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Kaktusfeigen

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„Latifa! Latifa, komm! Schnell!“ Die grelle Stimme ihres Bruders riss Latifa aus ihrer Versunkenheit. Seufzend löste sie ihre Augen vom Horizont und zwang ihre wild streunenden Gedanken in die Gegenwart zurück. Latifa konnte es sich selbst nicht erklären, aber immer wenn sie auf das Flachdach hinaus trat, wanderten ihre Blicke unwillkürlich zu dem einen markanten Felsen, der sich schroff von der Bergsilhouette am Horizont abhob. Als ob ein Zauber von dort ausginge und ihr irgendwann ein geheimes Zeichen geben müsse. Ein Zeichen nur für sie, das alles schlagartig verändern würde. Etwas Erhabenes, Unwiderrufliches, etwas, das sie aus der Eintönigkeit ihres Daseins herauszuholen vermochte. Latifa wusste selbst nicht, auf wen oder was sie wartete – sie wartete einfach. Meist unbewusst und selbstverständlich, manchmal bewusst und ungeduldig. Diese undefinierbare und doch alles bestimmende Sehnsucht war ein untrennbarer Teil ihrer selbst, war ihr engster Vertrauter geworden.

„Latiiiifa!“ Nur ein leichtes Zucken um ihre Mundwinkel verriet Latifas Unwillen, als das schlanke Mädchen ihr Wäschebündel mit einem geschickten Handgriff zusammenschnürte, den Gesichtsschleier gekonnt über die Nase hochzog und mit behänden Schritten die unebene Treppe vom Dach des Hauses hinunter sprang.

„Ich komme ja schon!“, antwortete sie und verschwand im Dunkel des Wohnturms, wo sie, aus dem grellen Licht der Mittagssonne kommend, zunächst nichts mehr sehen konnte. Aber das musste Latifa auch nicht, kannte sie doch jede der eigenwilligen Stufen, jeden Vorsprung der Lehmmauer, jeden herausragenden Balken selbst im Schlaf.

Unten empfing ihr jüngerer Bruder Ahmed sie mit strengem Gesicht. „Wo bist du bloß gewesen? Der Vater kommt gleich! Wir haben das Auto schon im Wadi gesehen und die Mutter braucht dich, du musst doch noch die Hilbe zubereiten!“ Zufrieden, eine Rüge ausgeteilt zu haben, wartete Ahmed keine Antwort ab, sondern zog sich in den Diwan zurück, wo er am Fenster sitzend ungeduldig die Ankunft des Vaters erwartete. Wie die meisten Jungen aus den Bergen war auch Ahmed klein und drahtig, seine glänzenden schwarzen Locken waren kurz geschnitten und seine sanften braunen Augen passten nicht so recht zu dem herrischen Auftreten, das er den Frauen der Familie gegenüber so gerne an den Tag legte. Doch der ganze Stolz des Vierzehnjährigen war der kleine schwarze Flaum, der sich seit Kurzem auf seiner Oberlippe zeigte. Seitdem fühlte er sich erst recht als der Mann im Haus und Latifa musste oft insgeheim über den einen Kopf Kleineren lachen, wenn er sich ihr gegenüber mal wieder als Vormund aufspielte.

Sie hatte das Wäschebündel im Vorbeigehen in eine der kleinen Schlafkammern geworfen und trat jetzt, den Kopf duckend, durch eine niedrige Tür in die Küche des Hauses. Der Qualm des offenen Reisigfeuers war so stark, dass Latifa sofort die Tränen in die Augen schossen. Amina, ihre Mutter, war gerade damit beschäftigt, dünnflüssigen Hirseteig auf die flache Pfanne über dem Feuer zu gießen. Hirsepfannkuchen gab es fast täglich und sie waren frisch gegessen eine Köstlichkeit. Heute aber standen auch noch verschiedene andere Töpfe auf dem kleinen Gasbrenner und das Pfeifen des Schnellkochtopfs verriet ebenso wie der Duft in der kleinen verrußten Küche, dass es sogar etwas Fleisch geben würde! Eines der schmächtigen Hühner, die sowieso fast nie Eier legten, hatte wohl daran glauben müssen.

„Latifa, endlich. Wo hast du nur gesteckt? Wir sind doch noch gar nicht fertig, Kind! Schnell, die Tomaten müssen gerieben werden, die Hilbe ist noch nicht geschlagen und dein Vater wird jeden Augenblick eintreffen!“ Die Mutter zeigte mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Tomaten, wischte sich mit dem Handrücken rasch den Schweiß von der Stirn wandte sich dann gleich wieder dem Brot zu.

Latifas Vater kam stets nur an den Wochenenden nach Hause und dann musste alles perfekt sein. Er war ein angesehener Mann im Dorf, da er als stolzer Besitzer eines kleinen Geländewagens Lebensmittel, Menschen und Tiere vom Dorf in die Stadt transportierte und umgekehrt. Außerdem hatte der Vater einen Teil seiner Jugend in der Provinzhauptstadt bei Verwandten verbracht und dort sogar ein paar Jahre die Schule besucht. Weil er deshalb nicht nur eine ganze Reihe von Koransuren auswendig konnte, sondern auch ein wenig zu lesen und schreiben verstand, hatte man ihn im Dorf sogar zum Vorbeter erkoren.

Latifa hatte ihren Vater jedoch noch nie lesen oder schreiben gesehen. Was sie sah, war der strenge Blick, mit dem er die Mutter tadelte, wenn das Essen nicht rechtzeitig fertig wurde. Und was sie sah, war der Beutel voller Qat, den er ihr wortlos zuwarf, damit sie die Blätter gründlich reinige, bevor er sie am Nachmittag in der Runde der Männer einzeln vom Stängel pflückte, zusammenrollte und in seine Backe schob, um sie dann stundenlang zu kauen, hin und wieder den bitteren grünen Speichel in einen der bereitstehenden Spucknäpfe spuckend – welche wiederum Latifa später am Abend zu reinigen hatte.

Die Woche über arbeitete der Vater als Taxifahrer in der Stadt, von wo aus er dann Donnerstagmittags mit voll beladenem Pick-up-Truck hupend ins Dorf zurückkam. Ungeduldig erwartet von einer bunten Horde kleiner Kinder, die aufgeregt um das Auto herum wuselten und mit großem Hallo die mit den Wocheneinkäufen nach Hause kommenden Väter begrüßten. Jede der kleinen Hände wollte helfen etwas zu tragen, um irgendwie dem Reichtum nahe zu kommen, der in Säcken, Tüten und dreckigen Tüchern verpackt zwischen den Männern auf der Ladefläche gestapelt war. Nicht selten stellte jemand dann zu Hause fest, dass etwas, von dem er sicher war, es gekauft zu haben, sich einfach nicht mehr in der Tasche finden ließ. Und manchmal bekam eine der vielen Tüten plötzlich einen Riss und im Nu hatten die kleinen schmutzigen Kinderhände die Bananen, Tomaten oder Gurken aus dem Staub gefischt und kleine nackte Füße waren triumphierend hinter dem nächsten Felsen verschwunden.

Felsen, die gab wahrlich es genug in Latifas Dorf. Wie ein Adlerhorst klebte es hoch oben an der Flanke einer der vielen schroffen Berggipfel, welche diese Gegend prägten. Ein trockener Wind fegte den Staub durch die schmalen Pfade zwischen den kleinen aus roh behauenen Natursteinen gemauerten Häusern, aus deren windschiefen, aus alten Brettern oder flach gehämmerten, aneinander genagelten Blechbüchsen zusammen gezimmert Türen, Esel oder Schafe hinaus blickten. Dieses Dorf war arm, genauso wie alle anderen Dörfer in der Umgebung auch. Jedes ohne Strom, ohne Wasser, ohne Laden, ohne Schule. Die ganze Woche über gab es hier nur Frauen, viele barfüßige kleine Kinder, ein paar alte Leute und nur ab und zu einen verlorenen Mann, der ohne Arbeit und Würde so unsichtbar war, dass es keinem Risiko gleichkam, ihn mit all den Frauen alleine zu lassen.

Wie die meisten anderen Frauen aus Sharqi war auch Latifas Mutter Amina schon in eben diesem kleinen Adlerhorst aufgewachsen. Sie hatte als junges Mädchen Ziegen gehütet, Wasser in Kanistern aus dem Tal herauf geschleppt, im Sommer mit einer Sichel das dürre Gras von den steilen Hängen geschnitten, trocknen lassen, zu Heuschnüren geflochten und nebenbei ihre vielen Geschwister versorgt. Nach ihrer frühen Heirat ging es gerade so weiter, mit dem kleinen Unterschied, dass sie nun nicht mehr im Elternhaus, sondern in dem der Schwiegereltern lebte. Und, worin die wesentliche Veränderung bestand, dass sie nun abends nach getaner Arbeit nicht mehr einfach müde auf die dünne Matratze sinken konnte, sondern ihrem Mann noch zur Verfügung zu stehen hatte. Damit dieser, wie es schon im Koran heißt, seinen Acker bestellen konnte.

Latifa war das dritte von acht Kindern. Ihre beiden älteren Schwestern waren mit Cousins aus einem Nachbardorf verheiratet, und auch für sie hatte der Vater schon mehrfach Heiratspläne geschmiedet. Bisher waren seine Pläne jedoch stets daran gescheitert, dass die Mutter dann immer gerade wieder schwanger gewesen war, und auf Latifas Hilfe nicht verzichten konnte.

Mit flinken Händen nahm Latifa jetzt einen großen flachen Stein zwischen den Blechnäpfen und Schalen hervor, ging in die Hocke, spülte den Stein rasch mit etwas Wasser ab und begann dann geschickt, Tomaten, Knoblauchzehen, etwas Salz und ein Stück Chilischote mit Hilfe einer zweiten Steinwalze zu zerdrücken und miteinander zu vermengen. Das so entstandene Sahawiq, eine fruchtig scharfe Tomatensoße, wurde in kleinen Mengen mit dem Reis und den in Sauermilch eingelegten Hirsepfannkuchen gegessen. Oder man tunkte einfach frisches Brot in die würzige Tomatensoße hinein. Lecker!

Jetzt ertönte draußen das erwartete Hupen und Latifa vernahm zeitgleich ein Trappeln vieler kleiner nackter Füße. Sie lächelte. Ob der Vater diesmal wohl etwas Besonderes mitgebracht hatte? Zum Beispiel Trauben? Die Traubenzeit sollte doch allmählich begonnen haben! Latifa liebte es, diese kleinen grünen oder blauen Bällchen in den Mund zu schieben, sie dort zwischen Zunge und Gaumen genüsslich zu zerdrücken und ihren süßen Saft die Kehle hinunter rinnen zu lassen! Inzwischen hatte sie das Sahawiq in kleine Blechschüsseln gefüllt und war nun dabei, mit kräftigen Handbewegungen aus dem gequollenen Pulver der Bockshornkleesamen einen festen gelblich-weißen Schaum zu schlagen. Dieser bittere Schaum, die Hilbe, würde dann zum Schluss auf die mit etwas Gemüse angereicherte Fleischbrühe gegeben und als letzter Gang mit Brot gegessen werden. Ohne Hilbe war eine Mahlzeit hier in den Bergen des Nordjemen undenkbar!

So, die letzten Handgriffe waren getan. Mutter und Tochter, die in ihren schwarzen, oben eng anliegenden und unten weiten Kleidern und der ebenso schwarzen Kopf- und Gesichtsverschleierung kaum voneinander zu unterscheiden waren, warteten in der Küche, während die Stimmen und das Gepolter im Treppenaufgang verriet, dass der Vater Besuch mitgebracht hatte. Fragend schauten die Frauen einander an. Ob die Menge des vorbereiteten Essens für Gäste reichen würde?

Da kam auch schon Ahmed hereingestürmt, diesmal nicht als würdevolle Autorität, sondern ganz kindlicher Enthusiasmus: „Papa hat Onkel Hussein mitgebracht und Tante Fatima! Sausan und Hanna sind auch dabei, außerdem noch drei andere Männer und eine alte Frau. Und sie haben ganz viele große Taschen!“ Ahmed strahlte und war schon wieder verschwunden, bevor Mutter oder Schwester noch etwas hätten fragen können.

„Oh Allah!“, stöhnte die Mutter besorgt, „woher sollte ich das nur wissen? Für so viele Leute reicht unser Essen doch nie! Latifa, du musst sofort zu Aischa hinüberlaufen und sie bitten, uns zu helfen! Nimm den Hinterausgang, damit dich keiner sieht! Und beeile dich! Yalla – mach schon!“

Latifa nickte und eilte davon. Die Freude ihres Bruders hatte sie angesteckt: Tante Fatima und die Cousinen! Wie lange war es schon her, seitdem sich die Verwandtschaft auf den beschwerlichen Weg in ihr Dorf gemacht hatte! Wahrscheinlich hatte sie ihre Cousinen das letzte Mal bei der Hochzeit ihrer Schwester gesehen, und die hatte inzwischen schon zwei Kinder! Wie Sausan und Hanna jetzt wohl aussahen? Und was sie für Kleider trugen? Ob sie sich noch immer so gut verstehen würden? Und wie lange sie zu bleiben gedachten? Ruckzuck hatte Latifa ihrer Freundin Aischa die Situation geschildert, die kurzerhand ihr eigenes Brot und ihren Topf Reis mitnahm und wiederum ihre Schwägerin losschickte, um noch mehr Nachbarfrauen zu verständigen. So viel war klar: Heute würde das Haus aus allen Nähten platzen! Denn wenn auch alle Nachbarinnen bereitwillig kamen, um zu helfen, so kamen sie doch auch, um mitzuessen, zu bleiben und teilzuhaben an der Abwechslung, die ein Besuch aus der Stadt mit sich brachte.

Als Latifa gerade in die Küche zurückhuschen wollte, fing ihr Vater sie ab. Er grüßte kurz, hielt sie am Arm fest und musterte seine Tochter kritisch. Dann sagte er: „Geh und wasch dich, Latifa, du bist ja voller Ruß! Zieh dir etwas Sauberes an und begrüße dann deine Tante und die Frauen, sie warten schon im unteren Diwan auf dich. Und denk daran, dich ordentlich zu verschleiern, es sind fremde Männer im Haus!“

„Ja, Vater, natürlich! Aber die Mutter braucht mich erst noch in der Küche!“, entgegnete Latifa. Sie scheute sich, alleine zu den doch fast fremden Frauen zu gehen und dort die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen.

Aber ihr Vater erwiderte unwirsch: „Du tust, was ich dir gesagt habe, verstanden?! Deine Mutter wird auch ohne dich zurechtkommen.“

Latifa nickte gehorsam. Sie lief die Treppe hoch zu der Kammer, welche sie sich mit ihren drei kleinsten Brüdern teilte. Schnell verriegelte sie die Tür, stellte sicher, dass der verschossene, einst blau geblümte Vorhang das kleine Fenster auch richtig bedeckte und holte dann einen großen alten Mehlsack hervor, in dem ihre Kleider verstaut waren. Hastig leerte sie den gesamten Inhalt auf den Boden und begann nervös darin zu wühlen. Doch alle Kleider schienen ihr zu alt! Manche waren definitiv zu kurz oder zu eng, andere hatten Risse oder waren vom Kochen angesengt, hier oder da war der Reißverschluss kaputt. Latifa spürte, wie ihr Tränen der Wut in die Augen stiegen. Ihr Vater hatte gut reden! Was sollte sie denn nur anziehen? Jeder wusste, wie kritisch diese Frauen aus der Stadt waren! Konnte sie etwas dafür, dass sie keine angemessene Kleidung besaß? Schließlich stopfte sie trotzig das ganze Durcheinander wieder in den Sack zurück und tauschte nur ihr schwarzes Kopftuch gegen ein dunkelrotes mit Goldfäden aus. Dieses Tuch hatte sie zum letzten Opferfest vom Vater bekommen und seitdem geschont, es sah noch aus wie neu. Dann goss Latifa etwas Wasser aus einer Plastikflasche auf den Zipfel eines der herumliegenden Tücher, wusch sich damit schnell das Gesicht und befreite auch noch ihr schwarzes Kleid vom gröbsten Staub. Schließlich atmete sie tief durch, versuchte sich zu sammeln und ging langsam die Treppe hinunter zum Frauendiwan.

„Friede sei mit dir, meine Tochter. Bei Allah, wie bist du groß geworden! Wie geht es dir, mein Liebes?“, begrüßte Tante Fatima ihre Nichte und küsste Latifa überschwänglich auf beide Wangen und die Stirn, woraufhin diese der Älteren ehrerbietig die Knie küsste. Auch mit den anderen Frauen wurden Küsse getauscht und auf die stets gleiche Frage: „Wie geht es dir?“ folgte die stets gleiche Antwort: „Al-hamdu li-llah! Allah sei gelobt!“

Latifa fühlte sich angesichts des Interesses, mit dem die älteren Frauen sie bedachten, unwohl. Wie viel lieber wäre sie der Mutter zur Hilfe geeilt oder hätte ihre Bekanntschaft mit den Cousinen erneuert! Und als bald darauf einige Nachbarinnen auftauchten und sofort in eine rege Unterhaltung mit den Städterinnen verfielen, nutzte Latifa die Gelegenheit sofort und gesellte sich zu den beiden Mädchen, die sie freudig in ihre Mitte nahmen.

„Latifa, wir haben uns so gefreut, dass wir mitkommen durften und dich endlich wieder sehen können! Aber der Weg hierher ist ja fürchterlich! Ich habe jetzt bestimmt lauter blaue Flecken!“, sagte Sausan, die ältere der beiden, lächelnd und ihre Schwester Hanna flüsterte theatralisch: „Mich hat Tante Mariam beinah zerquetscht, sie saß halb auf meinem Schoß, so eng war es im Auto!“ Mit einem schiefen Seitenblick auf die besagte Frau fügte sie verschwörerisch hinzu: „Und die Gute wiegt bestimmt hundert Kilo!“

Latifa hielt sich die Hand vor den Mund, um sich ein Grinsen zu verkneifen. Sie wusste nicht recht, was sie denken sollte. Zwar besaß ihr Vater ein Auto, doch sie kannte den Weg in die Stadt nicht, denn er hatte sie noch nie mit dorthin genommen. Eine Frau aus dem Dorf hatte meistens nur dann eine Chance in die Stadt zu kommen, wenn sie ins Krankenhaus musste, doch Latifa war bisher immer gesund gewesen. Konnte die Straße in die Stadt denn so schlimm sein? Außerdem verunsicherte Latifa der Ton, in dem Hanna über die fremde Frau sprach. Hatte man den Mädchen in der Stadt denn nicht beigebracht, Erwachsenen mit Respekt zu begegnen? Latifa musterte ihre Cousinen verstohlen von der Seite. Nachdem sie nun ihre schwarzen Gesichtsschleier abgelegt hatten, erschienen sie ihr noch fremder, ja, kaum wiederzuerkennen! Und mit diesen Mädchen war sie, Latifa, verwandt? Ihre Haut schien so viel weißer, ihr Auftreten so viel erwachsener und selbstsicherer! Bei Sausan lugte unter dem Kopftuch sogar eine blondierte Haarsträhne hervor!

Bei ihrem letzten Besuch vor etwa drei Jahren waren sie gemeinsam noch ausgelassen draußen im Dorf herum gesprungen. Sie hatten erst mit den jungen Ziegen gespielt und dann mit langen Stangen, an deren Ende aufgeschnittene Blechdosen befestigt waren, Kaktusfeigen gepflückt, um sich hinterher lachend gegenseitig die Tausende von kleinen Stacheln aus den Fingern zu ziehen. Wie war das schön gewesen! Am Abend hatten sie zu dritt auf dem Dach unter den Sternen gesessen, sich die Hände und Füße mit Henna verziert und von ihren Träumen erzählt. Latifa seufzte leise. Jetzt erschienen die beiden so gepflegt, so fremd!

Als ob sie Latifas Gedanken lesen könne, stupste Sausan sie an und zwinkerte ihr zu. „Hey, Latifa“, fragte sie lächelnd, „können wir vielleicht nachher noch zusammen hinausgehen? Ich erinnere mich an einen bestimmten Felsvorsprung, auf den wir das letzte Mal geklettert sind. Wie gerne würde ich da noch einmal hin!“

„Natürlich!“, antwortete Latifa erleichtert. Vielleicht hatte sich zwischen ihnen ja doch nichts verändert. „Ihr bleibt doch über Nacht, oder?“

„Aber sicher! Heute Abend ist doch ...“, fing Hanna an, aber Sausan fiel ihr ins Wort.

„Sollten wir nicht endlich deine Mutter begrüßen, Latifa? Sie freut sich doch sicher, wenn wir ihr helfen!“

In der kleinen Küche war es jedoch schon so voll, dass niemand mehr hineinpasste. Kurz erhaschte Latifa einen Blick auf ihre Mutter und erschrak. Warum hatte die Mutter geweint? Sicherlich gab es viel zu tun, aber das war bestimmt nicht der Grund für diese Tränen. Hatte der Vater wieder geschimpft? Sie hatte ihn gar nicht brüllen hören! Latifas Magen krampfte sich unwillkürlich zusammen. Was war nur los? Ob vielleicht Aischa Bescheid wusste? Aber vorerst war es Latifa nicht möglich, mit Aischa zu reden, da das Mittagessen nun begann.

Eine Stunde später waren alle hungrigen Mäuler gestopft. Erst die der Männer, die nun entspannt im obersten Raum des Hauses auf dem Teppich saßen, an bunte, mit Sägespänen gestopfte Kissen gelehnt und rundherum mit einer spektakulären Aussicht aus den fast auf den Boden reichenden Fenstern beschenkt. Doch ihr Interesse galt inzwischen nur noch den Bündeln grüner Qatstängel, die sie behutsam aus Plastiktüten oder Bananenblättern auspackten, fachmännisch beurteilen und hin und her tauschten, um sie dann schließlich innerhalb der nächsten Stunden allmählich in ihren immer praller werdenden Backen verschwinden zu lassen. Qat gehörte zum Leben dieser Männer ebenso wie die Jambiya, der reich verzierte, vor dem Bauch getragenen Krummdolch. Latifa kannte keinen Mann, der sich dem gemeinschaftlichen Qatkauen entzog. Ablenkung, Entspannung, Anregung, was auch immer es war, das sie beim Kauen der Droge empfanden – es schien Männern wie ihrem Vater eine Menge Geld und Zeit wert zu sein.

Ahmed hatte beim Bedienen der Männer geholfen, denn die Frauen durften sich bei fremden Männern nicht blicken lassen. Sogar der Vater selbst war mehrfach aufgestanden und hatte seine Wünsche das Treppenhaus hinuntergerufen: „Wo bleibt das Fleisch? Bringt noch Brot! Auf, macht Tee!“ Erst nachdem die vielen Schüsseln und Schalen abgeräumt worden waren und auch die auf dem Boden ausgebreitete Plastiktischdecke wieder verschwunden war, konnten sich die Frauen um das Essen der weiblichen Gäste kümmern. Hier gab es zwar nur noch wenige kleine Fleischreste, aber Reis, Brot und Hilbe war dank der Nachbarinnen genügend vorhanden. Der kleine Raum, in dem die Frauen saßen, war inzwischen gerammelt voll. Teilweise hatten die Älteren in der zweiten Reihe Platz genommen und mussten den Arm lang machen, um das in flachen Schalen auf der Mitte des Zimmerbodens verteilte Essen zu erreichen. Löffel gab es auch nicht genug, aber im Dorf aß man sowieso am liebsten mit der Hand. Latifa, ihre Mutter und Aischa nahmen fast gar nichts zu sich, zu sehr waren sie beschäftigt dafür zu sorgen, dass kein Gast und auch keine der Nachbarinnen sich vernachlässigt fühlen konnte.

Da die kleineren Kinder sich auch zu den Frauen gesellt hatten, musste Latifa nach dem Essen rasch den kurzen Reisig-Handbesen holen, um die Brotreste und Reiskörner auf dem Teppich zusammenzufegen. Vor der Zimmertür warteten schon ungeduldig mauzend verschiedene dürre Katzen, und auch die Hühner würden sich über die Krümel freuen, die Latifa draußen einfach vor die Tür kippte.

Nun galt es noch, die Töpfe und Blechschüsseln wieder sauber zu schrubben, dann würden auch die Frauen es sich zusammen gemütlich machen. Die Männer waren ja schließlich versorgt.

Noch immer wusste Latifa nicht, weshalb ihre Mutter so bedrückt aussah. Sie war ihren fragenden Blicken stets ausgewichen, und selbst Aischa, die normalerweise nie um eine Antwort verlegen war, hatte auf Latifas Frage hin nur finster die Augenbrauen zusammengezogen und wild den Topf geschrubbt. Fast schien es Latifa, als ob die Frauen ihr lautes Geschnatter in der Küche immer unterbrachen, wenn sie hereinkam. Doch die Anwesenheit der Cousinen war eine solche Freude für sie, dass Latifa ihr Unbehagen schließlich verdrängte und sich ganz den beiden Schwestern widmete.

Die Nachbarinnen waren kurz nach Hause gegangen, um sich umzuziehen. Die Gäste aus der Stadt hatten inzwischen ihre dünnen schwarzen Baltos abgelegt und schillerten plötzlich in leuchtend bunten Kleidern. Nun konnte auch Latifa sich nicht mehr vor dem Umziehen drücken. Eben überlegte sie noch, ob sie sich vielleicht von Aischa etwas ausleihen könne, da wurde das Problem der Kleiderwahl plötzlich auf überraschende Weise für sie gelöst.

„Komm her, Latifa“, rief Tante Fatima sie zu sich, als sie gerade den Tee servierte. „Ich habe etwas für dich.“

Damit drückte sie dem jungen Mädchen eine große Plastiktüte in die Hand, aus der ein Stück dunkelgrünen Stoffes herausschaute.

„Bei Allah, was ist denn das? Ist das tatsächlich für mich? Oh, vielen Dank, liebe Tante!“, rief Latifa und wollte der Tante gleich noch einmal die Knie küssen, was diese aber abwehrte.

Lachend sagte sie: „Gerne, meine Liebe! Und nun, meine Töchter, geht mit und helft Latifa, sich hübsch zu machen!“

So schnell war Latifa noch nie in ihrem Zimmer gewesen! In der Tasche befand sich tatsächlich ein eigens für sie geschneidertes Kleid! Ob es auch passen würde? Kichernd drängten sich mit den beiden Cousinen noch mehrere jüngere Nachbarmädchen in die kleine Kammer. Latifa zog rasch ihr schwarzes Überkleid aus, unter dem sie wie immer noch ein T-Shirt und eine lange leichte Stoffhose trug.

„Dein Vater hat uns gesagt, wie groß und schlank du bist, bestimmt wird es dir passen“, schnatterte Hanna fröhlich drauflos, während Sausan schon dabei war, den langen Reißverschluss in Latifas Rücken zu schließen.

„Bei Allah, du siehst wunderschön aus“, sagte sie dann bewundernd zu dem Mädchen, das schüchtern und stolz zugleich an sich selbst hinuntersah. Das elegant bis auf den Boden fallende dunkelgrüne Kleid war mit zierlichen Ranken aus dünnen Silberfäden bestickt. Doch was Latifa erröten ließ, war das tief ausgeschnittene Dekolleté und die ärmellosen Träger. Wenn der Vater sie so sehen würde! So etwas konnte sie unmöglich tragen, sie war ja fast nackt! Latifa spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Was sollte sie nur tun?

Doch Hanna und Sausan waren ganz in ihrem Element und schienen Latifas Verlegenheit nicht zu bemerken. Die eine zog ihr das Kopftuch aus und kämmte Latifas lange rötlich-schwarze Haare.

„Wie schaffst du es nur, dass deine Haare so lang und dick sind?“, fragte Sausan. „Meine fallen ständig aus!“ Zum Beweis nahm sie ihr Tuch ab und öffnete den dicken Knoten, worauf sich ihre lange schwarze Mähne bis zum Gürtel ergoss. Nur vorne hatte sie einige Strähnen kürzer geschnitten und blond gefärbt.

„Ach was, deine Haare sind doch viel schöner als meine!“, antwortete Latifa und versuchte zu lächeln. Doch dann platze es aus ihr heraus: „Oh, Sausan, dieses Kleid ist wirklich wunderschön, aber ich kann mich doch so nicht sehen lassen! Nicht wahr, Aischa?“, wandte sie sich Hilfe suchend an ihre Freundin, die gerade die Kammer betrat, und zeigte auf ihre nackten Arme.

Aber Sausan lachte nur und schüttelte amüsiert den Kopf. „Ach was, in der Stadt ist das ganz normal! Die Männer sehen dich doch gar nicht. Aber keine Sorge, Cousinchen, ich habe hier noch ein Tuch vom gleichen Stoff, das kannst du dir um die Schultern legen.“ Triumphierend zog sie aus der Tüte eine breite grüne Schärpe, die Latifa dankbar annahm.

Aischa betrachtete das Treiben schweigend. Als sie bemerkte, wie Sausan ein kleines Schminketui aus ihrer Handtasche nahm und sich Augen und Mund in kräftigen Farben zu schminken begann, fragte sie erstaunt: „Du trägst Lippenstift? Das dürfen bei uns nur die verheirateten Frauen.“

„Ich weiß“, erwiderte Sausan und zwinkerte den Mädchen zu „aber zu besonderen Anlässen kann man wohl auch bei euch mal eine Ausnahme machen, oder? Die modernen Mädchen in der Stadt schminken sich alle. Die Alten fangen schon an, sich daran zu gewöhnen. Mama meckert inzwischen auch nicht mehr. Seitdem ich auf dem College bin, ist sie sowieso nur noch damit beschäftigt, mit mir anzugeben. Und inzwischen möchte sie selbst auch nicht mehr so altmodisch sein. Ich bin mal gespannt, ob sie womöglich noch auf die Idee kommt, Jeans zu tragen!“

Hanna und Latifa prusteten los. Unvorstellbar, Tante Fatima mit ihrem mächtigen Busen und den breiten Hüften in Jeans!

Aischa lächelte verhalten und blickte besorgt zu Latifa hinüber.

Als sie wenig später zu viert mit einer Traube kleiner Mädchen im Schlepptau in das Frauenzimmer zurückgingen, fühlte sich Latifa doch wieder beklommen. Irgendetwas stimmte mit Aischa nicht. Außerdem war es Latifa fremd, so im Mittelpunkt zu stehen. Diese ganze Aufmerksamkeit war ihr unangenehm. Tatsächlich löste ihr Eintreten in dem nun schon wieder gut gefüllten Raum ein großes Aha aus. Sie musste sich vor der Tante nach allen Seiten drehen, und auch die fremde Frau, die, wie Latifa nun erstaunt bemerkte, ein Kleid aus dem gleichen Stoff und trotz ihrer Fülle sogar mit dem gleichen Schnitt trug, schien sehr zufrieden zu sein. Mit einer kurzen Handbewegung deutete diese nun einer neben ihr sitzenden Frau an, sich einen anderen Platz zu suchen und zog Latifa zu sich. „Komm her, mein Kind. Ja, so ist’s recht. Wie geht es dir?“

„Allah sei gelobt!“, erwiderte Latifa verlegen. „Und dir?“

„Allah sei gelobt. Ich freue mich, heute hier zu sein! Ich heiße übrigens Mariam. Dein Vater hat uns schon so viel von euch erzählt, Latifa. Er ist oft bei uns, wenn er in der Stadt ist. Mein Mann und er kennen sich schon lange und machen Geschäfte zusammen. Dein Vater ist wie ein Sohn für mich.“ Sie hielt kurz inne und fuhr sich mit der Hand über die Augen. „Ach, weißt du, ich habe nur noch zwei Söhne. Mein ältester Sohn ist vor einem Jahr als Soldat im Bürgerkrieg gefallen. Diese verdammten Huthis, Allah möge sie strafen!“

„Amen“, erwiderte Latifa leise. So etwas hörte sie nicht zum ersten Mal. Der Bürgerkrieg zwischen den sogenannten Huthi-Rebellen und den Regierungstruppen flackerte schon seit Jahren regelmäßig im Norden des Landes immer wieder auf und forderte auf beiden Seiten eine wachsende Zahl an Opfern. Doch ein Ende schien nicht absehbar.

Latifa blickte die ältere Frau mitleidig an, aber ihre Gesprächspartnerin hatte sich nach einem tiefen Seufzer schnell wieder gefangen und legte ihre kräftige Hand auf Latifas Arm.

„Du bist ein nettes Mädchen. Und deiner Mutter sicher eine große Hilfe. Die Arme! So viele kleine Kinder. Und sieht so dünn und schwach aus. Sicher nimmst du ihr viel Arbeit ab.“

„Ja, ich helfe ihr gerne“, antwortete Latifa höflich, obwohl ihr die Bemerkung über ihre Mutter nicht gefiel. Ihre Mutter war zäh, unglaublich fleißig und alles andere als schwach! Aber, und das musste Latifa der Fremden zugutehalten, heute sah sie wirklich angegriffen aus.

„Morgens hole ich das Wasser von der Quelle im Tal und gehe dann die Ziegen hüten“, begann Latifa zu erzählen. „Nach dem Mittagessen kümmere ich mich um das Geschirr und bereite den Brotteig für das Abendessen vor. Dann wasche ich die Wäsche und hole noch mal Wasser.“ Latifas Blick fiel aus dem Fenster auf die steilen Berghänge ringsum. „Ja und im Sommer machen wir natürlich alle zusammen Heu. Ach, es gibt wirklich immer etwas zu tun.“ Mariam nickte bedauernd und Latifa fühlte sich verpflichtet, hinzuzufügen: „Aber zwischendurch habe ich immer wieder mal Zeit, meine Freundin Aischa zu besuchen, sie wohnt direkt neben uns.“

„Nun, da ist das Leben in der Stadt wesentlich einfacher“, erklärte Mariam mit wichtiger Miene. „Du wirst sicher bald einmal kommen und uns besuchen. Es wird dir bei uns gefallen!“

„Oh“, erwiderte Latifa zweifelnd, „ich glaube nicht, dass der Vater mich mit in die Stadt nimmt, das hat er noch nie getan. Und Mutter wäre dann ja ganz alleine mit den Jungen. Die sind ihr keine Hilfe: Spielen nur mit der Steinschleuder herum und machen sich dreckig. Oder fangen Streit mit den Nachbarskindern an, wenn sie nicht gerade gemeinsam irgendeinen Unsinn aushecken!“ Latifa musste über ihre eigenen Worte lachen. Denn obgleich sie sich oft über ihre fünf Brüder ärgerte, so liebte sie doch alle sehr. Besonders Ibrahim, der gerade erst Laufen gelernt hatte.

„Latifa, komm mal bitte zu deiner Mutter!“ Aischa stand an der Tür und bedeutete Latifa, ihr zu folgen.

Latifa nickte Mariam noch einmal lächelnd zu, entschuldigte sich und stand auf.

Beim Laufen musste sie das Kleid ein wenig anheben, um nicht auf den Saum zu treten. Ganz so groß, wie der Vater gesagt hat, bin ich wohl doch nicht, dachte sie und suchte Aischa, die schon wieder verschwunden war. In einem Nebenzimmer sah Latifa ihre Mutter, dort befanden sich auch Tante Fatima und einige ältere Frauen aus dem Dorf. Sie unterhielten sich angeregt und rauchten Wasserpfeife.

Als Latifa eintrat, richteten sich wieder alle Blicke erwartungsvoll auf sie.

„Ja, Mutter?“, fragte sie und überlegte, was die Mutter wohl für einen Auftrag für sie haben mochte.

Stattdessen ergriff jedoch Tante Fatima das Wort. „Komm herein, Latifa. Heute ist ein großer Tag für uns alle und insbesondere für dich! Ich darf dir gute Neuigkeiten überbringen: Die Familie Al-Husseini ist mit uns und deinem Vater hierhergekommen, weil sie dich kennenlernen wollten, denn sie möchten dich mit ihrem Sohn Zaid verloben!“

Latifa bekam augenblicklich weiche Knie. So war das also! Jetzt wurde ihr einiges klar: Die Tränen der Mutter, Aischas verstörtes Gesicht, das Kleid. Ja, das Kleid! Am liebsten hätte sie es sich auf der Stelle vom Leib gerissen! Man wollte sie bestechen! Sie versuchte ihrer Mutter in die Augen zu sehen, aber diese blickte betreten zu Boden.

Noch bevor Latifa ihre überkochenden Gefühle in Worte fassen konnte, fuhr die Tante unbeirrt fort: „Mariam ist sehr zufrieden mit dir, meine Tochter. Und, glaube mir, die Al-Husseinis sind eine hervorragende Partie für dich. Du Glückliche! Tausend Segenswünsche! Stell dir nur vor, du wirst in der Stadt wohnen, gar nicht weit von uns. Du wirst uns ständig besuchen können und viel Spaß haben! Denk nur, wie deine Cousinen sich schon auf dich freuen! Ist das nicht wunderbar?! Und natürlich brauchst du nicht mehr so hart zu arbeiten, wirst neue Kleider tragen, zu Frauenpartys gehen ... Ach, mein Liebes, ich freue mich so für dich!“

Latifa starrte ihre Tante entgeistert an. Am liebsten hätte sie geschrien: „Dann verheirate doch eine deiner Töchter mit dem Sohn von Mariam“, doch stattdessen wandte sie sich bittend an ihre Mutter und flüsterte beschwörend: „Mama!“

Nun endlich hob diese langsam den Kopf und sah Latifa ausdruckslos an. „Es ist eine beschlossene Sache, mein Kind. Dein Vater hat mit den Männern schon alles besprochen und besiegelt. Heute Abend wird die Verlobung stattfinden. Ich ...“

„Was?“, schrie Latifa dazwischen. „Das kann doch nicht sein, Mama! Das darfst du nicht zulassen! Mich hat man nicht einmal gefragt! Mama! Ich kenne diese Leute doch gar nicht, das sind Fremde! Oh Mama, ich will noch nicht weg von dir, bitte!“ Mit einem verzweifelten Satz floh Latifa zu ihrer Mutter und warf sich ihr in die Arme, zitternd, ungläubig, wie betäubt. Das konnte doch alles nicht wahr sein! Warum sie? Warum jetzt? Hatte man ihre Schwestern etwa auch so überrumpelt? Schluchzend klammerte Latifa sich an ihre Mutter, voller Verzweiflung und voller Zorn. Würde ihr denn niemand helfen? Dumpf hörte sie, wie die anwesenden Frauen sie zu beruhigend und aufzumuntern versuchten. Nur die Mutter sagte kein Wort. Sie streichelte ihr nur sanft den Kopf und schien selbst mit den Tränen zu kämpfen. Widerwillig vernahm Latifa, wie die Frauen sich gegenseitig im Lob ihres zukünftigen Bräutigams überboten. Es schien ihr lächerlich, wie sie sich zum Anwalt dieses Mannes machten, den sie doch, mit Ausnahme von Tante Fatima, gar nicht kannten! Er sei zweiundzwanzig und gut aussehend. Er sei der Lieblingssohn seiner Mutter und sehr anständig. Habe die Schule abgeschlossen und helfe jetzt seinem Vater bei dessen Geschäften. Man höre nur Gutes von ihm und er gehe freitags immer in die Moschee ... Latifa hielt sich die Ohren zu. Sie wollte nichts mehr hören! Auch dann nicht, als die Frauen schließlich lautstark über das Gold spekulierten, das Latifa zu ihrer Hochzeit als Brautgeschenk zu erwarten habe.

Schließlich begann die Stimmung im Raum zu kippen. Die Frauen murmelten zustimmend, als Tante Fatima Latifas Mutter harsch zurechtwies: „Amina, du hast dieses Mädchen verzogen. Es ist unglaublich, wie respektlos und ungezogen sie sich benimmt! Wie dumm und unverschämt von ihr, sich so gehen zu lassen, anstatt Allah für dieses Geschenk des Schicksals zu danken. Sie sollte sich schämen, bei Allah!“

In diesem Augenblick wurde fest an die Tür geklopft und Latifas Vater kündigte sich an. Schnell bedeckten sich die Frauen mit ihren großen braunen oder schwarzen Tüchern, als Muhammad Hassan Al-Sharqi auch schon eintrat. Mit einem Blick hatte er die Lage erkannt und sagte barsch: „Latifa, steh auf! Du wirst uns keine Schande machen. Ich habe der Familie Al-Husseini gesagt, dass dich ihr Angebot ehrt und du es gerne annimmst. Und genauso wirst du dich jetzt auch verhalten! Bedenke, zu welchem Clan du gehörst! Es kommt bei uns nicht infrage, dass ein junges Mädchen sich den Wünschen seines Vaters widersetzt. Bildest du dir etwa ein, besser zu wissen, was gut für dich ist, als dein Vater? Du nimmst dich selbst viel zu wichtig, Kind! Damit ist jetzt Schluss, die Zeit nutzloser Träumereien ist vorbei, hast du verstanden?! Du gehst jetzt mit deiner Mutter hinüber zu deiner zukünftigen Schwiegermutter, um die Verlobungsgeschenke entgegenzunehmen. Und dann wird gefeiert, so wie es sich gebührt! Soll man etwa in der Stadt über uns sagen, auf dem Dorf wüssten wir nicht, was gute Sitten sind?!“ Er warf der Mutter noch einen warnenden Blick zu, drehte sich um und ging.

Latifa fühlte sich plötzlich wie abgeschnitten von ihrer Umgebung. Eine bleierne Mattheit bemächtigte sich ihrer Glieder und lähmte ihre Gedanken. Das zustimmende Grunzen der Frauen zeigte deutlich, dass Latifa keinen Rückhalt erwarten konnte, falls sie beabsichtigen sollte, sich den klaren Anweisungen ihres Vaters zu widersetzen. Niemanden würde ihr beistehen oder sie unterstützen, nicht einmal ihre Mutter.

„Du hast gehört, was der Vater gesagt hat“, sagte die Mutter leise, aber bestimmt, nahm Latifa an der Hand und zwang sie mit leichtem Druck zum Aufstehen. „Das ist dein Schicksal. Sei tapfer, danke Allah und unterwerfe dich seinem Willen, er wird dich einst dafür belohnen. Allahu akbar – Gott ist der Größte.“

Von nun an ließ man Latifa keine Sekunde mehr aus den Augen. Man erlaubte es ihr nicht einmal, mit Hanna und Sausan alleine zu sein. Tante Fatima und eine Reihe der Nachbarinnen waren mit in Latifas kleine Kammer gekommen, um zuzusehen, wie sie den Koffer mit den traditionellen Verlobungsgeschenken entgegennahm. Während Tante Fatima sich anschickte, den Koffer zu öffnen, versuchte Hanna Latifa aufzumuntern, indem sie davon erzählte, wie sie, Sausan und die Mutter die Verlobungsgeschenke gekauft hatten, da Mariam, Zaids Mutter, nicht gerne in den Suq gehe.

„Und stell dir vor, Latifa, wir haben von allem immer nur das Allerbeste genommen! Hier, schau mal, ich wette, das hattest du noch nie: Zwei Paar Jeans! Und mit besonders schönen Verzierungen! Und da“, Hanna kicherte, „diese Unterwäsche ist der Wahnsinn. Das sieht geradezu verboten aus!“ Latifa blickte verwirrt auf die verschiedenen Kleidungsstücke, die Hanna eines nach dem anderen aus dem Koffer hervorzog und auf ihrem Schoß auftürmte. Was für ein Reichtum! Niemals war sie bisher so beschenkt worden! Zwar hatte sie schon einige andere Verlobungen miterlebt, und auch dort hatten die Mädchen Kleidung, Unterwäsche, Tücher, Schuhe und verschiedenste Kosmetikartikel bekommen, aber nicht in einer solchen Fülle. Plötzlich sollten ihr lauter Dinge gehören, die nicht mal ihre Mutter besaß: Parfüme, Seifen, Öle, ganze Farbpaletten von Lidschatten, Lippenstiften und Nagellacken ... Damit hätte sie das ganze Dorf schminken können! Schließlich holte Hanna noch eine letzte Tüte aus dem Koffer und zog feierlich ein weiteres Festkleid daraus hervor: das Verlobungskleid. Latifa hielt die Luft an und strich bewundernd über den schimmernden Stoff. Vielleicht hatte ihr Vater ja doch recht? Vielleicht war diese Verlobung gar nicht so schlecht? Schließlich hatte sie doch schon immer darauf gewartet, dass sich in ihrem Leben etwas ändern würde. Vielleicht war das nun wirklich ihr von Allah auserwähltes Schicksal?

„So, genug gestaunt, Mädchen“, beschloss Tante Fatima schließlich. „Ich höre schon das Trommeln der Dorfmusikerin. Auf, Latifa, zieh das Verlobungskleid an und lass dich von Sausan schminken! Sie kann dir auch die Haare machen, sie ist eine wahre Künstlerin.“

Von allen Seiten bemühte man sich, Latifa in eine Braut zu verwandeln. Ihre Kleidung, ihr Make-up, ihre Frisur: Sämtliche Entscheidungen wurden von anderen für sie getroffen. Selbst wäre Latifa aber auch zu keinem klaren Gedanken fähig gewesen, deshalb ließ sie einfach alles mit sich geschehen. Nachdem Latifa das goldgelbe, mit Pailletten reich verzierte Kleid angezogen hatte, lackierte Hanna ihr die Nägel, während Sausan begann, mit viel Haarspray und Goldglanz ihre langen Haare zu kunstvollen Nestern auf dem Kopf zusammenzustecken. Dann nahm sie eine Dose mit weißem Make-up und cremte Latifa damit so dick ein, dass ihre Hautfarbe schließlich mehr der einer Chinesin glich als der einer Araberin. Für das Schminken brauchte Sausan eine ganze Weile, aber als sie endlich fertig war und Latifa den Spiegel vorhielt, erkannte diese sich selbst kaum wieder. Sie sah so fremd aus! Wie eine glitzernde zierliche Elfe, die sich aus einer anderen, besseren Welt hierher in dieses staubige, gottverlassene Dorf verirrt hatte. Jetzt nur nicht weinen, dachte sie, tapfer sein! Irgendwie wird schon alles gut, ich muss einfach nur Allah vertrauen. Ob Allah sich allerdings überhaupt für sie interessierte? Sie hatte wohl kaum ein Anrecht darauf, irgendetwas von ihm zu erwarten, denn sie war in ihren Gebeten manchmal nachlässig gewesen und kannte auch kaum einen Koranvers auswendig.

Doch Zeit zum Grübeln blieb Latifa nun nicht mehr. Das Trommeln und Singen war näher gekommen und schon wurde sie von ihren Freundinnen vorangeschoben, durch ein unglaubliches Gedränge im Treppenhaus hindurch, hoch zu dem Raum, in dem vorhin noch die Männer gesessen hatten. Diese waren inzwischen mit ihrem Qat in ein Nachbarhaus umgezogen und hatten diesen größten Raum für die Frauen freigegeben. Aischa hatte am Kopfende des Raumes aus Kissen liebevoll einen kleinen Thron für Latifa aufgebaut, zu dem sie nun unter lauten Segensgesängen, begleitet vom scheppernden Trommeln auf großen Blechschalen, geführt wurde. Der Diwan war voll von Frauen jeden Alters, vom Säugling bis hin zur Urahne saßen sie in bunter Mischung teils nebeneinander, teils beinahe übereinander auf dem Boden. Nur direkt vor Latifa wurden ein bis zwei Quadratmeter freigehalten, auf denen nun je zwei Frauen miteinander die traditionellen Tänze aufführten. Alle Anwesenden schienen sich ausgelassen über die spontane und unerwartete Gelegenheit zum Feiern zu freuen. Keine im Raum schien sich Gedanken zu machen, wie es Latifa zumute war, außer Aischa und vielleicht den Cousinen. Stattdessen hatte ein jede sich fröhlich beeilt, ein glitzerndes Kleid aus irgendeinem Sack oder Karton hervorzuholen, und die Verheirateten unter den anwesenden Frauen hatten stolz ihre goldenen Armreifen und Ketten angelegt und sich farbenfroh geschminkt.

Latifa saß auf ihrem Thron, ihr Kopf dröhnte und in ihrem Nacken bildeten sich kleine Schweißperlen. Sie wusste nicht, wohin sie blicken sollte, denn sie fühlte sich von allen Seiten begutachtet und beobachtet. Krampfhaft versuchte sie, nicht weiter über ihre Situation nachzudenken, denn sie fürchtete sich davor, öffentlich die Beherrschung zu verlieren. Doch es gelang ihr nicht, den dicken Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken. Selbst die Kleinsten der Nachbarmädchen wetteiferten darin, der Braut möglichst nahe zu sein. Sie zupften bewundernd an den Spitzen des Kleides und versuchten, Latifas Frisur zu berühren. Dankbar für diese Ablenkung nahm Latifa schließlich die kleine schmuddelige Rahmana auf den Schoß, steckte ihr Gesicht in die zerzausten Haare des Kindes und atmete dankbar ihren vertrauten, etwas säuerlichen Geruch ein. „Oh Allah“, flüsterte sie, „sei mir gnädig!“

Felsenmond

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