Читать книгу Bauer Bernhard Beamter Kafka - Janko Ferk - Страница 6
Einleitung
ОглавлениеBEINAHE EIN PLÄDOYER FÜR DEN DICHTER MIT ZIVILBERUF
Ein unbefangenes Urteil darf vorweggenommen werden: Eine Schriftstellerin und ein Schriftsteller, wenn auch keine österreichischen, haben sich in unserem Jahrhundert zweifellos als Dichterjuristen etabliert, nämlich Bernhard Schlink und seine streitbarere Kollegin Juli Zeh.
Aber was ist nun ein Dichterjurist? Der Begriff bezeichnet Dramatiker, Epiker oder Lyriker mit akademisch-juristischer Bildung. Den Terminus hat Eugen Wohlhaupter1 in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts etabliert und es verwenden ihn sowohl die Literatur- als auch die Rechtswissenschaft. Vom Dichterjuristen im engeren Sinn, der sein Studium, meist mit Promotion, abschloss, so zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe, Franz Kafka oder France Prešeren, lässt sich der Dichterjurist im weiteren oder weitesten Sinn unterscheiden, also jemand, der sein Studium abbrach, beispielsweise Jacob Grimm oder Peter Handke.
Das Thematisieren von Literatur und Recht überrascht nicht, zumal diese Materie in den vergangenen Jahren zu einem der innovativsten Forschungsfelder der Literaturwissenschaft geworden ist. Die Untersuchungen darüber sind im Übrigen naheliegend, weil das Medium – sowohl der Literatur als auch des Rechts – die schriftlich fixierte Sprache ist. Sie ist ein zentraler Gegenstand der Arbeit des Juristen, der während seines gesamten Berufslebens mit Wörtern, Sätzen und Texten konfrontiert ist. Zeit seines Lebens setzt er sich mit bestimmten Sprachprodukten auseinander und hat zwischen ihnen Verbindungen herzustellen. Autor und Jurist stehen gleichsam in einem Zielkonflikt, zumal das Recht normative Grenzen zu ziehen bestrebt ist, die die Literatur – als Kunst – wohl andauernd zu überschreiten versucht.
Die eingangs erwähnten Berufsgenossen Schlink und Zeh, die beide auf ganz andere Weise Fachgröße erlangten und die beide neben belletristischen bemerkenswerte theoretische Schriften veröffentlichen, stehen gleichsam exemplarisch für unser Jahrhundert und den Juristen, der schreibt. Dies ist allerdings nur eine Facette der Dichter mit Zivilberuf.
Schriftstellerinnen und Schriftsteller haben natürlich auch viele andere Beschäftigungen und Broterwerbe, sie sind Ärzte, Germanisten, Historiker, Philosophen und nicht selten Journalisten oder Lehrer, sodass man zum Beispiel von Ärztedichtern oder Dichterärzten sprechen könnte. Doch ist der Konnex Schreiben und Jus, wie bereits erwähnt, wegen der Relevanz der Sprache in beiden Berufen mehr als naheliegend.
In diesem Band sollen nicht nur Dichterjuristen vorgestellt werden, Literatur über sie gibt es zuhauf, sondern ebenso Autorinnen und Autoren, die neben dem Schreiben einem anderen sogenannten Zivilberuf nachgehen oder ihn einige Zeit lang ausgeübt haben. Das Phänomen der Dichterin und des Dichters, der es nicht hauptberuflich ist und seinen Unterhalt aus einer anderen Beschäftigung finanziert, tritt ohne Zweifel weltweit auf. Dieser Band beschäftigt sich sowohl mit Autorinnen und Autoren der österreichischen Literaturgeschichte als auch der Gegenwartsliteratur, die eine Zeit lang oder das ganze Leben zwischen Beruf und Berufung gestanden sind.
In Alfred de Vignys Bühnendrama „Chatterton“2 aus dem Jahr 1835 wird das eine sogar mit der Ehefrau und das andere mit der Geliebten verglichen beziehungsweise gleichgestellt. Eine im Eigentlichen dramatische Darstellungsweise, die den Poeten, würde sie richtig sein, ein Leben lang in einen nicht zu lösenden Zielkonflikt treibt, obwohl der Schreibort eines ernsthaften Dichters nichts anderes ist als eine einzige Klosterzelle, buchstäblich eine Klause, in der eine Partnerin oder ein Partner wohl schwer Platz finden kann. Ein Zielkonflikt, vor allem aber eine große Leidenschaft, die viel bewirken und manchmal noch viel mehr zerstören kann.
Bernard Lahire bezeichnet diese Umstände als Doppelleben3, ein Begriff, mit dem ich mich nicht anfreunden kann, weil er zu abwertend und pejorativ ist, zumal er meist mit jenem Versteckspiel einhergeht, bei dem der gebundene (Ehe)Partner seinen heimlichen Geliebten vor der Welt … verdeckt. Die Dichterinnen und Dichter, die ich meine, haben aber weder ihre Profession noch ihre Bücher vor der Welt verheimlicht. Im Gegenteil. Sie waren fast durchwegs bemüht, erfolgreich zu sein.
Der Erzdichterjurist Franz Kafka ist natürlich – wie in jeder Hinsicht – die Ausnahme. Das Schreiben war ihm wichtiger als – beispielsweise – eine Ehe mit Felice Bauer oder Dora Diamant, aber dem Erfolg seiner Bücher ist er nie und nirgends nachgeeilt oder nachgejagt. Zuletzt und bis heute war es umgekehrt: Die weltweite Anerkennung und der unvergleichbare Erfolg waren – nach seinem Tod – hinter ihm her und sind nicht aufzuhalten. Millionenauflagen seiner Bücher und Übersetzungen in alle Kultursprachen der Welt sind beredte Zeichen.
Über Franz Kafka beziehungsweise seine Werke erscheint von Österreich über die Bundesrepublik Deutschland bis Japan, das eine erstaunliche Germanistengemeinde aufweist, nahezu wöchentlich ein sekundärliterarisches Buch, was sich in der heutigen digitalen Parallelwelt4,5 gut nachvollziehen lässt. Das soll unmissverständlich heißen, dass man – mit Disziplin und Leidenschaft – durchaus in zwei Berufen, beziehungsweise in Beruf und Berufung reüssieren kann.
Es gibt Schriftsteller mit und ohne Nebenberuf. Den Vollzeitschriftsteller, der von seiner Tätigkeit, wie es heißt, leben kann, und den Schriftsteller in seinem unsicheren ureigensten Beschäftigungsverhältnis, wobei für die Leidenschaft wohl nicht der Blick auf das Konto entscheidend ist. Allein in Österreich gibt es ungefähr viertausend Autorinnen und Autoren6, von denen mit Gewissheit nur eine Handvoll mit dem Schreiben einen würdigen Lebensunterhalt bestreiten kann. Diese Handvoll könnte man namentlich aufzählen.
Für die anderen, die mit dem Schreiben kein finanzielles Auslangen finden können, sind eine wichtige Einnahmequelle literarische Lesungen7 und Preise8, da die Auflagen ihrer Bücher meist nicht besonders hohe Honorare einspielen. Dazu kommt die Unart sogenannter „Bezahl-Verlage“, natürlich auch österreichischer, ein Buch nicht ohne finanzielle Eigenleistung des Autors oder den Erwerb einer gewissen Anzahl von Exemplaren durch ihn herauszubringen, wovon aber jedem ernsthaften Schriftsteller unbedingt abzuraten ist. Gute Literatur setzt sich – und das stelle ich mit Überzeugung fest – von allein durch.
Eine rechtliche und vor allem sozialrechtliche Absicherung für den „freien Schriftsteller“ mit der Zusicherung eines staatlichen Minimal- oder Mindesteinkommens wird derzeit rechtspolitisch nicht einmal in Erwägung gezogen. Thomas Bernhard beispielsweise hat jede Subventionierung eines Schriftstellers strikt abgelehnt, Preise9 hat er dennoch angenommen. Natürlich stellt sich die Frage, ob dies überhaupt eine Lösung wäre. Die erste Fragestellung ergibt sich schon bei den Kriterien für die Gewährung eines solchen gesicherten Einkommens. Viele weitere wären ebenso ungelöst.
Zur sozialen Lage der Künstler und Künstlerinnen in Österreich10 hat das Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur eine Studie in Auftrag gegeben, die die Schriftstellerinnen und Schriftsteller berücksichtigt. Eine Grundschwingung, die in verschiedenen Zusammenhängen – den Fragebögen und persönlichen Gesprächen oder Experteninterviews – immer wieder zum Ausdruck kam, war das gesellschaftliche Image von Kunst und Kunstschaffen in Österreich.
Die zeitgenössische Kunst, konstatiert der Bericht aus dem Jahr 2008, erfahre zu wenig Interesse, der Wunsch nach einer eigenständigen Kunstszene mit internationalem Profil sei zu schwach und den Kunstschaffenden werde zu wenig zugetraut. Die Wertschätzung ihrer Arbeit sei zu gering. Als zeitgenössischer Künstler habe man es schwer – und gut dürfe es einem schon gar nicht gehen. Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass qualitätsvolle künstlerische Arbeit auf individueller Ebene einer ökonomischen Grundlage und sozialen Absicherung bedürfe, um eine Kontinuität des Arbeitens herstellen zu können, die wiederum wesentliche Voraussetzung der künstlerischen Entwicklung sei.11
An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Literaturen der österreichischen Volksgruppen, so der Kärntner Slowenen und burgenländischen Kroaten, die ein wesentlicher Teil der österreichischen Dichtkunst sind, bis heute keinen einzigen freischaffenden Autor hervorgebracht haben, obwohl die Kärntner slowenische auf den Lyriker Gustav Januš12 und den Prosaisten Florjan Lipuš13 verweisen kann, die beide von Peter Handke ins Deutsche übersetzt wurden. Vielleicht ist darin ein unbewusster Beweggrund jüngerer Kärntner slowenischer Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu sehen, dass sie zweisprachig, auf Deutsch und Slowenisch, veröffentlichen. Aufgrund einer im Jahr 1990 erschienenen Lyrikanthologie14, die vom Verlag hervorragend ediert und vom Herausgeber außergewöhnlich gestaltet wurde, kann man feststellen, dass die österreichischen Volksgruppen bereits vor mehr als zwei Jahrzehnten auf insgesamt neununddreißig – darunter nicht wenige namhafte – Lyrikerinnen und Lyriker verweisen konnten. Der Herausgeber hat in vorbildlicher Weise Autorinnen und Autoren der burgenländischen Kroaten und Ungarn, Jenischen, Juden, Kärntner Slowenen, Roma und Tschechen berücksichtigt. Eine aktuelle Bestandsaufnahme dieser Art wäre nicht weniger aufschlussreich.
Die Kärntner slowenische Literatur des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts schreiben achtzig Autorinnen und Autoren15, die in fast allen Fällen zumindest eine eigenständige Buchpublikation vorweisen können, einzelne Schriftsteller haben mehr als dreißig Bücher veröffentlicht.
Natürlich übersehe ich nicht, dass in Österreich wenigstens eine soziale Altersversorgung16 durch die „Literar-Mechana“ existiert und dadurch wiederkehrende Leistungen für die Alters-, Berufsunfähigkeits- oder Hinterbliebenenversorgung sowie Beiträge für eine freiwillige Krankenversicherung in Zig-Millionenhöhe erfolgen. Dies kann jedoch nicht die allein selig machende Perspektive für eine junge Frau oder einen jungen Mann sein, die vor der Entscheidung stehen, als Schriftstellerin oder Schriftsteller zu leben, weshalb wohl Doppel„karrieren“ entstehen. Mit diesen beschäftigt sich das vorliegende Buch. Mit exemplarischen jedenfalls.
In diesem Zusammenhang kann man wenigstens eines für die Dichterinnen und Dichter mit Neben- oder Zivilberufen bemerken: In finanzielle Notlagen sind sie nicht geraten, einige waren sogar wohlbestallt, was die weitere ausdrückliche Schlussfolgerung nach sich zieht, dass ein Künstler nicht am Hungertuch nagen muss, um kreativ zu sein.
Eine abschließende Bemerkung erscheint mir erforderlich. Bei der Arbeit an diesem Buch habe ich mich mit jeder Schriftstellerin und jedem Schriftsteller individuell, spezifisch und subjektiv befasst, handelt es sich doch um unvergleichliche Individualisten und Individuen, sodass die einzelnen Aufsätze sich in Art, Inhalt und Umfang merklich unterscheiden. Mein Bestreben war es, einfach gesagt, jeder Dichterin und jedem Dichter angemessen gerecht zu werden. Gesamtwerke zu erfassen und zu kommentieren konnte dabei nicht mein Ziel sein. Die Reihenfolge der Dichterinnen und Dichter richtet sich nach deren Geburtsjahr und reicht über drei Jahrhunderte, nämlich von Franz Grillparzer, der im achtzehnten Jahrhundert geboren wurde, bis zur jüngsten Schriftstellerin, Barbara Frischmuth.
Zu erkennen ist mit Gewissheit, dass ein Literaturheiliger meine Arbeit und die Untersuchungen geprägt hat, nämlich Franz Kafka, den ich seit meinen Gymnasialjahren in besonderer Weise studiere. Er war der Angel- und Drehpunkt der Idee für die Frage nach den Zivilberufen der Dichter und Dichterinnen. Auch Beruf und Berufung Anton Wildgans’ haben mich naturgemäß besonders interessiert.
Die traurigste Konstatierung ist aber jene, dass durch den unfassbaren und unsagbaren Wahnsinn der Zeit von 1938 bis 1945 Österreich besonders viel geistiges Potenzial verloren hat, das nie wieder zu ersetzen sein wird, und dass Berta Zuckerkandl sowie Albert Drach schlimmstes Leid erfahren haben. Franz Kafkas Schwestern sind in den Vernichtungslagern umgekommen. Die Fragezeichen nach den angenommenen Sterbejahren, die ich im Kapitel über Franz Kafka bewusst setze, bedeuten alles – und sagen nichts.