Читать книгу Der Fall Wirecard - Jannine Benkhardt - Страница 5
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Die Geschichte von Wirecard beginnt 1999. Noch steckte E-Commerce, der elektronische Handel über das Internet, in den Kinderschuhen. Üblich war es, dass Kunden per Vorkasse für Bestellungen bezahlen; damit trugen sie aber auch das volle Risiko, wenn der Händler nicht lieferte. So machten es der Internet-Flohmarkt Ebay und andere Plattformen, die bald neben privaten Auktionen auch kommerziellen Händlern die Möglichkeit boten, ihre Waren über das Internet zu verkaufen.
Peter Herold, Jahrgang 1970, hat Informatik und Direktmarketing studiert und war seit 1994 Geschäftsführer der Securitas Internet Systems in München. Er tüftelte an Bezahlverfahren mit Kreditkarten. Damit die Online-Händler nicht von faulen Kunden hereingelegt werden können, müssen sie die Gültigkeit und Deckung der Kreditkarten überprüfen können. Dies setzt voraus, dass die Kreditkartendaten sicher verschlüsselt übertragen werden.7 Aber auch die Kunden brauchen Gewissheit, dass sie die bestellte Ware erhalten. Zusammen mit seinem Geschäftspartner Detlev Hoppenrath, einem gelernten Heilpraktiker, der in verschiedenen Computerfirmen und -verlagen gearbeitet, die ersten Anti-Viren-Programme geschrieben und mehrere Patente angemeldet hatte8, gründete Herold 1999 in Grasbrunn bei München ein Unternehmen, das sie Wirecard nannten. Der Name spielte auf die Verbindung von Kreditkarte und Internet an. Hoppenrath wurde Vorstandsvorsitzender, Herold leitete den Aufsichtsrat.
Die Firma entwickelte »ein Verfahren und System zur automatischen Abwicklung von bargeldlosen Kaufvorgängen«, wie es im Bericht zur Patentanmeldung heißt: Eine Software stellte eine virtuelle Verbindung zwischen Kreditkartenfirmen, Onlinehändlern und ihren Kunden her; und sie sorgte dafür, dass die Bezahldaten des Kunden beim Einkauf im Netz an den Onlinehändler und an die Kreditkartenorganisationen übermittelt wurden. Sie analysierte in Sekundenschnelle, ob die Karte gedeckt und die Zahlung plausibel ist. »Durch uns kann sich der Händler auf sein Kerngeschäft konzentrieren: ein Produkt im Internet zu verkaufen. Unser Kerngeschäft ist es, den Zahlungsvorgang für den Händler abzuwickeln«, erklärt Hoppenrath. »Dem will das Münchner Start-up-Unternehmen Wirecard Atem einhauchen«, berichtete die Welt.9
Wirecard expandierte, stellte neue Leute ein. Hoppenraths Auge fiel auf einen technikbegeisterten jungen Wiener, der kurz vor der Matura, wie in Österreich das Abitur heißt, die Schule abgebrochen und mit 19 Jahren ein Software-Unternehmen für Anwendungen im elektronischen Handel gegründet hatte. Vor allem kannte sich dieses »Bürscherl«, so nannten sie den blassen Jüngling in der Firma, mit der Mobilfunktechnologie »Wireless Application Protocol« aus – auch das Handy sollte bald fürs Bezahlen im Internet nutzbar gemacht werden. Beim Vorstellungsgespräch, erinnert sich Peter Herold, präsentierte sich der »extrem freundliche« junge Mann »mit Wiener Schmäh«.10
Sein Name ist Jan Marsalek. In seinem Personalausweis steht der Familienname in der tschechischen Schreibweise: Maršálek mit Hatschek auf dem s und Akut auf dem a. Sein Großvater Hans Maršálek, ein gelernter Schriftsetzer, war nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland 1938 nach Prag geflohen, hatte sich dort nach der Okkupation der »Resttschechei« dem kommunistischen Widerstand angeschlossen, war verhaftet und ins Konzentrationslager Mauthausen verbracht worden; nach dem Krieg wurde er Kriminalpolizist.
Mit Recht und Ordnung hat es der am 15. März 1980 in Wien geborene Enkel nicht so. Jan habe schon in seiner Jugend begonnen, sich über Regeln hinwegzusetzen, berichtet seine Mutter. Er besuchte erst eine französische Privatschule, dann das Gymnasium in Klosterneuburg. Er war begabt, ein guter Schüler, der sich besonders für Informatik interessierte. »Irgendwann in dieser Zeit ging es dann los«, erzählt die Mutter: »Er arbeitete am Gymnasium auch für die Schulbibliothek am Computer und hatte dadurch einen Sonderstatus.« Nach einem Streit mit den Eltern sei Jan im Juni 1999 Hals über Kopf ausgezogen. Lebenszeichen ihres Sohnes habe es lange nur in Form von Handyrechnungen und Mahnungen gegeben – die elterliche Anschrift diente Jan offenbar als Inkassoadresse. Er gab mehr Geld aus, als er hatte. Jan sei »ein präpotenter Zampano«, sagt die Mutter, aufdringlich, frech, überheblich. Seine Karriere hat sie nur in der Presse verfolgt. »Wirecard war mir schon lange suspekt«, sagt sie 2020 zu Spiegel-Redakteuren. »Dass Jan ohne Abschluss dort so schnell aufstieg, wie ist das möglich?«11
Hoppenrath ernannte Marsalek gleich zum »Director Technology« und betraute ihn mit einem intern »Wirecard 2.0« genannten Projekt. Die gesamte Bezahlplattform sollte neu programmiert werden, um Wirecard noch schneller und effizienter zu machen. Hoppenrath ließ sich immer wieder berichten, wie das Projekt vorangehe, und Marsalek versicherte jedes Mal, dass alles nach Plan verlaufe. Dann aber stellte sich heraus, dass nichts funktionierte. »Das hat uns zwei Millionen Mark gekostet«, erinnert sich einer der damaligen Manager. Hoppenrath war enttäuscht, dass er belogen worden war, entließ Marsalek jedoch nicht, sondern nahm ihm nur seinen schönen Titel weg und degradierte ihn. Der Flop bedrohte die Existenz des Unternehmens, war aber ironischerweise die große Chance für Markus Braun, bei Wirecard einzusteigen.
Braun, geboren am 5. November 1969, stammt wie Marsalek aus Wien. Der Sohn einer Gymnasiallehrerin und eines Volkshochschuldirektors hat in seiner Heimatstadt Wirtschaftsinformatik studiert. 1995 heuerte der Jungakademiker bei einer Wiener Unternehmensberatung an, die ihm den nötigen Freiraum einräumte, um seine Dissertation abschließen zu können. Mit viel Energie und Ehrgeiz gelang es ihm auch. »Zu beweisen, dass ich schwierige Situationen durchstehe, ist für mich eine Selbstbestätigung«, sagt Braun. Seine Doktorarbeit handelte von einem Modell, mit dem sich die Geschwindigkeit von Computerprogrammen vorhersagen lässt. Eine wissenschaftliche Karriere wollte er dann aber doch nicht machen, die reine Theorie war ihm bald zu langweilig.12
1998 ging Braun zur Unternehmensberatung KPMG Consulting nach München.13 Die schickte ihn im Oktober 2000 zu Wirecard, um die Scherben zusammenzukehren. Braun hinterließ einen so guten Eindruck, dass er gleich als Chief Technology Officer von Wirecard abgeworben wurde. »Immer nur kluge Ratschläge zu geben, und am Ende tragen die anderen die Verantwortung, das hat mir auf Dauer nicht gefallen. Ich wollte selbst die Verantwortung tragen.«14
Kurz zuvor, im März 2000, war die Spekulationsblase der New Economy geplatzt. Sogenannte Dotcom-Unternehmen hatten mit fragwürdigen Geschäftsmodellen auf der Basis des boomenden Internets agiert. Auch Wirecard geriet ins Schlingern. Im Oktober 2001 trat ein risikofreudiger junger Unternehmer, der bei Wirecard einsteigen oder die Firma ganz übernehmen wollte, an Braun heran. Paul Bauer-Schlichtegroll betrieb ein ähnliches Geschäftsmodell wie Wirecard. 1998 hatte er die Firma »Entertainment Print Media« (EPM) AG gegründet. Als Geschäftszweck ließ er ins Handelsregister eintragen: »Produkte und Vertrieb von Medien und Entertainmentprodukten aller Art«. Die Gesellschaft bot Erotikfilme und Pornobildchen im Internet an. Abgerechnet wurde über sogenannte Dialer, die Verbindungen zu teuren 0190-Sonderrufnummern aufbauen. Eine Minute Pornogucken kostete bis zu 3,63 Mark (1,86 Euro). Außerdem vertrieb EPM die deutsche Ausgabe des US-Erotikmagazins Hustler. Doch vor allem das Online-Geschäft mit pornografischen Seiten und die dafür notwendige Zahlungsabwicklung rückten in den folgenden Jahren immer mehr in den Vordergrund der Geschäftstätigkeit. Die Firma wurde deshalb in Electronic Billing Systems (EBS) umbenannt.
Kurz nach Bauer-Schlichtegrolls Offerte geschah bei Wirecard Dubioses. Kolportiert wird, dass bei einem Einbruch in die Geschäftsräume von Wirecard im November 2001 Brauns und Marsaleks Laptops gestohlen wurden. Die darauf gespeicherten Daten und Dokumente wurden anschließend bei EBS vermutet. Auf jeden Fall verlor Wirecard mit diesen Unterlagen seinen technologischen Vorsprung und musste Insolvenz anmelden.
Wirecard-Mitbegründer Hoppenrath, der zwischenzeitlich, bis Oktober 2001, in den Aufsichtsrat gewechselt war, erstattete im Januar 2002 Strafanzeige gegen den Vorstand, den er verdächtigte, die Insolvenz bewusst herbeigeführt und so die Fusion von Wirecard und EBS vorbereitet zu haben. Die kam dann auch rasch zustande. »Mit Datum 16. Januar 2002 wurde ein sorgfältig geplanter Deal rechtswirksam«, verkündete die neue EBS Holding: »Der Merge der EBS Electronic Billing Systems AG und Wirecard AG ist perfekt.« Unter dem Dach einer EBS-Holding würden EBS und Wirecard »eine konsequente Zwei-Marken Strategie verfolgen, welche eine Umverteilung der Marktanteile im Internet Payment Business bewirken wird«. Die 70 »hochqualifizierten Mitarbeiter aus beiden Teams« würden künftig »an einem Strang ziehen und neue Synergien schaffen«.15
Braun wurde Vorstandschef, Marsalek Chief Technology Officer unterhalb der Vorstandsebene. Nach Bauer-Schlichtegrolls Ausstieg formten sie das Unternehmen nach ihrem Gusto. 2004 ging EBS in Wirecard auf. Im März 2005 nutzte Wirecard die Infogenie AG, einen nahezu insolventen Call-Center-Betreiber, als Börsenmantel. Die wertlose Firma hatte einen einzigen Vorzug: Sie war bereits an der Börse notiert und konnte als Hülle dienen, um etwas Undurchsichtiges darin zu verpacken. Bevor ein Unternehmen an die Börse darf, muss es normalerweise viele Unterlagen einreichen, die Banken durchleuchten die Bilanzen. Wirecard ließ sich von Infogenie übernehmen, um selbst aufs Börsenparkett zu gelangen. So konnte Wirecard neue Aktien ausgeben, ohne umfassenden Einblick in seine Bücher gewähren zu müssen.16 Braun begründete diesen »Börsengang durchs Hintertürchen« (Der Aktionär) damit, dass ein klassischer Börsengang »mit höheren Kosten verbunden« und »im derzeitigen Kapitalmarktumfeld nur mit hohen Wertabschlägen durchführbar« gewesen wäre.17 Das vereinte Unternehmen firmierte nun als Wirecard AG.
Die 1996 gegründete und in Berlin ansässige Infogenie AG hatte ihr Geld ursprünglich wie Bauer-Schlichtegrolls EBS mit der Abzocke durch kostspielige 0190-Nummern verdient. Später vertrieb die Firma vor allem Online-Glücksspiele und Webseiten mit pornografischem Inhalt. Genau in diesem Segment tummelte sich auch Wirecard. Die Kunden hießen asiasex.com, sex-luder.com oder später youporn.com.18 Die »Entertainmentangebote« waren Anfang der 2000er-Jahre »schlicht die ersten Onlineangebote, für die Kunden in Echtzeit bezahlt haben, die Marktanteile entsprechend groß«, sagt Braun.19
Wirecard ist so etwas wie ein deutsches Pay-Pal – mit einem Unterschied: PayPal richtet sich an den Kunden, Wirecard an den Händler. Daher blieb der deutsche Zahlungsdienstleister einer breiteren Öffentlichkeit unbekannt. Die Tätigkeit von Wirecard heißt im Fachjargon »Acquiring«. Wenn der Kunde mit seiner Kreditkarte im Netz bezahlt, landet das Geld nicht direkt beim Händler, sondern zunächst beim Acquirer, also bei Wirecard. Dessen Funktion besteht darin, dass er die Bonität des Kunden garantiert und bei einem Zahlungsausfall einspringt. Für das damit verbundene Risiko erhält der Acquirer eine Gebühr von durchschnittlich etwa zwei Prozent des Kaufpreises.
Das Geschäft mit dem Acquiring war in Deutschland immer Sache der Banken gewesen. Mit dem Aufstieg des Online-Shoppings änderten sich die Spielregeln. Früher hatte der Händler seine Hausbank. Es wurde gegen Rechnung, Vorauszahlung oder per Nachnahme bezahlt. Der Acquiring-Prozess ist im E-Commerce komplexer als im stationären Handel. Das hat technische Gründe: Im Internet geht es nicht mehr nur um die Kreditwürdigkeit des Kunden, sondern auch um die Frage: Was geschieht, wenn der Händler nicht liefert? Die Banken brauchten zu lange, um sich darauf einzustellen.20
Die Nische besetzten IT-Unternehmen, die Plattformen und eigene Software für die Abwicklung im Zahlungsverkehr entwickelten. Im Internet geschieht alles in Echtzeit. »Dafür müssen Daten verknüpft und verifiziert werden«, erläutert Markus Braun. »Das hatte eine klassische Bank nicht so im Blick. Wir haben das technologisch umgesetzt und uns direkt an die Händler gewandt. Das ist das disruptive Element.«21
Wirecard regelt das bargeldlose Bezahlen. Egal ob Menschen mit Smartphone, Giro- oder Kreditkarte ihre Rechnung begleichen, ob sie es online tun oder an der Ladenkasse – der Finanzdienstleister sorgt dafür, dass die Händler ihr Geld bekommen. Das Unternehmen kümmert sich nicht nur um die elektronische Überweisung, sondern geht für die Händler und deren Kunden auch ins Risiko. Während der Käufer im Onlineshop seine Daten und die Kreditkartennummer eingibt, erkennt Wirecards Software, ob der Kunde vertrauenswürdig ist. Wenn nicht, wird die Zahlung blockiert. Scheint alles in Ordnung, wird der Kaufpreis, zum Beispiel 100 Euro, von der Kreditkartenfirma zu Wirecard transferiert, das nach einigen Tagen 95 Euro an den Händler weiterleitet. Der Rest bleibt als Pfand. Erst wenn der Händler dem Kunden das Produkt zugesandt hat, überweist Wirecard die volle Summe abzüglich einer Gebühr: 0,3 Prozent für die technische Abwicklung des Bezahlvorgangs und zwischen 0,7 und 1,5 Prozent für die Absicherung der Überweisung; dafür erhält Wirecard auch die Kundendaten. Geht der Verkäufer pleite oder hat er schadhafte Ware geliefert, haftet Wirecard. Mit jeder Transaktion wächst der Datenpool, wodurch sich die Risiken besser einschätzen lassen.
Mit der Übernahme der XCOM-Bank, einem Einlagenkreditinstitut im niederrheinischen Willich, das dann in Wirecard-Bank umbenannt wurde, erhielt der immer noch kleine Zahlungsdienstleister 2006 eine Banklizenz. XCOM war ein Softwareunternehmen, spezialisiert auf Lösungen in den Sparten Börsenhandel, Börsenabwicklung, Elektronic Banking, Datenlogistik und Datenkommunikation. Wieder war es, wie beim Unterschlupf bei Infogenie, eine Hintertür, die zu einer eigenen Bank führte. Aber nun konnte Wirecard Verträge mit Kreditkartenorganisationen wie Visa und Mastercard abschließen, Verbraucher mit Giro- und Kreditkarten versorgen und Darlehen gewähren. Außerdem wurden Zusatzdienste wie Datenanalysen und Kundenbindungsprogramme angeboten.22
Die Gewinnmarge für Wirecard ist gering, aber die Masse machts. Je mehr Einzelhändler, Hotelketten oder Reiseportale der Zahlungsabwickler als Kunden gewinnt, desto ertragreicher läuft das Geschäft. Deshalb war das Geschäftsmodell von vornherein auf Wachstum angelegt. Wirecard akquirierte namhafte Partner, die zum Aushängeschild werden. Viele von ihnen spielen in der ersten Unternehmensliga: Aldi und Ikea, Apple und Air France-KLM. Deren Glanz sollte abfärben auf das mit Zahlungen für Pornografie und Glücksspiel groß gewordene Unternehmen.
Klaus Rehnig, ein ehemaliger Verlagsmanager und Mitbegründer der EBS Holding, war von 2002 bis 2008 Aufsichtsratschef bei Wirecard. Er beschreibt Markus Braun als »Workaholic« und einen »von Ehrgeiz und Perfektion besessenen Erfolgsmenschen«.23 In den Anfangsjahren wirkte Braun zurückhaltend, manchmal verklemmt. Wenn er vor Angestellten eine Rede halten musste, verhaspelte er sich oft. Er wirkte blass und spröde. Öffentlich zeigte er sich ungern. Er gab den bescheidenen Visionär.
Im Laufe der Jahre änderten sich Habitus und Lebensstil. Er führte das Unternehmen nach Gutsherrenart, behandelte Mitarbeiter gefühlskalt und launisch, wurde statusfixiert und schwelgte in Luxus. 2006 kaufte er im Wiener Nobelviertel Hietzing eine Gründerzeitvilla, in München lebte er in einer Etagenwohnung in einem prächtigen Jugendstilbau in Bogenhausen. Im österreichischen Kitzbühel erwarb der passionierte Skifahrer 2013 für 11,7 Millionen Euro ein Haus am Hang, in Ramatuelle am Golf von St-Tropez besitzt er ein Anwesen mit Pool. Sein Immobilienvermögen wird am Ende auf mehr als 30 Millionen Euro geschätzt. Er reist im Privatjet, die Enge und die fremden Leute in den Linienmaschinen mag er nicht. Zwischen München und Wien lässt er sich von seinem Fahrer in einer Maybach-Limousine chauffieren, meist am Montagmorgen hin und am Donnerstagabend zurück.24
Seit dem Börsengang 2005 kauft Braun ständig weitere Aktien des eigenen Unternehmens. Unklar ist, woher er das Geld dafür hat. Seine Vorstandsgehalt – es klettert am Ende bis auf 3,5 Millionen Euro – reicht dafür nicht aus. Er hält schließlich sieben Prozent der Anteile an der Firma.
Braun versprach Investoren bei jeder Gelegenheit: »Wir haben Großes vor.« Als Wirecard 2006 in den TecDax aufstiegt, den Aktienindex für Technologiefirmen, gab Braun sofort die Parole aus, er wolle in den Dax-30 aufsteigen, die erste Liga an der Börse. Braun, der gern wie Apple-Gründer Steve Jobs im schwarzen Rollkragenpullover auftritt, drischt Phrasen, die nach ScienceFiction und Weltverbesserung klingen.
Dabei soll Wirecard schon 2005 defizitär gewesen sein. Das behaupte ein ehemaliger Vorstand, schreibt Heiner Thorberg, einer der profiliertesten deutschen Personalberater, 2020 im Manager Magazin. Bereits 2008 habe dieser »den Aufsichtsratsvorsitzenden darüber informiert, dass die vom Unternehmen publizierten Daten nur durch massive Manipulationen an der Buchhaltung entstanden sein konnten«. Die dadurch angeblich ausgelöste Diskussion mit dem Vorstandsvorsitzenden Braun sei aber im Sande verlaufen. Es habe »keine Reaktion vom Aufsichtsrat« gegeben, »genauso wenig wie nach all den anderen Vorwürfen, egal von wem«, die seit 2008 immer wieder neu hochkamen, moniert der Spezialist für Corporate Governance.25 Klaus Rehnig trat 2008 als Aufsichtsratschef zurück, bestreitet aber einen Zusammenhang mit den Vorwürfen der Bilanzfälschung.26
Am 4. März 2008 musste Wirecard eine Adhoc-Meldung herausgeben, dass die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung (DPR) im Konzernabschluss 2005 Fehler entdeckt hatte. Davon, hieß es in der Mitteilung, habe das Unternehmen im Oktober 2007 erfahren. Die privatrechtlich organisierte »Bilanzpolizei« DPR hat obendrein, wie Wirecard offenbaren musste, der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) zum ersten Mal über Unregelmäßigkeiten in der Wirecard-Bilanz berichtet. So sehen es die Regeln zwischen den beiden Institutionen vor.
Die BaFin forderte daraufhin Wirecard auf, den Fehler publik zu machen. Beanstandet wurde, dass die EBS für die Wirecard Technologies AG über eine Kapitalerhöhung mehr als 42 Millionen Aktien für 2,18 Euro erhielt. Der hohe Kaufpreis ließ sich für die DPR nicht nachvollziehen, Angaben zu Vermögenswerten oder Schulden fehlten. Trotzdem gab Wirecard im Geschäftsbericht 2005 an, rund 43 Millionen Euro mehr bezahlt zu haben, als das Eigenkapital der Wirecard Technologies AG wert war. Der Geschäftsbericht lieferte keine Begründung für den Aufpreis. Nach der Rüge der DPR gab Wirecard in der Adhoc-Meldung eine nachträgliche, aber schwammige Erklärung: Die immateriellen Vermögenswerte der übernommenen Wirecard Technologies AG seien Verträge mit Drittpartnern, Kundenportfolien und Software gewesen. Doch eine nähere Begründung für den stattlichen Kaufpreis auf Kosten der Aktionäre – bei einer Kapitalerhöhung verlieren deren Anteile an Wert – blieb Wirecard schuldig.27
Kaum hatte das Wirecard-Management den DPR-Tadel erfolgreich weggesteckt, kamen neue Vorwürfe hoch. Auf dem deutschen Finanzportal Wallstreet Online veröffentlichte am 1. Mai 2008 ein anonym gebliebener Hobbybörsianer unter dem Pseudonym memyselfandi007eine kritische Analyse zur Wirecard-Aktie. Alles sehe nach gezielter Ausplünderung der Erlöse aus den Kapitalerhöhungen aus, schreibt er. Das Unternehmen kaufe Firmen zu überhöhten Preisen. Gemeint war der Erwerb der Münchner Beteiligungsgesellschaft Trustpay 2007 für rund 43 Millionen Euro. Wirecard drohte dem Blogger eine Klage an und wurde zur Polizei vorgeladen. Die sah jedoch keinen Grund zum Eingreifen und verriet seine Identität nicht. Für memyselfandi007 stand dennoch fest: »Wirecard öffentlich zu kritisieren, das sollte man tunlichst sein lassen, sonst geht das nicht gut aus.«28
Im Juni 2008 kam es auf der Wirecard-Hauptversammlung zu einem Eklat. Vorstandsmitglieder der Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) behaupteten, die Bilanzen des Unternehmens seien irreführend. Die Ertragslage der Banksparte sei intransparent, zudem verschleiere die Firma Erträge aus der Abwicklung von Online-Wettgeschäften. Das Unternehmen sei überbewertet. Die Aussage fand ein großes Echo, die Wirecard-Aktie verlor massiv an Wert. »Sollten sich die Vorwürfe als richtig erweisen«, prognostizierte der freie Wirtschaftsjournalist Thomas Hammer in der Zeit, »kann sich die Schutzgemeinschaft ... rühmen, den Knackpunkt als Erste gefunden zu haben.«29
Wirecard-Chef Braun wetterte, die SdK habe sich »zur Anheizung von Gerüchten ... instrumentalisieren lassen. Im Zusammenwirken mit Hedgefonds wolle sie die Aktie systematisch nach unten treiben.30 Wirecard kam zupass, dass Braun damit ins Schwarze traf. Es kam heraus, dass der stellvertretende Vorsitzende der SdK schon einige Wochen zuvor begonnen hatte, mit Derivaten auf einen fallenden Aktienkurs zu wetten. So konnte das Unternehmen von eigenen Fehlern ablenken und die öffentliche Meinung hinter sich bringen: Hier die deutsche Technologiehoffnung, dort die bösen Spekulanten.
Das bekam auch der Münchner Aktieninvestor Tobias Bosler zu spüren. Er hatte bei einer Analyse der Jahresabschlüsse vor 2008 festgestellt, dass Wirecard zwei Drittel des Umsatzes in Deutschland erzielte, dort jedoch Verluste schrieb. Die Gewinne kamen aus Gibraltar und von den britischen Virgin Islands. Bosler wusste: »Dort sitzen typischerweise Glücksspielanbieter.« Zudem wies Wirecard im Vergleich zu Konkurrenten bis zu zehn Mal höhere Gewinnmargen auf. Das machte Bosler stutzig. »Der schwache Cashflow wirkte aufgebläht.« Bosler sprach mit Wettbewerbern und Partnern von Wirecard. Ihm war »klar, dass hier Betrug im Spiel ist«.
Ende 2008, berichtet Bosler, hätten ihm am Rande einer Wirecard-Party auf dem Münchner Oktoberfest amerikanische Geschäftspartner von Wirecard erzählt, dass Wirecard illegale Geschäfte betreibe; das wisse »fast die gesamte Payment-Branche«. Mitte 2009 traf Bosler zufällig einen ehemaligen Wirecard-Mitarbeiter, der seine Vermutung bestätigte: Es sei seit mindestens 2006 gängige Geschäftspraxis, in den USA verbotene Einzahlungen von Privatpersonen über Kreditkarten auf Onlinepoker-Konten zu ermöglichen. Dazu würden im Auftrag von Wirecard-Leuten weltweit unscheinbare Online-Unternehmen wie etwa Blumenlieferdienste oder Handyshops gegründet, über die dann die Einzahlung laufe. Um den tatsächlichen Geldfluss zum Pokeranbieter zu tarnen, würden die Kreditkartenbelege auf die Blumenläden ausgestellt. Wie genau der Geldfluss hinter den Kulissen organisiert war, durchschaute Bosler allerdings nicht. Aus Angst vor Repressalien habe sein Informant seinen ehemaligen Arbeitgeber nicht angezeigt, und auch als Zeuge vor Gericht habe er sich nicht zur Verfügung stellen wollen. Bosler brauchte also einen anderen Beweis.
Im Frühjahr 2010 sei ein Mitarbeiter aus der Bezahldienst-Branche unerwartet auf ihn zugekommen und habe ihm erzählt, dass Wirecard Strafzahlungen über 16 Millionen Euro wegen der Umcodierung bei Kreditkartenzahlungen für Online-Glücksspiel an Mastercard zu zahlen habe. Das war damals viel Geld für Wirecard, der Gewinn lag bei 60 Millionen Euro. Daraufhin stellte Bosler Strafanzeige bei der Münchner Staatsanwaltschaft und bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin). Unklar ist, ob die BaFin der Anzeige jemals nachgegangen ist; die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen 2012 ein, da »ein Tatnachweis nicht zu führen« sei. Stattdessen wurde Bosler angeklagt, weil er an der Veröffentlichung von Börsenbriefen mitgewirkt hatte, in denen er auch Informationen über Aktien lieferte, die er selbst besaß. Er hätte daher die Leser deutlicher aufklären müssen, dass er als Mitverfasser der Artikel selbst Aktien hielt. Bosler wurde wegen Kursmanipulation verurteilt, wenn auch nicht im Fall Wirecard, sondern bei anderen Unternehmen.31
Gegen Kritiker wie Bosler setzte sich Wirecard bisweilen auch mit robusten Methoden zur Wehr. Der ehemalige Profiboxer Ahmet Öner, den Wirecard-Aufsichtsrat Paul Bauer-Schlichtegroll nun als Promoter sponserte, wurde 2008 nach München geschickt, um auf Bosler einzuwirken, der in Onlineforen Wirecard attackiert und damit den Aktienkurs nach unten gedrückt hatte. Öner, ehemals Internationaler Deutscher Meister im Halbschwergewicht, stattete Bosler einen Besuch ab. Er habe keine Gewalt angewandt, beteuert Öner, »wir haben nur geredet«.32 Bosler hingegen fühlte sich »massiv bedroht«.
Am 1. Dezember 2015 veranstalten Polizei und Staatsanwaltschaft eine Razzia in der Wirecard-Zentrale in Aschheim. Die »groß angelegte Durchsuchungsaktion«, wie es in den Dokumenten heißt, erfolgt auf ein Rechtshilfe-Ersuchen von US-Behörden, die wegen des Verdachts der Geldwäsche ermitteln. Es geht um illegale Transaktionen für Online-Casinos. Seit 2006 ist es Banken und Kreditkartenfirmen verboten, Glücksspieltransaktionen in den USA durchzuführen. Damit soll den Internet-Casinos der Garaus gemacht werden. Da jedoch die USA der weltweit größte Markt für Online-Glücksspiele sind, ersannen einige Zahlungsdienstleister aufwändige Verfahren, um die ungesetzlichen Transaktionen zu tarnen, damit Kreditkartenfirmen wie Visa und Mastercard sie nicht identifizieren können. Es ist der Trick, den Tobias Bosler schon 2010 angezeigt hat.
Dass Wirecard seit Mitte der Nullerjahre zu den führenden Dienstleistern zählt, die InternetCasinos beim Aushebeln der US-Gesetze helfen, ist in der Branche ein offenes Geheimnis. Um die Zahlung der Einsätze zu tarnen, werden oft eigens gegründete Fake-Internetshops für Blumen oder andere Produkte genutzt, die auf den Kreditkartenabrechnungen der Spieler auftauchen. Personen aus dem Wirecard-Umfeld kontrollieren die Abläufe.
Umsätze der Online-Spielplattformen sind, etwa auf den Kreditkartenabrechnungen, mit dem Handelscode 7995 gekennzeichnet. Der für die Bekämpfung von Finanzkriminalität zuständige Secret Service bemerkte, dass die Umsätze in der Floristikbranche mit dem Handelscode 5992 erheblich zugelegt hatten, und leitete Ermittlungen ein. Den Verdacht, dass Wirecard Umsätze über Blumenläden umcodieren konnte, nährte ein Schreiben von Mastercard, das im Internet kursierte. Das Kreditkartenunternehmen warf darin Wirecard-Händlern und der Wirecard-Bank vor, »abgelehnte Internet-Glücksspielverkäufe an ein alternatives, falsch codiertes Händlerkonto weiterzuleiten, das dann genehmigt wird«. Wirecard behauptete gegenüber der Staatsanwaltschaft, dass der Brief von Mastercard gefälscht sei. Die Staatsanwaltschaft unterließ es, die Echtheit des Schreibens prüfen zu lassen.33
Wirecard beauftragte die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY) mit einer Sonderuntersuchung der Jahresbilanz 2007. Anschließend teilte das Unternehmen mit, EY habe »einzelne Punkte angesprochen«, die jedoch »die Aussagekraft und Richtigkeit des Konzernabschlusses und des Konzernlageberichtes 2007 nicht wesentlich beeinträchtigen« würden. Insgesamt hätten sich »keine Hinweise auf irreführende Angaben im Konzernabschluss bzw. Konzernlagebericht 2007 ergeben«.34 Seit 2008 segnet EY alle Wirecard-Bilanzen ab.
Mit der Trustpay-Übernahme begann eine Serie von Zukäufen, die immer nach demselben Muster abliefen. Stets im Herbst kaufte Wirecard eine erst zu Jahresbeginn gegründete Beteiligungsgesellschaft, vornehmlich im Ausland. Sie saßen in Gibraltar, Irland, Indonesien, in weiteren asiatischen Ländern wie den Philippinen, in der Türkei, Südafrika, Neuseeland, Indien, Brasilien und Rumänien. In vielen dieser Länder ist die Steuerpolitik lax, ordentliche Handelsregister gibt es nicht. Die Herkunft und Eigentümerstruktur lässt sich so vertuschen – und damit auch, wohin die immer größer werdenden Millionenbeträge fließen. Über Kaufpreisgewinne erhöhte Wirecard nach und nach auch den eigenen Unternehmenswert. Aber trotz des enormen Eigenkapitals und der angeblich üppigen Gewinnmargen nahm das Unternehmen fast jedes Jahr noch Geld am Kapitalmarkt auf.35