Читать книгу Ingas Spiel - Janina Hoffmann - Страница 5
3. Nummer dreizehn
ОглавлениеDie Fluktuation in meinem Dezernat ist hoch, höher als in den meisten anderen der Kanzlei. Wer arbeitet schon gern für eine Chefin, der nichts recht zu machen ist. Das stimmt, ich stelle hohe Ansprüche, an mich und an andere. Damit können die meisten nur schwer umgehen. Wer für mich arbeiten will, braucht starke Nerven, ein dickes Fell und darf nicht auf Lob aus sein. Diese Eigenschaften haben die wenigsten, wenn sie auch anfangs vom Gegenteil überzeugt sind. Direkt nach dem zweiten Staatsexamen kommen sie zu Hamilton & Lace. Sie haben die besten Noten, sonst brauchen sie sich hier erst gar nicht zu bewerben. Sie sind jung und naiv, voller Tatendrang und voller Energie. Sie geben vor, es mache ihnen nichts aus, keine festen Arbeitszeiten zu haben, bis spät in die Nacht zu schuften, an Wochenenden und an Feiertagen, und glauben es wohl auch selbst. Schließlich winkt ein fürstliches Einstiegsgehalt. Und wer würde nicht gern von sich behaupten, in einer der renommiertesten Kanzleien Deutschlands zu arbeiten? Sie sind so berauscht davon, es geschafft zu haben, und fühlen sich durch die Anstellung bei Hamilton & Lace so geschmeichelt, dass sie gar nicht merken, wie sehr sie verfeuert werden. Bereitwillig erledigen sie jeden Arbeitsauftrag, auch unter dem größten Zeitdruck. Irgendwann kommt dann das böse Erwachen. Bei den Ersten treten schon nach ungefähr einem Jahr ernste Erschöpfungsanzeichen auf. Sie haben Ringe unter den Augen, haben an Gewicht verloren, sind launisch und gar nicht mehr bedingungslos bereit, rund um die Uhr zu arbeiten. Die wenigsten tun sich selbst einen Gefallen und kündigen. Die große Mehrheit der Schwächlinge will in der Kanzlei bleiben, koste es, was es wolle. Viel zu groß wäre schließlich die Schande, dem sozialen Umfeld, allen voran den durchweg sehr anspruchsvollen Eltern, das eigene Scheitern einzugestehen. Einige müssen wir dann zu ihrem Glück zwingen und ihnen nahelegen, sich etwas anderes zu suchen. Natürlich gibt es unter den jungen Anwälten auch Hoffnungsträger, die dicke Bretter bohren, wirkliche Bereicherungen für die Kanzlei. Doch leider überwiegen die Weichlinge.
Ich denke, kaum jemand behandelt seine Mitarbeiter so streng wie ich. Vor mir geht niemand nach Hause, ausgenommen Sandra Kind, und auch sie muss mehr Überstunden machen als sonst eine Sekretärin in der Kanzlei. Wochenendeinsätze sind auch für sie keine Seltenheit. Wer in meinem Dezernat tätig sein will, muss sich mir bedingungslos unterordnen. Ich dulde keine Ausreden, ich dulde keine Schwäche, und ich dulde keine Widerworte. Wer das hohe Arbeitspensum nicht schafft, fliegt. Wer sich durch Krankheit drücken will, fliegt. Wer meint, mich mit neunmalklugem Gerede beeindrucken zu können, fliegt.
Auch unter meinen Partnern ist mein Führungsstil bekannt.
„Du darfst es auch nicht übertreiben, Britta“, sagte mir mein Kollege Dr. Holger Bernhard vor einigen Jahren besorgt, als eine Anwältin aus meinem Dezernat heulend aus dem Büro lief, nur weil ich sie in einer internen Besprechung vor allen anderen höflich gefragt hatte, ob sie bei dem Verfassen eines Vertrages unter Drogeneinfluss gestanden habe. So etwas Überempfindliches. Es versteht sich von selbst, dass das der letzte Arbeitstag der Dame war.
Am liebsten hätte ich Holger Bernhard, diesem Weichei, auch noch ordentlich die Meinung gegeigt. Doch stattdessen setzte ich das milde Lächeln auf, das ich so gut beherrsche, und entgegnete ganz unschuldig: „Aber Holger, du kennst mich doch. Das war wirklich nicht so gemeint. Ich mache mir einfach nur Sorgen.“
Derzeit sind zwei Anwälte und eine Anwältin in meinem Dezernat tätig. Dr. Stefan Berger ist ein wahrer Glücksgriff. Er ist ein echter Macher, der es noch weit bringen wird. Nur sollte er sich davon hüten, es zu übertreiben und mir Konkurrenz machen zu wollen. Dann könnte sich das Blatt für ihn ganz schnell wenden.
Weniger Freude bereitet mir Frieder Schahl, der noch kein Jahr in der Kanzlei ist. Mit besten Noten ausgestattet, stellte er sich schnell als weinerliches Nervenbündel heraus, das sich allzu gern hinter Büchern vergräbt und nicht in der Lage ist, selbstsicher gegenüber Mandanten aufzutreten. Es ist eine wahre Plage mit Frieder Schahl. Doch seine Tage sind gezählt. Ich bin bereits auf der Suche nach einem geeigneten Ersatz.
Und dann ist da noch Dr. Janine Graz. Sie wurde zunächst nur eingestellt, weil ihr Vater Vorstandsvorsitzender eines großen Hamburger Unternehmens ist, das zu unseren bedeutendsten Mandanten zählt. Frau Graz‘ Examensnoten waren okay, mehr nicht, aber sie schlägt sich bisher ganz gut und nimmt meine markigen Kommentare mit einem erstaunlichen Selbstbewusstsein hin. Ich bin von ihr angenehm überrascht. Natürlich zeige ich das nicht.
Es ist jetzt 9:15 Uhr morgens, und ich gehe rauchend noch einmal das Besprechungsprotokoll durch, das Sandra Kind gestern für mich noch getippt hat. Sie hat mich erwartungsvoll angesehen, als ich heute die Kanzlei betrat, aber ich habe sie wie immer ignoriert, als ich an dem Schreibpool vorbei in mein Büro gegangen bin. Sie wird ihr verdammtes Geburtstagsgeschenk schon bekommen, keine Sorge. Zuerst werde ich aber diese Katastrophe hier zu Ende korrigieren. Dann hat Sandra Kind mit dem Vertragsentwurf gleich zwei Texte zu überarbeiten, und auch danach werde ich dafür sorgen, dass sie ausreichend beschäftigt ist. Ich hoffe, sie hat sich nicht eingebildet, heute früher gehen zu können.
Es klopft an meine Bürotür. Die meisten wissen, dass ich morgens gern erst einmal meine Ruhe habe und es unangenehme Folgen haben kann, wenn man mich trotzdem stört. Aber irgendjemand scheint nicht warten zu können.
„Herein“, sage ich in einem neutralen Ton. Schließlich weiß ich nicht, wer draußen steht. Frieder Schahl betritt mein Büro und stellt sich mir gegenüber vor meinen Schreibtisch, die Hände auf dem Rücken. Mein Gott, er sieht schlecht aus. Kreidebleich, dunkle Ringe unter den Augen, und dünn ist er geworden. Ich bin meistens so sehr mit meiner Arbeit beschäftigt, dass mir so etwas gar nicht auffällt. Wahrscheinlich will sich Frieder Schahl jetzt krankmelden. Wenn er auf mein Mitleid spekuliert, hat er sich aber geschnitten. Dann kann er nämlich gleich ganz zu Hause bleiben. Nachher stellt sich hier noch ein äußerst vielversprechender Bewerber vor.
„Guten Morgen, Frau Dr. Klein“, beginnt Frieder Schahl höflich. Ich bestehe darauf, dass mich meine Mitarbeiter mit meinem Titel ansprechen. „Entschuldigen Sie bitte die frühe Störung, aber ...“
„Kommen Sie zum Punkt, Herr Schahl“, sage ich knapp. „Wir haben alle Wichtigeres zu tun, als uns über Belanglosigkeiten zu unterhalten.“
Damit habe ich ihn ganz schön eingeschüchtert. Frieder Schahl befeuchtet seine Lippen nervös mit der Zunge. „Also, es geht um Folgendes, Frau Dr. Klein: Mein Vater wird am Freitag sechzig, und das wird groß gefeiert.“
Dieser Knilch wagt es tatsächlich, mich mit irgendwelchen Familienangelegenheiten zu belästigen. Wahrscheinlich sieht er mir meine Irritation an, denn für einen Moment hat Frieder Schahl den roten Faden verloren, bevor er fortfährt: „Und da meine Eltern in Süddeutschland wohnen, möchte ich gern Donnerstag und Freitag freinehmen, wenn das möglich ist.“
Also daher weht der Wind. Ohne zu überlegen, antworte ich mit fester Stimme: „Nein, das ist nicht möglich, Herr Schahl, denn wie Sie wissen, hat Frau Graz derzeit Urlaub. Und es nimmt immer nur einer zur gleichen Zeit Urlaub. So lautet die Regel meines Dezernats.“
Frieder Schahl hat wohl noch nicht begriffen, dass ein Nein bei mir ein Nein ist und dass Widerworte sich nur nachteilig auswirken können. Mit ungeahntem Kampfgeist spricht er weiter. „Aber Frau Dr. Klein, jetzt in der Sommerzeit gibt es doch nicht so viel zu tun, und es geht doch nur um zwei Tage. Da kann man doch sicher eine Ausnahme machen. Und meinen Eltern wäre es ...“
„Herr Schahl“, unterbreche ich, „bei meinen Regeln gibt es keine Ausnahmen. Das sollten Sie inzwischen gelernt haben. Sie werden sich nicht freinehmen. Aber gut, dass Sie mich darauf hinweisen, dass Sie nicht ausgelastet sind. Das können wir schnell ändern. Ich leite Ihnen gleich eine interessante E-Mail mit einem neuen Mandat weiter. Die geplante Struktur ist recht komplex, aber dafür werden Sie sicher eine Lösung finden. Bis zum Ende der Woche haben Sie die Verträge entworfen.“
Frieder Schahl schluckt und sieht mich ungläubig an.
„Das Gespräch ist beendet, Herr Schahl. Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit.“
Als Frieder Schahl meine Bürotür öffnet, erklingt vom Schreibpool schon das aufgeregte Gegacker der Geburtstagsversammlung. Ich muss noch schnell meine Korrekturen beenden. Dann kommt mein Auftritt.
Die Mappe mit den beiden handschriftlich korrigierten Texten in der Hand, darauf die kleine dunkelblaue Samtschachtel, die das Armband enthält, verlasse ich kurze Zeit später mit einem warmen Lächeln mein Büro. Das Lächeln ist täuschend echt, es erreicht sogar meine Augen. Ich habe vor Jahren lange vor dem Spiegel geübt, bis es mir perfekt gelang. Einige Sekretärinnen haben sich bereits an dem engen Arbeitsplatz von Sandra Kind versammelt. Sie wirken sofort befangen, als sie mich kommen sehen, bis auf eine. Direkt neben Sandra Kind steht die rothaarige Sonja Wiegel und blickt mich direkt an. Sie ist mir mit ihrer aufmüpfigen Art schon lange ein Dorn im Auge. Bereits des Öfteren habe ich Herrn Hummel, den Büroleiter, angewiesen, Sonja Wiegel hinauszuschmeißen, worauf dieses Weichei jedes Mal hilflos entgegnete, ihm seien die Hände gebunden.
Wahrscheinlich ist es auch Sonja Wiegel, die hier durch albernen Tischschmuck ein Chaos angerichtet hat. Der sonst immer mit Arbeitsaufträgen überhäufte Schreibtisch von Sandra Kind ist mit Bonbons, Luftschlangen und Konfetti übersät. Dazwischen steht eine große Glasplatte mit einem Kuchen, irgendeine Kalorienbombe mit Cremefüllung. Unter dem Schreibtisch stapeln sich Papiere, darunter wohl schon ältere Ablage, wie ich feststellen muss. Darüber werde ich mit Sandra Kind demnächst einmal eine ernste Unterredung führen. Heute aber lasse ich mir nichts anmerken und gehe lächelnd auf meine Sekretärin zu, die gerade dabei ist, den Kuchen zu verteilen. Ihr Gesicht ist vor Aufregung gerötet, und sie trägt nicht zum ersten Mal eine viel zu enge Bluse, die über ihrem Bauch spannt, so dass zwischen den Knöpfen peinliche Stofflücken entstehen. Warum kauft sie ihre Kleidung nur immer mindestens eine Kleidergröße zu klein. Bei dem abstoßenden Anblick muss ich mich schon etwas anstrengen, damit mein Lächeln nicht gefriert. Stefan Berger steht in einem weißen Oberhemd auch schon unter den Gratulanten. Er lässt ja keine Gelegenheit zum Feiern aus. Und wie er wieder aussieht. Sein lockiges blondes Haar hätte schon vor Wochen gekürzt werden müssen, sein Jackett hängt wohl gerade wie sonst auch in seinem Büro, statt dass er es trägt, und auf eine Krawatte hat der Herr auch schon wieder verzichtet. Würde er nicht so gute Arbeit leisten, hätte er deswegen schon einiges an Kritik von mir einstecken müssen. So belasse ich es meistens bei dezenten Hinweisen, die Stefan Berger gern ignoriert.
Es entsteht eine erwartungsvolle Gesprächspause, als ich Frau Kind gegenüberstehe und ihr die Schachtel mit den Worten: „Alles, alles Gute zum Geburtstag, liebe Frau Kind“, überreiche. Es würde mich zu große Überwindung kosten, ihre fette Hand zu schütteln, also lasse ich es. Meine Gratulation verfehlt auch so ihre Wirkung nicht.
„Oh, Frau Dr. Klein, vielen Dank! Das wäre doch nicht nötig gewesen“, stammelt Sandra Kind, als sie den Inhalt aus der Schachtel nimmt. Aus den Reihen der umstehenden Sekretärinnen gibt es schon die ersten bewundernden Kommentare.
„Aber sicher ist es nötig, liebe Frau Kind. Wer so fleißig ist wie Sie und so fantastische Arbeit leistet, hat auch ein großzügiges Geschenk verdient.“ Beinahe wird mir selbst übel bei dieser Heuchelei.
Sandra Kind legt sich das Armband um. Es passt hervorragend zum Rest ihrer geschmacklosen Ausstattung. Stolz präsentiert sie das Schmuckstück ihren Kolleginnen. „Nochmals vielen Dank, Frau Dr. Klein, für das schöne Geschenk“, sagt sie. „Möchten Sie ein Stück Kuchen? Er ist selbstgebacken.“
„Nein, danke“, lehne ich immer noch lächelnd ab. „Ich muss auf meine Figur achten.“ Im Gegensatz zu dir habe ich eine.
„Also, ich nähme schon gern eins, und zwar ein großes, wenn es geht“, sagt plötzlich eine männliche Stimme hinter mir. Ich muss mich gar nicht erst umdrehen, um zu wissen, wer es ist. Mein Partner Dr. Achim Bär. Er wiegt mindestens einhundert Kilo und denkt nur ans Fressen. Irgendwann wird er vor unserer aller Augen platzen.
„Nachher ist Partnersitzung“, rechtfertigt sich Achim Bär bereits mit vollen Backen kauend. „Dann gibt‘s wieder ein spätes Mittagessen. Kein Mensch kann so lange mit leerem Magen durchhalten.“ Bevor er mit dem Teller in sein Büro zurückstapft, raunt er mir noch zu: „Britta, mach dich auf was gefasst: Heute haben wir einen Überraschungstagesordnungspunkt auf der Agenda. Wird dich freuen.“
Ich lächele unverbindlich. Keine Ahnung, wovon er redet.
Jetzt wird es auch langsam Zeit, diese Party hier zu sprengen. „Frau Kind“, sage ich mitfühlend, „es tut mir leid, aber die Arbeit wartet leider auch an Ihrem Geburtstag nicht. Ich brauche die getippten Korrekturen dieser beiden Texte noch vor Ihrer Mittagspause, zuerst den Vertrag. Bitte fangen Sie jetzt gleich damit an.“
Das Lächeln verschwindet von Sandra Kinds Gesicht. Auch ihre Kolleginnen blicken unbehaglich vor sich hin, aber so recht verschwinden will noch keine.
„Frau Kind“, sage ich daher mit sanfter Stimme, „ich könnte die Korrekturen Ihnen zuliebe natürlich auch selbst einarbeiten, weil Sie Geburtstag haben, aber Sie wollen hier doch auch weiter Ihr Geld verdienen, nicht wahr?“
Den Wink hat selbst Sandra Kind kapiert. „Vielen Dank, dass ihr da wart“, verabschiedet sie die anderen Sekretärinnen, die sich an ihre Arbeitsplätze zurückziehen, und beginnt hastig, ihren dekorierten Schreibtisch aufzuräumen.
„Tja, Frau Kind“, sagt Stefan Berger frech, „so ist das nun mal: Was Frau Dr. Klein sagt, ist Gesetz. Dem haben wir uns bedingungslos unterzuordnen.“ Dann schiebt er sich seelenruhig den letzten Kuchenbissen in den Mund. Nicht zum ersten Mal fällt mir auf, dass seine Pupillen verdächtig geweitet sind. Wer weiß, was er nach einer durchgearbeiteten Nacht eingenommen hat. Solange seine Arbeitsresultate stimmen, soll es mir jedoch egal sein. „Sie gehen jetzt erst einmal zum Frisör, Herr Berger“, sage ich stattdessen streng. „Und binden Sie sich verdammt nochmal endlich eine Krawatte um.“
Jeden Dienstag um 12:00 Uhr ist Partnersitzung. Es werden Mandate, Akquise, Budgets, neue Anstellungen und die allgemeine Firmenpolitik besprochen. Die für die Besprechung vorgesehene Stunde ist viel zu knapp bemessen, da meistens hitzige Diskussionen entstehen, so dass niemand vor 14:00 Uhr sein Mittagessen einnimmt, da hat Achim Bär schon Recht.
Sandra Kind hat es – wohl angespornt durch mein Geschenk – sogar noch vor 12:00 Uhr geschafft, den Unternehmenskaufvertrag zu überarbeiten. Ganz egal, wie viele Fehler der Text noch enthält, ab jetzt werde nur noch ich mich damit befassen, damit er heute Abend tadellos an die Gegenseite versandt werden kann. Ich bin ganz vertieft in meine Arbeit, als mich das Klingeln des Telefons in meiner Konzentration stört. Sandra Kind erinnert mich an die Partnersitzung. Stimmt, es ist schon 12:05 Uhr. Fast hätte ich die Sitzung vergessen.
Im Besprechungsraum haben sich schon neun Herren an dem langen ovalen Mahagonitisch auf bequemen Lederstühlen niedergelassen und führen angeregte Einzelgespräche, zwei Partner sind urlaubsabwesend. Ich schließe die massive, ledergepolsterte Tür hinter mir und setze mich auf den Platz zwischen Dr. Rupert Kohler und Dr. Karsten Säck. Ersterer bekommt sein aufbrausendes Temperament nicht unter Kontrolle und hat wie so oft auch jetzt eine mehr als gesunde Gesichtsfarbe. Das, was von seinem dunkelbraunen Haar noch übrig ist, ist streng gescheitelt. Dazu bilden das fahle Gesicht und die aschgrauen Haare von Karsten Säck einen starken Kontrast. Karsten Säck nervt mich regelmäßig mit seinen frauenfeindlichen Sprüchen. Das wird ihm eines Tages noch sehr leidtun.
Gewöhnlich ist die Sitzordnung immer gleich. Da gibt es keine Überraschungen. Aber heute ist etwas anders. Heute gibt es eine weitere Teilnehmerin, attraktiv, mit großen braunen Augen und langem dunkelbraunen Haar, die auf einem der sonst freien Stühle sitzt und mit ruhigem Selbstbewusstsein in die Runde blickt.
Dr. Virginia Lindt ist Mitte dreißig, hat eine amerikanische Mutter und arbeitet erst seit ungefähr drei Jahren in dem Dezernat von Holger Bernhard. Vorher war sie in einer großen Kanzlei in Berlin tätig. Holger Bernhard ist sehr angetan von Virginia Lindts engagierter, ausgezeichneter Arbeit, die er regelmäßig auf unseren Partnersitzungen hervorhebt. Virginia Lindt hat mich bereits in einigen Mandaten unterstützt, und auch ich muss sagen, dass ich ihre Arbeit schätze. Was wohlgemerkt nicht heißt, dass ich sie als Partnerin möchte, denn ich will unbedingt die einzige Partnerin in der Kanzleigeschichte bleiben. Die Partnerschaft von Virginia Lindt ist aber genau das, was der sonst so scheue Holger Bernhard in den letzten Monaten immer wieder in unseren Partnersitzungen vorgeschlagen hat. Bisher habe ich immer eine offene Haltung zur Schau gestellt und so getan, als würde ich die Ansicht von Holger Bernhard teilen. Schließlich wissen ja alle, dass ich selbst erst durch das Ableben eines Partners zu meiner damaligen Beförderung kam. Außerdem ist der gewagte Plan sowieso zum Scheitern verurteilt, da es die große Mehrheit meiner Kollegen glücklicherweise nicht unterstützt, von der Zahl zwölf abzuweichen. Und nun lädt Holger Bernhard Virginia Lindt einfach in unsere Sitzung. Jetzt verstehe ich auch die vorherige Anspielung von dem dicken Achim Bär, abgesehen von mir dem einzigen Unterstützer von Holger Bernhards Vorschlag.
Holger Bernhard eröffnet heute sogar die Sitzung und führt Protokoll. Ich bin erstaunt über seine Hartnäckigkeit, wenn es um Virginia Lindt geht. Wahrscheinlich ist er scharf auf sie und hat daher jeden Realitätssinn verloren. Männer.
Als Holger Bernhard für alle Anwesenden noch einmal den Lebenslauf von Virginia Lindt herunterbetet und ihre bisherigen Verdienste für die Kanzlei hervorhebt, fällt mir wieder einmal auf, wie sehr dieser Partner mit seinem treuen Blick einem Bernhardiner gleicht. Würde er mit einem anderen Nachnamen auch so aussehen?
„Ich schlage also vor, dass wir heute, auch wenn wir nicht ganz komplett sind, einmal offen darüber abstimmen, Frau Lindt in die Partnerschaft aufzunehmen“, holt mich Holger Bernhard gedanklich in die Sitzung zurück. Er hat tatsächlich den Verstand verloren.
„Soll das ein verdammter Witz sein?“, brüllt nun Rupert Kohler an meiner linken Seite los. „Haben wir Karneval, oder hast du zu viel Sonne abbekommen? Solange kein Partner die Kanzlei verlässt, wird auch niemand aufgenommen! Das war schon immer so! Basta!“
Holger Bernhard fährt unbeirrt fort: „Wer dafür ist, Frau Lindt als Partnerin aufzunehmen, hebe die Hand.“
Zu meinem Erstaunen heben sich nicht nur die Hände von Holger Bernhard und Achim Bär, auch vier weitere Partner stimmen dafür. Karsten Säck hat demonstrativ seine Arme vor der Brust verschränkt, Rupert Kohler höre ich neben mir wütend schnauben. Ich merke, wie einige erwartungsvolle Augenpaare auf mir ruhen. Wenn ich jetzt dafür stimme, wird Virginia Lindt in die Partnerschaft aufgenommen und ich wahre meinen toleranten Ruf. Wenn ich dagegen stimme, verderbe ich der Ziege ihre Karriere, mache ich mich aber selbst unglaubwürdig. Seelenruhig hebe ich meine rechte Hand. Virginia Lindts dankbarer Blick entgeht mir nicht. Dann raunt Karsten Säck mir zu: „Ihr Weiber steckt doch alle unter einer Decke. Ist ja klar, dass du diese Quotenfrau unterstützt, Britta-Maus.“
Gerade mache ich mir gedanklich eine Notiz, dass ich jetzt endlich Norbert Hanta auf diesen Mistkerl rechts neben mir ansetzen werde, als Rupert Kohler mit voller Wucht seine Faust auf den Tisch knallt. „SEID IHR JETZT ALLE IRRE GEWORDEN?“, brüllt er, bevor er mit hochrotem Kopf den Sitzungsraum verlässt.
„Ich nehme somit zu Protokoll, dass Frau Lindt zur neuen Partnerin gewählt wurde“, hält Holger Bernhard sachlich fest. „Über den Zeitpunkt und die weiteren Konditionen sollten wir nach der Urlaubszeit entscheiden und dann der guten Ordnung halber auch noch das Votum der beiden heute abwesenden Partner einholen.“
Nach diesem Debakel kann ich mich am Nachmittag nur mit Mühe auf den Vertragstext konzentrieren. Ich kann noch immer nicht fassen, was in der heutigen Sitzung geschehen ist. Meine Partner sind alle triebgesteuert. Ich hätte es wissen müssen, dass ihr Verstand im entscheidenden Moment aussetzt. Aber einen Gedanken finde ich äußerst verlockend: Virginia Lindt das Leben zur Hölle zu machen. Sie wird froh sein, wenn sie Hamilton & Lace endlich wieder verlassen kann. Sie wird den Tag verfluchen, an dem sie den Fuß in diese Kanzlei setzte. Leider habe ich im Moment zu viel Mandatsarbeit, um mich mit den näheren Plänen zu befassen.
Es ist schon fast 21:00 Uhr, als es an meine Bürotür klopft. Virginia Lindt betritt nach meinem „Herein“ den Raum. Erst jetzt, da sie vor mir steht, fällt mir auf, wie sehr ihr dunkelblaues Kostüm ihrer Figur schmeichelt und ihre schlanke Taille betont. Dieses hinterhältige Miststück wird schon gewusst haben, warum sie es heute angezogen hat.
„Frau Dr. Klein“, beginnt Virginia Lindt, „ich wollte mich für Ihre Unterstützung heute bedanken. Ihre Stimme hat ja den Ausschlag gegeben.“
Ich erhebe mich und setze mein charmantestes Lächeln auf. „Aber, aber, nicht der Rede wert. Und meinen herzlichen Glückwunsch. Das ist erst in der ganzen Aufregung leider untergegangen, fürchte ich. Und ich schlage vor, dass wir uns von jetzt an duzen.“ Ich reiche Virginia Lindt meine Hand. „Ich bin Britta.“
Virginia Lindt lächelt erfreut. „Virginia.“
„Dann auf eine gute Zusammenarbeit, Virginia. Leider habe ich hier kein geeignetes Getränk, mit dem wir anstoßen könnten, aber das holen wir nach. Wir Frauen müssen doch zusammenhalten, nicht wahr?“
„Ich bin sehr erleichtert, dass du das so siehst, Britta“, stimmt mir Virginia Lindt mit ihrem warmen Lächeln zu. „Und ich hoffe, dass wir mit der Zeit Freundinnen werden. Das würde mich jedenfalls sehr freuen.“
Virginia Lindt macht es mir ja einfach.
Sicher, meine liebe Virginia, wir werden Freundinnen werden. Ich möchte sogar deine beste Freundin sein. Die Freundin, auf die du dich immer verlassen kannst. Die Freundin, mit der du alle Sorgen teilst und der du alle Geheimnisse beichtest. Und dann, wenn du mir ganz vertraust und ich all deine Schwachpunkte kenne, werde ich dich vernichten.