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2. Der letzte Tag in Freiheit
ОглавлениеEtwas mehr als eine Woche vor den Abiturprüfungen begann ich, nervös zu werden. Das war eigentlich nicht nötig, denn ich war immer gut in der Schule gewesen. Nicht so brillant wie Britta, für die schon eine Zwei eine Katastrophe war, aber weitaus besser als Inga, die die neunte Klasse sogar wiederholen musste. Dabei war Inga nicht dumm, nur ständig mit ihren Gedanken woanders. Es fiel ihr schwer, sich auf etwas zu konzentrieren. Immer wieder dachte sie sich die ungeheuerlichsten Geschichten aus und behauptete, sie seien wahr. Die Entführung durch Außerirdische war nur ein Beispiel für die blühende Fantasie meiner Schwester. Ihr aufbrausendes Temperament bereitete ihr in der Schule kontinuierlich Schwierigkeiten. Nicht wenige Mitschüler fürchteten Inga sogar, denn wenn sie sich wegen ihrer schlechten Schulleistungen kritisiert oder wegen ihrer unglaublichen Erzählungen ausgelacht fühlte, wurde sie aggressiv und schreckte auch vor körperlicher Gewalt nicht zurück. Mehr als einmal wurden meine Eltern von Ingas Lehrern und sogar dem Schulleiter um ein Gespräch gebeten.
„Lass doch bloß die Klopperei! Du bist doch kein Jung‘!“, schimpfte mein Vater, während meine Mutter vor Scham weinte und inständig hoffte, dass die Nachbarn nichts von Ingas Auseinandersetzungen in der Schule erfuhren.
„Nun sieh dir doch mal Terri an. Die ist so ruhig und lieb. Wieso kannst du denn nicht so sein?“, schluchzte meine Mutter verzweifelt und erntete dafür von Inga nur einen verächtlichen Blick.
Terri, eigentlich Theresa, Gruber, wohnte wie wir in Sandburg und ging seit der Grundschule in dieselbe Klasse wie Inga. Aus mir unerklärlichen Gründen versuchte Terri von Anfang an, sich mit Inga anzufreunden, und erhielt dafür von meiner Schwester mehr als einmal eine Abfuhr. Dennoch hielt Terri treu zu Inga und kam immer wieder zu uns nach Hause, um sie zu besuchen. Inga brachte Terri jedoch nicht das Mindeste an Respekt entgegen und verließ meistens erst gar nicht ihr Zimmer, um sie zu begrüßen. Terri stand dann wie ein begossener Pudel in unserem Flur und blickte traurig mit ihren großen braunen Augen zu Boden. Ich mochte Terri Gruber, und sie tat mir leid, aber das konnte und wollte ich ihr nicht zeigen. Als Terri mit fast sechzehn mit ihrer Mutter nach Österreich zog, traf mich das mehr, als ich mir eingestehen wollte, und ich bereute, ihr gegenüber so gleichgültig gewesen zu sein.
Wie ich hatte Inga im Sommer Geburtstag und war eine der Jüngsten in ihrer Klasse. In ihren ersten Schuljahren machten sich meine Eltern Vorwürfe, weil sie sie zu früh eingeschult hatten. Später machten sie sich Vorwürfe, weil sie wegen der Arbeit in ihrer Gärtnerei zu wenig Zeit für uns Kinder und insbesondere für Inga hatten.
Als feststand, dass Ingas Versetzung gefährdet war, schrie sie meine Eltern weinend an, sie hasse die Schule und werde nie mehr dorthin gehen. Sie beendete die neunte Klasse nur, weil sie meinen Eltern das Versprechen abgenommen hatte, nach den Sommerferien das Gymnasium wechseln zu dürfen. Von da an brauchte sie für den einfachen Schulweg fast eine Stunde. Doch sie beklagte sich nicht, und obwohl auch an der anderen Schule das Verhältnis zu ihren Mitschülern nicht immer friedlich war, stabilisierten sich zumindest ihre Schulnoten wieder.
Über den Grund, weshalb Ingas schulische Leistungen, als sie vierzehn war, so radikal absackten, dass sie nicht versetzt wurde, redeten wir in unserer Familie nur ein einziges Mal und dann nie wieder. Wir kehrten alles unter den Teppich und taten nach Ingas Schulwechsel so, als wäre nie etwas geschehen. Britta war damals schon für ihr Jurastudium nach Hamburg gezogen. Sie erfuhr erst später von dem, was Inga getan hatte, und wendete sich danach noch mehr von unserer Familie ab. Auch jetzt während unserer Gefangenschaft spreche ich Inga, obwohl wir mehr Zeit als genug haben, nie darauf an. Ich fürchte mich vor ihrer Reaktion, und ich möchte diese schreckliche Geschichte am liebsten für immer vergessen, obwohl ich weiß, dass das nie möglich sein wird.
Die Abiturprüfung in Mathematik würde ein Selbstläufer werden, da war ich mir ziemlich sicher. Ich hatte bisher nur wenig dafür gelernt. Anders sah es in Deutsch aus. Britta hatte mir während eines ihrer seltenen Besuche ans Herz gelegt, Deutsch bei Fräulein Hagert als Prüfungsfach zu wählen. Sie selbst war mit Fräulein Hagert wunderbar zurechtgekommen und hatte die Deutschprüfung als Jahrgangsbeste bestanden. Ich selbst hatte Fräulein Hagert zuvor nie als Lehrerin gehabt. Sie war eine dünne unattraktive Frau Ende vierzig, die ihre bereits teilweise ergrauten Haare stets als strengen Knoten in einem altmodischen Haarnetz trug und dazu Altfrauenkleider anzog.
Dass es ein Fehler gewesen war, Brittas Rat zu befolgen, bemerkte ich schnell, denn Fräulein Hagert bevorzugte eindeutig die Mädchen in unserer Klasse. Ein besonderes Vergnügen bereitete es ihr offensichtlich, die Jungen vor der gesamten Klasse bloßzustellen.
Auch auf mich hatte sie es anfangs abgesehen. Erst nachdem ich durchblicken ließ, dass ich Britta Kleins Bruder war, worauf Fräulein Hagert mit einem erstaunten „Kaum zu glauben“ reagierte, behandelte sie mich freundlicher.
Eines von Fräulein Hagerts Lieblingsopfern war Bernd Fliege, der sich selbst als meinen besten Freund bezeichnete und sämtliche Kurse wie ich belegt hatte. Bernd verließ sich stets darauf, dass er meine Hausaufgaben abschreiben und selbst während Klausuren von meinem Wissen profitieren konnte. Tatsächlich half ich ihm, denn er tat mir leid. Bernds Mutter hatte die Familie wegen eines anderen Mannes verlassen, als Bernd fünf Jahre alt war. Weder Bernd noch sein Vater hörten je wieder von ihr. Bernds Vater verlor daraufhin die Kontrolle über sein Leben. Er begann zu trinken und wurde schließlich von der Versicherung, bei der er tätig war, wegen Alkoholkonsums während der Arbeit entlassen. Von da an versuchte er, sich und seinen Sohn mit Gelegenheitsjobs über Wasser zu halten. Den größten Teil des Geldes gab er jedoch weiterhin für Alkohol aus und war meistens in der Kneipe statt bei der Arbeit zu finden.
Bernd freundete sich schon in der ersten Klasse mit mir an. Oft trug er ungewaschene Kleidung, aus der er schon herausgewachsen war, und seine rotblonden Haare schnitt ihm sein Vater offenbar selbst. Die meisten Kinder lachten ihn daher aus und wollten nichts mit ihm zu tun haben, doch mir war das egal. Bernd freute sich so sehr, einen Freund gefunden zu haben, dass er sehr anhänglich wurde und seine Freizeit am liebsten bei mir zu Hause verbrachte. Sein Vater vergaß gewöhnlich Bernds Geburtstag, und auch an Weihnachten ging Bernd meistens leer aus, weshalb er an meinem Geburtstag und am ersten Weihnachtstag schon früh morgens an unserer Haustür klingelte, um meine Geschenke zu bewundern.
Immer wieder mussten meine Eltern Bernd abends freundlich darauf hinweisen, dass es an der Zeit sei, nach Hause zu gehen. Sie duldeten ihn zwar bei uns, fanden aber, dass er einen schlechten Einfluss auf mich hatte. Tatsächlich zeigte Bernd nur wenig Interesse an der Schule und verbrachte nachmittags die meiste Zeit, in der ich meine Hausaufgaben machte, damit, mit meinen Spielsachen zu spielen oder in unserem Wohnzimmer fernzusehen, wenn Britta ihn nicht vertrieb. Als wir älter wurden, hörte er auf, nach dem Unterricht mit zu mir nach Hause zu kommen, doch ich wusste, dass er sich weiterhin kaum Schularbeiten widmete, noch sich großartig auf Klausuren vorbereitete. Stattdessen versuchte er eine Zeitlang, durch Zeitungsaustragen oder als Handlanger auf Baustellen sein Taschengeld aufzubessern, doch keine seiner Tätigkeiten war von langer Dauer. Früher oder später verlor Bernd seine Jobs wegen seiner Unzuverlässigkeit, da er nachmittags lieber zu Hause fernsah. Manchmal begleitete er seinen Vater auch in die Kneipe, wo dieser sich betrank. Und irgendwann stand Bernd dann erneut vor unserer Haustür. Wie selbstverständlich ließ ich ihn immer wieder meine Hausaufgaben abschreiben und half ihm in unbeobachteten Momenten sogar in Klausuren. Anfangs hatte das auch recht gut funktioniert. Bernd hatte es wider Erwarten sogar mit mir auf das Gymnasium geschafft, wo er sich mehr schlecht als recht von Klasse zu Klasse hangelte, doch je näher wir dem Abitur kamen, desto mehr drohte er zu scheitern. Dass Fräulein Hagert ihn nicht mochte, war noch ein eher geringeres Problem, doch das sah Bernd anders.
„Nein, Herr Fliege, so kommen wir nicht ins Gespräch“, tadelte Fräulein Hagert ihn in der zwölften Klasse wieder einmal streng, als dieser sich mit der Interpretation einer Textstelle eines deutschen Klassikers, in dem es um Ehebruch ging, schwertat. „Sie haben das Buch anscheinend überhaupt nicht gelesen. Zumindest haben Sie es nicht verstanden. Vielleicht war es auch ein Fehler, das Werk in dieser Klasse zu lesen. Zu viele Jungen. Jungen haben zu dieser Thematik überhaupt keinen Zugang.“
Mit diesen Worten war Bernd erlöst und die Streberin unseres Deutschkurses gab ihre Interpretation unter Fräulein Hagerts wohlwollendem wiederholtem Kopfnicken zum Besten.
„Toller Tipp, den Deutschkurs bei der Hagert zu belegen!“, schimpfte Bernd nicht zum ersten Mal nach der Deutschstunde. „Das ist alles deine Schuld! Wieso mussten wir auch auf den bescheuerten Ratschlag deiner Schwester hören?“
„Mir hat Britta den Tipp gegeben, Deutsch bei Fräulein Hagert zu wählen“, korrigierte ich Bernd freundlich. „Nicht uns.“
„Na toll! Ich bin jedenfalls geliefert! Die Alte lässt mich durchrasseln. Du selbst bist ja fein raus. Hast der Hagert schön unter die Nase gerieben, dass Britta deine Schwester ist!“
Nun wurde ich langsam ärgerlich. „Vielleicht wäre es auch hilfreich gewesen, wenn du den Roman gelesen hättest, Bernd. Das hast du doch nicht, oder?“
„Nee, nur die wichtigsten Passagen. Ich kann mit so einem Geschwafel nichts anfangen. Und dann das Thema: Ehebruch. Da muss ich gleich wieder an meine Mutter, diese Schlampe, denken und bekomme eine Mordswut. Auf die Abiprüfung freue ich mich jetzt schon. Eines steht fest: Wenn mich die Hagert durchfallen lässt, mache ich sie fertig! Das meine ich verdammt ernst.“
Das war wieder einmal eine von Bernds leeren Drohungen gewesen. Jetzt, gut eine Woche vor den Abiturklausuren, gingen mir seine Worte wieder durch den Kopf. Bernds Abitur war stark gefährdet. Ich wusste nicht, ob ihm der Ernst der Situation klar war. Er konnte sich keinen einzigen Patzer erlauben. Mir blieb nur zu hoffen, dass er nicht so dumm war zu glauben, während der Abiturprüfungen von mir abschreiben oder sonst irgendwie betrügen zu können. Mehrfach schon hatte ich Bernd vorgeschlagen, gemeinsam für die Prüfungen zu lernen, doch er hatte mich nur ausgelacht.
„Nee, Wolf, ich habe in meiner Freizeit Besseres zu tun, als für die Schule zu büffeln. Das mach du mal lieber. Ich verlasse mich auf dich.“
Ich verdrängte die Gedanken an Bernd und sein wahrscheinliches Nichtbestehen des Abiturs und konzentrierte mich stattdessen wieder auf die Wiederholung des Materials, das wir in Deutsch durchgenommen hatten. Auch meine bisherigen Deutschklausuren – keine brillant, aber auch keine völlig miserabel ausgefallen – sowie die schriftlichen Anmerkungen von Fräulein Hagert wollte ich mir noch einmal ansehen. Es war ein sonniger Freitag im April, eigentlich viel zu schön, um drin zu sitzen und zu lernen. Das Dachfenster meines Zimmers, von dem aus ich die Straße sehen konnte, hatte ich einen Spalt weit geöffnet. Ich hatte erst kurz mit meiner Lektüre begonnen, als ich durch das Knallen der Haustür aufgeschreckt wurde. Inga war nach Hause gekommen, und anscheinend hatte sie üble Laune. Mich beschlich ein ungutes Gefühl, und ich beschloss, zu ihr zu gehen und nach dem Rechten zu sehen.
„Ich habe diese Scheißschule so was von satt!“, schrie Inga statt einer Begrüßung. „Da gehe ich nie wieder hin! Heute war mein letzter Schultag! Da brauchst du gar nicht so zu gucken!“
„Nun red doch keinen Unsinn, Inga. Was ist denn passiert?“
„Was passiert ist? Lucille Adam ist heute in der Pause vor der Schule aufgetaucht. Auf dem Bürgersteig hat sie gestanden und auf den Schulhof gestarrt. Die will mich fertigmachen!“
„Und sie hätte allen Grund dazu“, dachte ich, schwieg aber, während Inga aufgeregt fortfuhr.
„Ich muss verschwinden! Ich werde noch heute meine Sachen packen und abhauen! Irgendwohin, wo mich niemand kennt! Lucille Adam wird mich nicht erwischen!“
Lucille Adam war die Witwe von Adrian Adam, der Sportlehrer an meiner Schule gewesen war. Inga hatte bei ihm Sportunterricht gehabt. Adrian Adam war der Grund, weshalb Inga nicht an unserer Schule bleiben wollte, und die Hauptperson in der Geschichte, über die in unserer Familie nicht mehr gesprochen wurde.
„Inga, beruhige dich doch. Was sollte Frau Adam dir denn tun? Die Sache ist doch längst erledigt. Wahrscheinlich hat das gar nichts zu bedeuten, dass Frau Adam vor dem Schulhof stand. Vielleicht kennt sie dort irgendjemanden.“
Auf einmal begann Inga zu kichern. „Du hättest ihr Gesicht sehen sollen, Wolf, oder vielmehr das, was davon übriggeblieben ist. Das habe ich wirklich gut hinbekommen.“
Für diese Worte hätte ich meine Schwester schlagen können. Doch ich behielt die Beherrschung und sagte so ruhig wie möglich: „Denk doch nur daran, was du Mama und Papa antust, wenn du jetzt so einfach verschwindest. Wo willst du denn auch hin? In ein paar Wochen hast du die Mittlere Reife. Dann kannst du dir immer noch überlegen, ob du von der Schule abgehst. Bitte, Inga, überstürze jetzt nichts und denk noch einmal in Ruhe darüber nach.“
„Mein Entschluss steht fest, Wolf, und wenn du dich auf den Kopf stellst. Heute Abend gehe ich zum letzten Mal ins Maximo, um Abschied zu nehmen. Außerdem findet dort heute eine Party für meine Lieblingsband statt. Die will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Kommst du mit?“
Das Maximo war die einzige Disco in der Region. Ich besuchte sie nur selten. Sie war mir zu laut, zu verqualmt, zu schäbig. Minderjährige unter sechzehn hatten dort keinen Zutritt. Jugendliche ab sechzehn durften die Diskothek nur in Begleitung eines Erwachsenen betreten und mussten sie bis Mitternacht verlassen. Die Türsteher waren sehr streng und führten sich wie Sheriffs auf. Auch im Inneren der Disco wurden die Ausweise von auffälligen Besuchern kontrolliert, aggressive Gäste nach Hause geschickt und mit einem dauerhaften Eintrittsverbot bestraft. Grund dafür war eine Schlägerei im Maximo vor einigen Jahren in den frühen Morgenstunden, bei der ein Fünfzehnjähriger so stark verletzt wurde, dass er schließlich starb. Der Besitzer des Maximo wurde zu einer hohen Geldstrafe verurteilt, aber es gelang ihm, den Ruf der Diskothek zu retten und sie zu einem Treffpunkt fast der gesamten Jugend aus der Region an den Wochenenden zu machen.
Inga war ein Riesenfan einer schwedischen Pop-Gruppe und hoffte inständig, dass die vier Musiker, die im Jahr zuvor zum letzten Mal gemeinsam aufgetreten waren, wieder zusammenfinden würden. Meine Schwester war auf mich angewiesen, wenn sie heute in die Disco wollte. Ich würde die Gelegenheit nutzen, ihr ihren unsinnigen Fluchtplan auszureden, und tat ihr daher den Gefallen, sie zu begleiten. „Gut, Inga, ich komme mit dir. Aber nur, wenn du noch einmal über deinen Schulabbruch nachdenkst.“
Ich war mir nicht sicher, ob meine Schwester mich anlog, als sie antwortete: „In Ordnung. Danke, Wolf. Meinst du, du bekommst heute Abend das Auto?“
Das bezweifelte ich. Obwohl ich seit einigen Monaten den Führerschein besaß, für den ich lange gespart hatte, war ich seitdem so gut wie nicht gefahren. Mein Vater gab mir stets ausweichende Antworten, wenn ich ihn nach dem Wagen fragte, was mich sehr kränkte.
„Ich denke nicht. Lass uns lieber heute Abend den Bus nehmen.“
Hätte ich doch nur meinen Vater noch einmal direkt auf das Auto angesprochen! Vielleicht hätte er an diesem Abend eine Ausnahme gemacht. Dann wären Inga und ich heute nicht in Gefangenschaft. Das werde ich mir wohl immer vorwerfen.
Ich ging wieder nach oben in mein Zimmer und Inga in die Küche, um sich etwas zu essen zu machen. Erst dachte ich noch über Argumente nach, wie ich Inga dazu bewegen konnte, zumindest noch dieses Schuljahr zu beenden, doch dann beschloss ich, die Überlegungen auf den Abend zu verschieben, und widmete mich wieder meinen Deutschunterlagen. Nach etwa einer halben Stunde riss mich ein Geräusch von der Straße aus meiner Konzentration. Ich erhob mich von meinem Schreibtischstuhl und sah aus dem Dachfenster über meinem Schreibtisch. Bernd fuhr mit seinem Fahrrad enge Kreise auf der Straße und pfiff dazu die Anfangsmelodie einer Fernsehserie, so als wollte er mir seine Unbeschwertheit vor den anstehenden Abiturprüfungen demonstrieren. Dabei sah er immer wieder herausfordernd zu mir hinauf. Ich setzte mich wieder und versuchte, Bernds Gepfeife zu ignorieren, doch es störte mich beim Lesen. Genervt stand ich erneut auf, um das Fenster zu schließen. In dem Moment kam Inga aus dem Haus geschossen, einen Eierkarton in der linken Hand. Wie eine Furie stürzte sie sich auf Bernd, den sie wohl vom Küchenfenster aus gesehen hatte, und stieß ihn mit der rechten Hand von seinem Rad. Dann begann sie, Eier auf ihn zu werfen. Die meisten verfehlten ihn jedoch und zerplatzen auf der Straße. Dabei schrie sie: „Hau ab und lass Wolf in Ruhe lernen, du Idiot! Du bist genauso ein Loser wie dein versoffener Vater! Und genauso ein Penner wie er wirst du auch werden! Nie und nimmer schafft so ein Depp wie du das Abi!“
Bernd, der von dem Angriff überrascht war, versuchte, sich vor den Eiern zu schützen. Als Inga ihre Munition verschossen hatte, stand er auf und griff nach dem Fahrradlenker. Ich sah, dass er humpelte.
„Pass bloß auf, du Schlampe!“, brüllte er Inga an. „Dich mach ich genauso fertig wie die Hagert! Erst ist die Hagert dran und dann du!“ Dann sah Bernd hinauf zu mir. Sein Gesicht war wutverzerrt. „Wolf, sag deiner bekloppten Schwester, dass sie mich in Ruhe lassen soll, wenn ihr ihr Leben lieb ist! Die Schlampe wird leiden, das schwöre ich dir!“
„Bernd, das geht jetzt aber zu weit! Du verschwindest jetzt besser. Und du kommst bitte rein, Inga!“
„Du hast mir überhaupt nichts zu sagen, du Verräter!“, begann Bernd nun, mich zu beschimpfen. „Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Ich dachte, wir wären Freunde! Aber auf so einen Freund kann ich echt verzichten! Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du zu deiner Schlampenschwester hältst! Außerdem schuldest du mir noch ‘ne Menge Geld! Ich sage nur: fünftausend Mark! Schon vergessen? Wie lange willst du mich noch verarschen? Verrecken sollt ihr beide!“
„Der wird sich schon wieder beruhigen“, hoffte ich und erwiderte nichts, um Bernds Stimmung nicht noch mehr aufzuheizen. Was das Geld anging, hatte Bernd Recht. Ich hatte ihn lange genug mit Ausreden abgespeist und musste mir dringend eine Lösung überlegen, bevor Bernd noch völlig ausflippte.
Meine Schwester drehte sich mit dem leeren Eierkarton in der Hand auf dem Absatz von Bernd weg und marschierte auf das Haus zu, ein selbstzufriedenes Grinsen auf dem Gesicht. Anschließend kam sie in mein Zimmer.
„Was sollte das denn, Inga?“, fragte ich vorwurfsvoll.
„Was das sollte? Das habe ich dir zum Gefallen getan, Wolf. Irgendjemand musste dem Blödmann ja mal die Meinung sagen! Das war so was von überfällig! Wie doof der geguckt hat! Und dann sein Gelaber von den fünftausend Mark! Daran sieht man doch, dass der nicht alle Tassen im Schrank hat!“ Inga kicherte. Dann schloss sie die Tür und ging wieder nach unten. Und ich spielte tatsächlich mit dem Gedanken, mich nachher bei Bernd für den Auftritt meiner Schwester zu entschuldigen, bevor ich in meinem Deutschtext weiterlas.
Als wir mit unseren Eltern später am Abendbrottisch saßen, fragte meine Mutter: „Was ist das da draußen eigentlich für ein Schweinkram auf der Straße? Hat da jemand mit Eiern geworfen?“
Inga machte ein unschuldiges Gesicht. „Wolf und ich gehen heute zusammen ins Maximo“, sagte sie, um abzulenken. „Da steigt nämlich eine Party mit den Songs meiner Lieblingsband.“
„Ihr könntet doch Terri mitnehmen“, schlug meine Mutter vor und begann, Gurkenscheiben auf ihr Käsebrot zu legen. „Die Deern ist für ein paar Tage zu Besuch in Sandburg. Ihre Mudder will sich nun endgültig von Terris Stiefvadder scheiden lassen. Terri würde euch heute Abend bestimmt gern begleiten.“
„Auf gar keinen Fall kommt Terri Gruber mit!“, protestierte Inga. „Das ist meine Lieblingsband! Terri Gruber hat von Musik überhaupt keine Ahnung. Die wäre im Maximo total fehl am Platz. Oder Wolf?“
Ich fragte mich, wie Inga Terri Grubers Musikalität beurteilen wollte, da sie ständig den Kontakt zu ihr gemieden hatte, als Terri noch in Sandburg wohnte. Auch wenn ich es nicht zugeben wollte, hätte ich mich gefreut, Terri wiederzusehen und sie als ruhigen Ausgleich zu Inga dabeizuhaben, und fehl am Platz fühlte ich mich selbst auch im Maximo. Doch um keinen Streit zu provozieren, zuckte ich nur gleichgültig mit den Schultern.
„Kommt bloß nicht so spät nach Hause“, brummte mein Vater, während er sich eine Brotscheibe dick mit Leberwurst bestrich. Das Auto erwähnte er mit keinem Wort.
„Inga darf ja eigentlich sowieso nur bis Mitternacht im Maximo bleiben“, antwortete ich, „und der einzige Nachtbus geht um kurz vor 1:00 Uhr. Leider braucht der aber ziemlich lange. Dann sind wir so gegen 2:30 Uhr zu Hause.“ Ich hoffte, mein Vater würde die Anspielung verstehen.
„Na, das langt ja wohl auch“, meinte er jedoch nur und biss in sein Brot.
Um kurz vor 20:30 Uhr machten Inga und ich uns auf den Weg zur Bushaltestelle. Der Bus war pünktlich und fuhr einen Umweg über diverse Ortschaften, bis wir schließlich gegen 22:00 Uhr das Maximo erreichten. Wie immer erfolgte am Eingang eine strenge Ausweiskontrolle. Einige abgewiesene Besucher diskutierten bereits heftig mit einem der Türsteher. Inga und ich erhielten jedoch ohne Probleme als Eintrittskarte einen Stempel mit dem Logo des Maximo und dem aktuellen Datum auf unseren Handrücken. Nachdem wir unsere Jacken an der Garderobe abgegeben hatten, stürzte Inga sich sofort auf die bereits gut besuchte und mit künstlichem Nebel besprühte Tanzfläche und begann, sich ausgelassen zur Musik ihrer schwedischen Lieblinge zu bewegen. Ich sah mich um auf der Suche nach bekannten Gesichtern und entdeckte schließlich einige Leute aus meinem Jahrgang. An einer Theke holte ich mir eine Cola und gesellte mich zu meinen Mitschülern. Die Musik war so laut, dass wir uns anschreien mussten. Hauptthema waren natürlich die anstehenden Abiturprüfungen, wie ich verärgert feststellte. Wäre ich doch nur zu Hause geblieben! Aber schließlich war ich ja auch nur Inga zuliebe überhaupt hierhergekommen. Plötzlich sah ich Bernd allein auf einem Hocker an der Theke sitzen. Er hatte einen glasigen Blick. Anscheinend hatte er schon einiges an Alkohol getrunken. Vor ihm stand ein halbvolles Bier- sowie ein leeres Schnapsglas. Als er mich sah, wandte er sich demonstrativ zur anderen Seite.
„Dann eben nicht“, dachte ich und ging zurück zu meinen anderen Mitschülern. Doch ich hörte nicht mehr zu, was sie sich wegen der Prüfungen zuriefen, sondern beobachtete die Leute auf der Tanzfläche. Inga war mit einem anderen Mädchen aneinandergeraten, das ihr ihrer Ansicht nach wohl zu nahe gekommen war. Sie hatte dem Mädchen in das lange Haar gegriffen und drückte seinen Kopf nach unten. Schnell stellte ich mein Glas ab und lief auf die Tanzfläche. Einige beobachteten bereits interessiert den Streit, andere tanzten einfach weiter. Glücklicherweise hatte noch niemand vom Sicherheitspersonal das Handgemenge bemerkt. Grob griff ich Inga am Oberarm.
„Hör sofort auf damit, Inga! Lass sie los!“
Tatsächlich ließ Inga von dem anderen Mädchen ab, das weinte, wie ich sah, als es den Kopf hob.
„Die blöde Kuh denkt, ihr gehört die Tanzfläche! Aber nicht mit mir! Das ist meine Lieblingsband!“, rief Inga aufgebracht.
„Hör auf, dich zu streiten, Inga!“, schrie ich meine Schwester an, um die Musik zu übertönen. „Oder willst du hier rausfliegen? Du weißt doch, wie streng die hier kontrollieren!“
„Ist schon gut!“, schrie Inga zurück. „Der dämlichen Ziege habe ich es jetzt ja gezeigt!“
„Um 0:40 Uhr treffen wir uns am Ausgang, okay? Dann haben wir genug Zeit, um zur Bushaltestelle zu gehen! Wenn du dich unauffällig verhältst, lassen dich die Sicherheitsleute auch nach Mitternacht in Ruhe.“
Inga nickte und begann weiterzutanzen. Ich holte mir eine neue Cola und beobachtete längere Zeit das Geschehen von der Getränketheke auf einem Barhocker sitzend aus. Als ich fast ausgetrunken hatte, bemerkte ich plötzlich, dass der inzwischen total betrunkene Bernd mit dem Kopf auf einem Nachbartresen lag, ohne dass sich jemand daran störte. Ich wollte ihm helfen, doch als ich durch die Menschenmenge zu ihm gelangt war, wurde ich von zwei Sicherheitsmännern barsch angewiesen, mich nicht einzumischen. Sie packten Bernd unter den Armen und schleiften ihn Richtung Ausgang.
Betroffen ging ich anschließend noch ein wenig umher und unterhielt mich schreiend mit einigen Bekannten. Wie sehr wünschte ich, dass dieser Abend schnell endete!
Schon um kurz nach 0:30 Uhr bewegte ich mich Richtung Ausgang, um meine Jacke zu holen und auf Inga zu warten. Immer wieder sah ich ungeduldig auf die Uhr, doch meine Schwester tauchte nicht auf. War sie vielleicht doch schon nach draußen verwiesen worden, weil sie noch minderjährig war? Aber nein, ich war sicher, Ingas Jacke noch an der Garderobe gesehen zu haben. Als Inga um 0:45 Uhr noch nicht da war, entschloss ich mich, wieder Richtung Tanzfläche zurückzugehen, um nach ihr zu suchen. Hektisch sah ich mich um, doch der verdammte Disconebel machte die meisten Tänzer unkenntlich. Plötzlich legte sich eine Hand auf meine Schulter. Erschrocken drehte ich mich um. Inga stand hinter mir, ihre Jacke über dem Arm.
„Wo zum Teufel warst du?“, schrie ich sie über die Musik hinweg an.
„Auf der Toilette, und dann habe ich meine Jacke geholt. Ich glaube, jetzt müssen wir uns beeilen.“
Am Ausgang war zunächst wegen eines Handgemenges zwischen Sicherheitsleuten und einigen aufgebrachten Gästen kein Durchkommen. Inga und ich nutzten die Zeit und zogen uns unsere Jacken an. Dann sah ich unruhig auf die Uhr. Es war schon fast 0:55 Uhr. Endlich verlagerte sich der Streit nach draußen, und Inga und ich liefen hinaus. Ich packte Inga an der Hand und rannte los. Ich war ein guter Läufer. In der Schule war Sport eines meiner Lieblingsfächer, und auch in meiner Freizeit ging ich gern joggen. Inga hingegen hasste Sport – nur in der Zeit, als Adrian Adam sie unterrichtet hatte, hatte sie sich dafür begeistert - und hatte überhaupt keine Kondition. So war es auch kein Wunder, dass sie schon nach kurzer Zeit außer Atem war.
„Wolf, ich kann nicht mehr!“, keuchte sie. „Lass uns stehen bleiben!“
„Doch, du kannst!“, sagte ich unerbittlich. „Ich habe keine Lust, wegen dir den Bus zu verpassen.“
Wir ließen das große Grundstück der Disco hinter uns und liefen die Straße entlang Richtung Bushaltestelle. Wir waren vielleicht noch zweihundert Meter davon entfernt, als der Bus an uns vorbeifuhr. Er hielt an der Haltestelle, um einige Discobesucher einsteigen zu lassen. Ich zog die keuchende Inga hinter mir her und winkte mit der freien Hand. Der Busfahrer musste uns gesehen haben. Fast konnte ich den Bus berühren, als der Busfahrer den Blinker setzte und der Bus die Haltestelle verließ. Ich fluchte. Inga stand gebeugt, stützte die Hände auf die Knie und schnaufte. „Oh, ist mir schlecht! Ich glaube, ich muss mich übergeben.“
Ich hatte Kopfschmerzen von der verrauchten Discoluft, und mir summten die Ohren von der lauten Musik. „Hör bloß auf zu jammern!“, antwortete ich gereizt. „Das ist alles deine Schuld! Wieso warst du nicht rechtzeitig am Ausgang? Wie sollen wir jetzt nach Hause kommen? Wir werden uns ein Taxi nehmen müssen. Mama und Papa müssen morgen wieder früh aufstehen. Die können wir jetzt unmöglich anrufen.“
„Und wie willst du ein Taxi rufen?“ Inga schnappte noch immer nach Luft. „Etwa von dieser demolierten Telefonzelle am Maximo, wo die ganzen Schläger herumhängen?“
Ich konnte Ingas Bedenken nachvollziehen. Am Rand des Parkplatzes der Diskothek stand zwischen Bäumen eine Telefonzelle. Sie war die einzige Möglichkeit, vom Maximo aus zu telefonieren, und wurde regelmäßig von gewalttätigen Besuchern beschädigt. Auch kam es an diesem abgelegenen Ort häufig zu Schlägereien.
„Hast du denn eine bessere Idee?“, fragte ich meine Schwester.
„Ja. Wir gehen zurück ins Maximo, und du fragst deine Freunde, ob uns jemand nach Hause fahren kann.“
Für Inga war es selbstverständlich, dass ich unsere Heimfahrt organisierte, denn sie hatte es sich wegen ihrer ungehaltenen Art mit den meisten Leuten in unserem Alter verdorben. Was blieb mir anderes übrig, als einzuwilligen? Denn schließlich wollte ich nicht zu Fuß nach Hause gehen. Also marschierten wir zurück und wurden am Eingang prompt vom Türsteher abgewiesen.
„Hier kommt jetzt keiner mehr rein“, sagte er streng und versperrte uns breitbeinig mit über der Brust verschränkten Armen den Weg.
„Aber wir haben bezahlt“, versuchte ich zu erklären und zeigte ihm den Stempel auf meinem Handrücken.
„Das ist egal. Wer das Maximo nach Mitternacht verlässt, kommt nicht mehr rein. So lautet die Anordnung vom Chef. Draußen heizt sich die Stimmung auf, und dann geht‘s wieder rein zum Remmidemmimachen. Die Zeiten sind vorbei.“
Diese Regelung war mir neu, aber ich war auch schon lange nicht mehr im Maximo gewesen. Auch konnte ich mir vorstellen, dass dem Betreiber der Diskothek dadurch ein nicht unerheblicher Umsatz entging, aber wer wusste, was dort schon wieder vorgefallen war.
„Wir müssen nur kurz rein und unsere Fahrt nach Hause organisieren“, versuchte ich es erneut. „Bitte, geben Sie uns zehn Minuten.“
„Nein. Strikte Anordnung vom Chef, an die ich mich in jedem Fall halten muss. Hab keine Lust, wegen euch wieder beim Arbeitsamt rumzusitzen. Tut mir leid für dich und deine Freundin.“ Der Türsteher sah Inga eindringlich an. „Und du bist doch noch nicht einmal volljährig, oder? Dann hast du hier drin nach Mitternacht sowieso nichts mehr verloren.“
„Ich bin nicht seine Freundin, du Affe!“, schrie Inga den Türsteher wütend an. Ich zog sie weg, bevor die Situation eskalierte.
Auf meinen Vorschlag hin riskierten Inga und ich noch einen Umweg zur Telefonzelle, doch sahen wir beim Näherkommen, dass dort eine größere Schlägerei im Gange war, und zogen rasch weiter Richtung Straße. Wir würden tatsächlich laufen müssen, und der Heimweg würde vermutlich Stunden dauern, wenn wir nicht Glück hatten und unterwegs von bekannten Discobesuchern mit dem Wagen mitgenommen wurden. Vielleicht gab es auf dem Nachhauseweg ja auch noch eine weitere Telefonzelle, versuchte ich mir Mut zu machen, während wir uns missmutig auf den Weg machten. Inga ging neben mir am Rand der Bundesstraße, da der Bürgersteig an der Bushaltestelle endete und sie es hinderlich fand, wie ich im hohen Gras neben der Straße zu gehen. Mir war nicht wohl dabei, und ich hoffte, dass sie kein Auto anfahren würde. Zum Glück war die Straße zu dieser Zeit so gut wie nicht befahren. Während wir gingen, beklagte sich Inga, dass ihr vom Lauf zur Bushaltestelle immer noch übel sei, und schlug vor, per Anhalter zu fahren. Doch das lehnte ich strikt ab. Wir stritten ein wenig darüber, und ich machte ihr Vorwürfe, dass sie nicht zur vereinbarten Zeit am Discoausgang gewesen war, worauf Inga wütend entgegnete, dass das alles nicht passiert wäre, wenn ich mich einmal getraut hätte, den Mund aufzumachen und auf das Auto unserer Eltern zu bestehen.
Wegen unseres Streits hatten wir das schwarze Auto nicht kommen hören, das plötzlich ein Stück vor uns am Straßenrand hielt. Es war ein teurer Wagen, und seine Scheinwerfer waren seltsamerweise ausgeschaltet. Ohne zu überlegen, ging ich an Inga vorbei zur Beifahrertür und öffnete sie energisch. „Sind Sie verrückt geworden, mitten in der Nacht ohne Licht zu fahren?“, fuhr ich aufgebracht den älteren Herrn an, der am Steuer saß. Er mochte ungefähr siebzig sein, hatte dichtes graues Haar und strahlend blaue Augen. Trotz des Frühlings trug er einen dunkelgrauen Wintermantel, der sicher auch viel Geld gekostet hatte. Die Beleuchtung im Wageninneren hüllte den Mann in ein warmes Licht. Inga war mir gefolgt und stand nun dicht neben mir.
„Es tut mir leid, wenn ich euch erschreckt habe, Kinder, aber die Scheinwerfer sind leider defekt“, sagte der Mann mit sanfter Stimme. „Doch das ist nicht schlimm, denn es ist eine wundervolle sternenklare Nacht und fast Vollmond. Ich habe euch schon von Weitem gesehen. Hänsel und Gretel, ganz allein unterwegs. Wollt ihr mir nicht Gesellschaft leisten? Ich könnte euch ein Stück mitnehmen.“
„Nein, danke“, sagte Inga hastig, bevor ich den Mund öffnen konnte. „Wir laufen lieber.“ Sie war im Begriff weiterzugehen, als der Mann traurig seufzte: „Schade. Dann werde ich meine Fahrt wohl allein fortsetzen müssen. Ich hätte mich wirklich gern mit euch unterhalten, Kinder. In meinem Alter hat man nicht oft Gelegenheit, mit jungen Menschen zu sprechen, und seit meine liebe Frau nicht mehr lebt, bin ich häufig einsam.“
Obwohl es mir grundsätzlich Unbehagen bereitete, mit einem Fremden mitzufahren – noch dazu nachts und ohne Licht – tat mir der alte Herr leid. Daher sagte ich spontan und laut, damit auch Inga, die schon ein Stück vorausgegangen war, es hören konnte: „Wir nehmen Ihr Angebot gern an.“ Auffordernd sah ich meine Schwester an, die sich zu mir umgedreht hatte und mich ungläubig anblickte.
„Schön, dann steigt ein, Kinder“, sagte der Mann freundlich, doch als ich mich auf dem Beifahrersitz niederlassen wollte, wurde er auf einmal streng. „Dieser Platz bleibt frei. Setzt euch beide nach hinten.“
Ich schloss die Beifahrertür und öffnete die rechte Hintertür des Wagens. Inga war zurückgekommen und stand hinter mir.
„Aber ...“, sagte sie unsicher.
„Komm, steig ein und rutsch durch“, unterbrach ich sie schnell aufmunternd. Heute denke ich, dass ich auch mir selbst keine Gelegenheit geben wollte, es mir anders zu überlegen. Widerwillig folgte Inga meiner Aufforderung. Ich stieg nach ihr ein und schloss die Tür. Leise setzte sich der Wagen in Bewegung. Im Inneren war es auffallend warm, als wäre die Heizung an, und es roch stark nach den dunklen Ledersitzbezügen. Offenbar war der Wagen noch sehr neu.
„Seltsam, dass dann schon beide Scheinwerfer defekt sind“, schoss es mir kurz durch den Kopf. Ein leises Rauschen war zu hören. Ich vermutete, dass das Radio eingeschaltet war und kein Sender empfangen wurde. Den Fahrer schien das nicht zu stören. Entgegen seiner Ankündigung, sich mit uns unterhalten zu wollen, sagte er minutenlang kein einziges Wort. Schließlich brach ich das unangenehme Schweigen. „Wir wohnen in Sandburg, wenn Ihnen der Ort etwas sagt. Natürlich steigen wir auch woanders aus, falls Sie da nicht durchfahren.“
Der Mann gab keine Antwort.
„Komischer Kauz“, dachte ich. Ich sah die Schatten von Büschen und Bäumen am Fenster vorbeifliegen. Wir fuhren viel zu schnell. Die Sicht war trotz des wolkenlosen Himmels alles andere als gut. Zweimal hupten uns entgegenkommende Wagen warnend an. Ich erwog, den alten Herrn aufzufordern, langsamer zu fahren, ließ es dann aber. Stattdessen dachte ich daran, wie froh ich sein würde, wenn diese Fahrt zu Ende war und ich in meinem Bett lag. Beim Aussteigen würde ich auf das Autokennzeichen achten und morgen der Polizei einen Hinweis geben. Der Mann gefährdete ja leichtsinnig sich und andere. Dann überlegte ich, was ich am Wochenende für die Abiturprüfungen lernen wollte, doch es fiel mir schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Wärme im Auto und das kontinuierliche Rauschen machten mich benommen. Schließlich schloss ich die Augen. Fast war ich eingenickt, als Inga plötzlich nah an mich heranrückte und mich an der linken Schulter packte. Widerwillig öffnete ich die Augen. Da wisperte mir Inga so leise ins Ohr, dass ich ihre Worte kaum verstand: „Wir sitzen in der Falle, Wolf. Das ist kein echter Mensch. Merkst du das denn nicht?“
Gerade wollte ich etwas darauf antworten, als der Fahrer mit eisiger Stimme sagte: „Das habe ich gehört, Inga-Gretel“.
Ich war wie vom Donner gerührt, und auch Inga verharrte erschrocken neben mir. Woher um Himmels willen kannte der Mann ihren Namen? Das Rauschen wurde lauter, und die Temperatur im Wagen schien plötzlich noch weiter zu steigen. Ich wurde panisch und wollte bei voller Fahrt die rechte Hintertür öffnen, um mich mit Inga hinauszustürzen, doch es war, als hätten mich sämtliche Kräfte verlassen. Ich konnte nicht einmal meinen Arm heben. Mir schwanden die Sinne, und alles wurde schwarz. Inga sagte mir später, dass es ihr genauso ergangen sei.
Als meine Schwester und ich etwa zur gleichen Zeit wieder zu uns kamen, war es Tag, und wir saßen nebeneinander auf dem dunkelbraunen Wohnzimmersofa in dem Haus, das auf unabsehbare Zeit unser Gefängnis werden sollte. Man hatte uns unsere Geldbörsen und Ausweise weggenommen. Unsere Handrücken zierten noch immer die Eintrittsstempel des Maximo.