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2. Verschobene Synapsen

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Ich bin in einer kleinen Stadt in Norddeutschland mit dem Namen Sandburg aufgewachsen. Ein furchtbares Kaff, das ich, sobald es möglich war, verließ und später nur noch besuchte, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Meine Eltern arbeiteten in einer Gärtnerei am Stadtrand, die den Eltern meines Vaters gehörte. Die Gärtnerei war schon damals sein ganzer Stolz, wenn sie auch kaum Gewinn abwarf. Solange ich zurückdenken kann, arbeiteten meine Eltern sechs Tage die Woche von morgens bis abends, und doch reichte das, was sie verdienten, gerade aus, um über die Runden zu kommen. Meine Großeltern zogen sich immer mehr aus dem Geschäft zurück und wollten die Gärtnerei in einigen Jahren ihrem einzigen Sohn übergeben. Mein Vater hatte schon große Pläne, was er aus der Gärtnerei alles machen wollte, wenn sie ihm erst gehörte. Das Gewächshaus wollte er durch zwei riesige neue ersetzen und auf der Wiese, die zwischen der Gärtnerei und einem Wald lag, eine Baumschule errichten. Für die Verwirklichung seiner Vision scheute mein Vater auch nicht davor zurück, notfalls hohe Kredite aufzunehmen. Sicher konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehen, was es heißt, für den Rest des Lebens größtenteils für die Rückzahlung von Darlehen zu arbeiten.

Ich wusste damals noch nicht, was eine Baumschule war, und fragte mich, weshalb Bäume zur Schule gehen sollten. Vor einigen Tagen war ich sechs Jahre alt geworden und würde im Sommer eingeschult werden. Doch bis dahin waren es noch einige Monate, denn Weihnachten war gerade erst vorüber. Ich fand es sehr ungerecht, dass mein Geburtstag und Weihnachten so dicht zusammenlagen, und war davon überzeugt, dass ich anderenfalls mehr Geschenke bekommen würde. Jetzt teilten meine Eltern meine eigentlichen Weihnachtsgeschenke doch auf zwei Anlässe auf. Außerdem hatte ich in diesem Jahr nicht das bekommen, was ich mir schon seit Wochen so sehr gewünscht hatte: ein Lexikon, bestehend aus vierundzwanzig edlen Lederbänden. Es kostete mehrere Hundert Mark. Ich hatte die schönen Bücher in einem der Kataloge gesehen, aus denen meine Mutter manchmal etwas bestellte, und sie hatte mir umständlich erklärt, was ein Lexikon war. Von da an war ich überzeugt davon, dass dies das einzige ideale Geschenk für mich war. Wenn ich dieses Lexikon durchgelesen hatte, würde ich alles wissen. Das war mir sehr wichtig, denn ich glaubte schon damals, dass meine Eltern nur deshalb immer so viel über Geld sprachen, weil sie nicht wussten, wie man reich wird.

„So‘n Tüdelkram. Du spinnst wohl, Bridda“, hatte mein Vater gebrummt, als ich das Lexikon als Wunsch geäußert hatte. „Das kostet ein Vermögen. Und du kannst noch nicht einmal lesen.“

Um meinen Eltern entgegenzukommen, hatte ich sogar vorgeschlagen, dass dies mein Geburtstags- und Weihnachtsgeschenk zugleich sein könnte, und war von der Reaktion meines Vaters mehr als enttäuscht. „Aber ich komme doch bald zur Schule, und dann kann ich lesen“, argumentierte ich. „Bitte schenkt mir das Lexikon! Ich muss doch alles wissen!“

„Das Lexikon kannst du dir zur Konfirmation wünschen“, lenkte meine Mutter ein. „Jetzt bist du dafür noch viel zu jung. Außerdem ist es sehr teuer.“

„Euch ist es nur zu teuer, weil ihr nicht klug genug seid, um viel Geld zu verdienen!“, schrie ich verärgert.

„Pass bloß auf, Bridda!“, schimpfte nun mein Vater. „Gleich setzt es was!“

Damit war das Thema für meine Eltern erledigt, und ich hatte zum Geburtstag ein dämliches Brettspiel und zu Weihnachten eine Puppe samt Wagen bekommen. Ich hasste meine Geschenke, und ich war wütend auf meine Eltern, weil sie mir meinen großen Wunsch nicht erfüllt hatten. Dabei war ich doch ihr einziges Kind! Mein Bruder Wolf sollte erst im darauffolgenden Sommer zur Welt kommen und meine Schwester Inga zwei Jahre später.

Meine Eltern verbrachten die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr wie gewöhnlich von morgens bis abends in der Gärtnerei, und ich leistete ihnen wie immer Gesellschaft. Zurzeit waren Topfblumen und Gestecke mit einem Schornsteinfeger oder einem Kleeblatt als Glücksbringer für das neue Jahr 1964 gefragt, und meine Eltern hatten reichlich mit dem Bedienen der Kundschaft zu tun. Daher ließen sie mich wie gewohnt unbeaufsichtigt. Normalerweise machte es mir Spaß, auf dem großen Gelände herumzutollen, doch ohne das Lexikon war mir alles verdorben. Lustlos marschierte ich über den Hof. Es war ein eisiger, trüber Tag, aber leider gab es keinen Schnee. Mein Blick fiel auf den großen Holzschuppen, der als Lager diente. Eigentlich war es meinen Eltern egal, wo ich mich herumtrieb, nur das Gelände durfte ich nicht verlassen und auf keinen Fall den Schuppen betreten.

„Es ist gefährlich, zwischen der Ware herumzuturnen“, hatte mich mein Vater schon mehrfach gewarnt. „Es könnte etwas auf dich drauffallen oder du könntest irgendwo herunterfallen und dir das Genick brechen. Sollte ich dich im Schuppen erwischen, knallt es, Bridda, das sage ich dir.“

Bisher war ich immer folgsam gewesen und hatte den Schuppen gemieden. Doch wenn meine Eltern nicht auf mich hörten und mir statt des wunderbaren Lexikons irgendeinen Kinderkram schenkten, wieso sollte ich dann tun, was sie sagten? Der Schuppen war unverschlossen, wie ich feststellte. Leise knarrte die Tür, als ich sie öffnete und hinter mir schloss. Im Halbdunklen erkannte ich zahlreiche Kisten, die an den Wänden gestapelt waren. Wahrscheinlich enthielten sie Gartenzubehör. Säcke mit Blumenerde waren hoch aufgetürmt, und Gartengeräte lagen auf einem Haufen. Durch die kleinen Fenster des Schuppens fiel nur ungenügend Licht, doch ich traute mich nicht, das elektrische Licht einzuschalten, weil dann meine Eltern sehen könnten, dass jemand im Schuppen war. Mehrere Seile ganz oben in einem hohen Metallregal an der Wand zogen meine Aufmerksamkeit an. Ob ich eines davon als Springseil nutzen könnte? Ich beschloss, mir die Seile näher anzusehen, und begann vorsichtig, das Regal hinaufzuklettern. Es war nicht in der Wand verankert. Mir kam es vor, als würde es mit jedem Schritt, den ich machte, stärker wackeln. Auf halber Höhe hielt ich unentschlossen inne. Sollte ich nicht doch lieber wieder nach unten klettern? Die Seile waren noch immer ein ganzes Stück außerhalb meiner Reichweite. Aber wie sollte ich dann den Nachmittag verbringen? Hätte ich doch nur das schöne Lexikon! Darin waren bestimmt viele Bilder, die ich mir hätte ansehen können. Ich war wieder so wütend auf meine Eltern! Und mit meiner Wut wuchs auch mein Mut, mir eines der Seile zu holen. Zwei Regalfächer weiter oben hatte ich es fast geschafft. Die Seile waren in greifbarer Nähe. Aufgeregt stieg ich noch ein Stück höher. Dann hielt ich mich mit der linken Hand oben an der Regalfläche fest, um mit der rechten ein Seil zu nehmen. Wäre es in dem Schuppen richtig hell gewesen, hätte ich gesehen, dass die Fläche mit Öl beschmutzt war. Doch in dem halbdunklen Raum griff ich in die klebrige Masse. Meine linke Hand verlor den Halt. Meine rechte Hand fasste panisch in das Seilknäuel, das ich im freien Fall mit nach unten riss. Hart schlug ich mit dem Hinterkopf auf dem Betonboden auf. Dann wurde alles schwarz.

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, dauerte es eine Weile, bis ich begriff, dass ich im Krankenhaus war. Mein Vater und meine Mutter saßen an meinem Krankenbett. Meine Mutter sah ganz verweint aus und betupfte mit einem Stofftaschentuch ihre Augen. Auch mein Vater schaute besorgt, aber als er sah, dass ich wach war, wirkte er plötzlich verärgert.„Bridda, wie oft habe ich dir ...“, setzte er an, bevor ihn meine Mutter leise unterbrach: „Bridda! Endlich bist du wach!“ Dann nahm sie erleichtert meine Hand. „Du hattest einen Schutzengel, Deern. Das hätte auch ganz anders ausgehen können.“

Die Krankenschwester wurde gerufen, die sofort einen Arzt informierte, dass ich wieder bei Bewusstsein war. Der Arzt stellte mir mehrere unsinnige Fragen. Ob ich meinen Namen wisse. Ob ich sagen könne, wer die Frau und der Mann an meinem Bett waren. Wie alt ich sei. Als ich eine Frage nach der anderen ohne zu überlegen beantwortete und den Arzt schließlich fragte, ob er mich für blöd halte, nickte dieser zufrieden, und meine Mutter begann vor Erleichterung wieder zu weinen.

Ungefähr eine Woche lang musste ich im Krankenhaus bleiben, dann wurde ich nach Hause entlassen. Meine Eltern behandelten mich wie ein rohes Ei und lasen mir jeden Wunsch von den Augen ab – bis auf das Lexikon, natürlich.

Wie durch ein Wunder hatte ich durch den Sturz nur eine Gehirnerschütterung erlitten, war aber ansonsten unverletzt geblieben. Die bisherigen Untersuchungen im Krankenhaus hatten ferner ergeben, dass ich keine bleibenden Schäden davongetragen hatte, doch die Krankenhausärzte rieten meinen Eltern, mich sicherheitshalber weiterhin regelmäßig von einem Kinderarzt untersuchen zu lassen.

Dr. Alfred Rabe machte mit seinem schwarzen Haar und seiner Hakennase seinem Namen alle Ehre. Einmal pro Monat statteten meine Mutter und ich in der Folgezeit seiner Praxis einen Besuch ab. Wir warteten jedes Mal lange in dem kleinen, stickigen Wartezimmer, bis wir endlich an der Reihe waren. Dr. Rabe ließ mich im Behandlungszimmer auf einem Bein stehen, mich im Kreis drehen, Tiere auf Bildern erkennen und Farben zuordnen. Dabei machte er sich Notizen und nickte zufrieden, wie der Arzt im Krankenhaus, während meine Mutter glücklich lächelte.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Klein“, sagte Dr. Rabe nach der dritten Untersuchung. „Ihre Tochter hat den Unfall schadlos überstanden. Ich denke, weitere Untersuchungen werden nicht nötig sein.“

Da täuschte sich Dr. Rabe gewaltig. Ich hatte mein Gedächtnis durch den Sturz nicht verloren, auch Tiere und Farben konnte ich beim Namen nennen und ohne Probleme auf einem Bein stehen, und doch war mir etwas abhandengekommen, das ich nie wieder erlangte, so sehr ich mich anfangs auch bemühte: Ich hatte keine Gefühle mehr. In mir war alles wie tot. Ich empfand weder Freude über meine Genesung, noch war ich weiter böse auf meine Eltern, weil sie mir das Lexikon verweigerten. Es war mir egal. Ich spielte, weil ich wusste, dass das von mir erwartet wurde, aber es machte mir keinen Spaß. Später wurden Bücher zu meiner Hauptbeschäftigung. Darin konnte ich mich stundenlang vertiefen und musste dabei noch nicht einmal irgendwelche Gefühlsregungen zeigen. Ich las auch nie Geschichten zur Unterhaltung, sondern immer nur Sachbücher. Mein Ehrgeiz, alles zu wissen, wurde immer größer. Vielleicht sollte das Wissen die Lücke füllen, die die Gefühllosigkeit hinterlassen hatte. Nichts brachte mich mehr zum Lachen. Ich lachte nur, weil die anderen lachten. Nichts machte mir Angst, ich empfand nur ein leichtes Unbehagen. Nichts machte mich wütend, ich empfand nur leichte Verärgerung. Nichts machte mich glücklich, ich empfand nur eine leichte Genugtuung. Und während meine Eltern immer stolzer auf ihre Tochter wurden und mich alle für meine Klugheit bewunderten, hätte ich am liebsten geschrien: „Merkt ihr nicht, dass in mir alles leer ist? Begreift ihr nicht, dass mein Gehirn krank ist?“ Doch ich wusste, was Menschen, deren Gehirn krank war, angetan wurde. Sie wurden weggeschlossen. Sie verschwanden und kamen nie wieder. Und so erzählte ich nie jemandem, wie es in mir aussah.

Das ist bis heute so geblieben. Das Ironische ist, dass mich meine Gefühllosigkeit sehr erfolgreich macht. Ich konzentriere mich ganz auf meine Karriere. Etwas anderes interessiert mich nicht. Menschen interessieren mich nicht. Ich schiebe sie herum wie Schachfiguren. Ich manipuliere sie, und sie merken es nicht einmal. Ich sehe ungerührt dabei zu, wie sie durch meine Schachzüge unglücklich werden. Ihre Gefühle interessieren mich nicht. Ich tue nur so, und das sehr erfolgreich. Über die Jahre bin ich zu einer ausgezeichneten Schauspielerin geworden. Und zu einer noch besseren Intrigantin.

Ingas Spiel

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