser gesamtes Besteck und Geschirr besteht bis auf einen stumpfen Dosenöffner, mit dem sich die Konservendosen nur sehr mühsam öffnen lassen, ausschließlich aus Plastik. Weiterhin haben Inga und ich eine Bastelschere, mit der wir uns Finger- und Fußnägel sowie ab und zu gegenseitig die Haare schneiden. Leider ist Inga im Haareschneiden weniger geschickt als ich, oder es fällt bei ihren langen lockigen Haaren weniger auf, wenn ich mich verschneide. Jedenfalls erkennt man bei meinem Haarschnitt sofort, dass kein Friseur am Werk war. Einen Bart musste ich mir zwangsläufig wachsen lassen, denn Rasierklingen gibt es nicht. Also nehme ich die Bastelschere ebenfalls, um hin und wieder die Haare in meinem Gesicht zu stutzen.
Mit den Spiegeln, von denen es im Haus einige gibt, unter anderem im Badezimmer und in meinem Schlafzimmer, verhält es sich merkwürdig. Natürlich sind wir am Anfang unserer Gefangenschaft schnell auf die Idee gekommen, einen Spiegel zu zerbrechen, um die Scherben als Waffe gegen den Mann oder, so verzweifelt es klingen mag, als Fluchtwerkzeug zu benutzen. Doch es stellte sich heraus, dass die Spiegel, obwohl sie gewöhnlich scheinen, gar nicht aus Glas, sondern aus einem stabilen Kunststoff gefertigt sind.
Der Mann geht nach draußen vor die Tür und schiebt den stets bis oben hin gefüllten, offenen Karton mit den Füßen in den Flur. Dann schließt er die Tür. Dabei dreht er dem Flur nie den Rücken zu und richtet die Pistole die ganze Zeit über in das Haus auf Inga und mich. Der Karton enthält unsere Lebensmittel, saubere Kleidung und Vitamintabletten, laut Verpackung mit Mineralstoffen und extra viel Vitamin D. Anfangs wussten Inga und ich nicht, was wir von den Tabletten halten sollten. Wir kannten Vitamin D nicht und dachten, wir sollten vergiftet oder durch Drogen gefügig gemacht werden. Das Bücherregal im Wohnzimmerschrank beherbergt jedoch auch ein dickes Lexikon, und dort habe ich nachgelesen, dass Vitamin D für die Verwertung von Kalzium benötigt und normalerweise vom Körper durch Sonnenlicht gebildet wird. Offenbar wollen unsere Entführer einem Vitamin- und Mineralstoffmangel, hervorgerufen durch die einseitige Ernährung und das fehlende Sonnenlicht, vorbeugen. Zunächst haben Inga und ich uns eine Tablette geteilt, um mögliche Nebenwirkungen zu testen. Als diese ausblieben, fingen wir beide an, täglich, wie auf der Verpackung vorgeschlagen, jeweils eine Vitamintablette zu schlucken. Geht eine Packung zur Neige, bringt uns der Mann automatisch Nachschub.
Obwohl die gelieferten Konservengerichte jede Woche variieren, scheint doch alles gleich zu schmecken, und immer handelt es sich um eine nicht gerade appetitlich aussehende Pampe. Zu Hause haben wir immer nur frisches Brot vom Bäcker gegessen, das teilweise noch warm war, wenn wir es kauften. Jetzt essen wir abgepacktes Industriebrot, und egal, welche Sorte es ist, im Mund fühlt es sich an wie Pappe. Es gibt nur wenig Gemüse, das sich roh mit einem Plastikmesser bearbeiten lässt, und so besteht der Salat, den Inga zubereitet, aus Tomaten, Gurken und Blattsalat. Manchmal ist auch Paprika dabei. Beim Obst, das uns geliefert wird, handelt es sich meistens um abgezählte Äpfel und Bananen. Ein Stück Obst erhalten Inga und ich jeweils pro Tag. In der kälteren Jahreszeit bekommen wir manchmal auch Orangen. Inga ritzt dann die Schale mit der Bastelschere sternförmig ein, wie sie es schon im Kindergarten gelernt hat, und löst vorsichtig zwei gezackte Schalenhälften vom Fruchtfleisch.
Nach den ersten Wochen unserer Gefangenschaft hatte Inga das eintönige Essen bereits satt und schimpfte fortwährend darüber, während ich froh war, dass wir überhaupt etwas bekamen. Als dann eines Sonntags der Mann das Haus betrat, ging Inga schnurstracks auf ihn zu. „Sie können vielleicht nichts dafür, aber das Essen, das Sie uns bringen, ist eine Zumutung“, sagte sie dem Mann ins Gesicht. „Können Sie uns nicht einmal etwas Schönes mitbringen, zum Beispiel Schokolade? Am liebsten die mit dem Jungen auf der Verpackung.“
Der Mann ließ nicht erkennen, ob er Ingas Worte überhaupt verstanden hatte. Ohne eine Miene zu verziehen, prüfte er wie immer die leeren Konservendosen, die ich sodann in den Müllbeutel steckte, und gab uns unsere Lebensmittel. Als er gegangen war, fuhr ich Inga an: „Bist du verrückt geworden, dich über das Essen zu beschweren und Schokolade zu verlangen? Vielleicht hast du den Mann jetzt verärgert, und wir bekommen überhaupt nichts mehr! Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie abhängig wir von ihm sind?“
Wütend schrie Inga zurück: „Natürlich weiß ich das! Hältst du mich für blöd? Aber ich kann diesen Fraß einfach nicht mehr sehen!“ Ihr Mund verzog sich zu einem spitzbübischen Grinsen. „Aber wer weiß, vielleicht bringt er uns ja wirklich Schokolade.“
Ich sah davon ab, darauf etwas zu erwidern, um einen Streit zu vermeiden. Zu meiner Erleichterung erschien der Mann auch am nächsten Sonntag und brachte uns wie gewohnt unsere Lebensmittel. Der Karton enthielt tatsächlich eine Packung von Ingas Lieblingsschokolade. Von da an wagten Inga und ich ab und zu, dem Mann gegenüber kleine Wünsche zu äußern, die meistens erfüllt wurden. Meine Bitte um Rasierklingen wurde jedoch ignoriert.
Während die Pistole auf mich gerichtet ist, hebe ich den Karton auf und trage ihn in die Küche, wobei mir Inga und der Mann folgen. Dort packe ich den gesamten Inhalt aus. Anschließend gehe ich mit dem leeren Karton, Inga hinter mir, zurück in den Flur, die Pistole in unserem Rücken. Der Mann öffnet die Haustür und zieht den Müllbeutel sowie den Stoffsack nach draußen. Zuletzt nimmt er mir den leeren Karton ab. Dabei behält er Inga und mich die ganze Zeit im Blick. Ohne eine Geste des Abschieds geht auch der Mann schließlich nach draußen. Die schwere Tür fällt hinter ihm ins Schloss. Dann verriegelt er wieder sorgfältig die Schlösser und geht mit dem Müll- und Stoffbeutel sowie dem leeren Karton Richtung Pforte. Bevor er das Grundstück verlässt, macht er nach links und rechts eine verneigende Bewegung, als würde er die Zypressen verehren.
Auch heute ist Sonntag. Inzwischen ist es Anfang Oktober. Frühling und Sommer sind auch in diesem Jahr ungenutzt vergangen. Der Himmel, den wir aus dem Fenster sehen können, ist heute strahlend blau. Wie gern wäre ich jetzt draußen und würde die Oktobersonne im Gesicht spüren. Es ist kurz vor 12:00 Uhr. Gleich wird der Mann die Pforte öffnen. Inga geht es heute nicht gut. Ich habe es gleich gemerkt, als ich sie am Morgen geweckt habe. Es gibt Tage, an denen Inga nicht aufstehen will, weil, wie sie sagt, sowieso alles sinnlos sei. An diesen Tagen kann ich sie drängen, soviel ich will, sie bleibt im Bett. Manchmal steht sie dann erst am Nachmittag auf und leistet mir am Wohnzimmerfenster schweigend Gesellschaft, manchmal verlässt sie das Gästezimmer gar nicht. Ich klopfe an und frage durch die geschlossene Zimmertür, ob alles in Ordnung ist. Als Inga nicht antwortet, betrete ich das Zimmer. Inga steht vor dem Kunstdruck, der die idealisierte Bilderbuchlandschaft zeigt. Sie sieht mich nicht einmal an, als ich die Tür öffne. Schweigend gehe ich wieder hinaus. Es hat jetzt keinen Sinn, mit Inga zu reden. Ich gehe ins Wohnzimmer und sehe aus dem Fenster. Um Punkt 12:00 Uhr wird wie gewöhnlich die schwarze Pforte geöffnet, und der Mann betritt in seiner üblichen Kleidung, den Karton in den Händen, das Grundstück. Ich erwarte ihn bereits im Flur, als er das Haus betritt und den Karton hineinschiebt. Fragend sieht mich der Mann an.
„Meiner Schwester geht es nicht gut. Sie ist in ihrem Zimmer“, sage ich.
Das scheint ihm als Erklärung zu genügen. Der Mann begutachtet die leeren Konservendosen, die ich anschließend in den Müllbeutel werfe. Natürlich ist dabei die Pistole auf mich gerichtet. Ich greife wie jeden Sonntag den bis oben hin gefüllten Karton, um ihn in die Küche zu tragen. Ganz oben im Karton, auf der sauberen Wäsche, liegt heute eine Packung von Ingas Lieblingsschokolade. Ich weiß nicht, wie es passiert, aber als ich den Karton schwungvoll anhebe, rutscht die Schokolade von der Kleidung und fällt auf den gefliesten Boden im Flur. Ich stelle den schweren Karton langsam wieder ab und bücke mich, um die Schokoladenpackung aufzuheben. Der Mann steht mit der Waffe hinter mir. Und auf einmal erkenne ich die einzigartige Chance, die sich jetzt bietet.
Blitzschnell fahre ich herum und ziehe mit aller Kraft am rechten Unterschenkel des Mannes. Er verliert das Gleichgewicht und schlägt mit einem dumpfen Geräusch mit dem Hinterkopf auf den Fliesen auf. Der Mann bleibt stumm. Er schreit weder vor Schmerzen noch vor Verblüffung. Seine Cordmütze hat er im Fall verloren, doch seine rechte Hand hält die Pistole nach wie vor fest umklammert, als er jetzt wie ein verwundeter Käfer auf dem Rücken liegt. Schwach bewegt der Mann seinen linken Arm und versucht aufzustehen. Ich habe keine Zeit nachzudenken, keine Zeit, Inga zu rufen. An dem Mann vorbei renne ich zur Haustür und reiße sie auf. Ich bin mir sicher, noch nie so eine schwere Tür geöffnet zu haben. Jeden Moment rechne ich damit, einen tödlichen Schuss in den Kopf oder in den Rücken zu bekommen. Doch anscheinend ist der Mann nicht schnell genug oder ernsthaft verletzt, denn nichts geschieht. Ich renne auf den Betonplatten zur schwarzen Pforte und spüre nichts von dem überraschend kalten Herbstwind, der mir entgegenschlägt. Ich habe das Gefühl, die Pforte aus den Angeln zu nehmen, als ich sie mit aller Kraft öffne. Dann bin ich tatsächlich frei und sehe zum ersten Mal die Welt hinter den Zypressen.