Читать книгу Felsenmond - Jasmin Adam - Страница 7
Die Stunde
ОглавлениеEs war noch dunkel, als der Gebetsruf der nahen Moschee Sausan aus unruhigem Schlaf weckte. Was hatte sie eben geträumt? Latifa war in dem Traum vorgekommen, aber Sausan hatte ihre Botschaft nicht verstehen können, denn die Cousine hatte in einer fremden Sprache gesprochen. Dann war Latifas Gesicht plötzlich immer kleiner geworden, wie zusammengeschmolzen ... Sausan versuchte die Fäden der seltsamen Geschichte, in die sie eben noch verstrickt gewesen war, zu entwirren, doch sie entglitten ihr. Da streckte auch schon ihre Mutter den Kopf zur Tür herein.
„Los, Mädchen, hopphopp, aufstehen!“
Sausan reckte sich gähnend und gab der neben ihr liegenden Hanna einen kleinen Knuff. „Hörst du? Zeit zum Aufstehen, du Schlafmütze!“
Inzwischen wurde es im Osten schon hell. Schlaftrunken stand Sausan auf, ging in das kleine Bad, öffnete den Wasserhahn neben dem Stehklo und ließ kaltes Wasser in einen Eimer laufen. Eben wollte sie mit der morgendlichen Waschung beginnen, als ihre Schwester an der Tür rüttelte.
„Sausan, lass mich rein! Yalla, mach schon auf!“
„Na warte!“, murmelte Sausan, öffnete ihrer jüngeren Schwester die Tür und begrüßte sie grinsend mit einem kräftigen Spritzer kalten Wassers.
Hanna hatte aber offensichtlich mit etwas Derartigem gerechnet und war sicherheitshalber rasch einen Schritt zur Seite getreten, sodass der Spritzer nicht sie, sondern die Mutter traf, die gerade im Flur vorbeiging.
„Schluss jetzt, ihr Mädchen! Was ist das für ein Unsinn!“, polterte diese halb lachend, halb schimpfend. „Auf, wascht euch, betet und macht dann das Frühstück! Los jetzt!“
Gehorsam wuschen sich Sausan und Hanna nun Gesicht, Hals, Hände und Unterarme, dann Füße und Unterschenkel, so wie es der islamische Ritus vorschreibt. Unter dem frischen kalten Wasser zog sich ihre Haut prickelnd zusammen und die feinen dunklen Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich zitternd auf. Rasch zogen die Mädchen ihre langen weißen Gebetsgewänder an, rollten die Gebetsteppiche gen Mekka aus und verrichteten leise murmelnd ihre Gebete.
Sausan studierte seit zwei Jahren am städtischen College Englisch, um Lehrerin zu werden. Nachdem sie die Schule mit sehr guten Noten abgeschlossen hatte, war es ihr nicht schwergefallen, die Eltern zu überzeugen, sie auf das College zu schicken. In ihrem Bekanntenkreis gehörte es inzwischen sogar fast zum guten Ton, Töchter studieren zu lassen. Noch bis vor wenigen Jahren wäre das eine große Ausnahme gewesen! Tatsächlich war auch Sausans Mutter, wie die meisten Frauen ihrer Generation, eine Analphabetin. Doch auch sie erhoffte sich für ihre Töchter durch das Studium eine bessere Zukunft und mehr Unabhängigkeit.
Wie immer schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, als Sausan später das Haus verließ und sich auf den Weg zum College machte. Tief atmete sie die frische Bergluft ein. Wie gerne hätte sie die Luthma, ihren Gesichtsschleier, gelüftet, um die Sonne auf der Haut zu spüren! Es würde heute wohl wieder ein heißer Tag werden, aber jetzt war es noch angenehm frisch. Sausan blieb stehen und ließ ihre Blicke schweifen. Sicherlich wird bald die Regenzeit beginnen, überlegte sie, dann wird der Regen endlich den Staub von Felsen, Bäumen und aus der Luft waschen, die Berge werden sich in ihr grünes Sommergewand kleiden und wir werden uns alle wie neugeboren fühlen! Sausans Blick folgte den schmeichelnden Konturen der sich bis zum Horizont hin staffelnden Bergketten. Ein wunderschönes Land!
Wenn es nach ihr ginge, würde Sausan auf ihrem täglichen Weg zum College gern alleine die Stille und Einsamkeit genießen und ihre Gedanken frei fliegen lassen, aber stattdessen machte sie auch heute wieder ihren kleinen Abstecher, um Malika, eine Mitstudentin, abzuholen. Das war zwischen den Familien so vereinbart worden, denn es wäre unschicklich für ein Mädchen, täglich alleine zum College zu laufen. Schließlich könnte sie dann ja auf die Idee kommen, sich unterwegs mit fremden Männern zu treffen, und das würde den Ruf der ganzen Familie zerstören! Sausan seufzte. Immer dieser Argwohn! Aber sie war zu fast jedem Kompromiss bereit, solange sie nur studieren durfte. Das Englischstudium machte Sausan viel Spaß. Und es lieferte ihr obendrein einen willkommenen Vorwand, um zu Hause die amerikanischen Serien zu schauen, welche sich über Satellit empfangen ließen: Sie musste schließlich ihr Hörverständnis verbessern! Doch vor allem bot ihr das Studium der englischen Literatur die Möglichkeit, sich mit Gedanken und Weltbildern auseinanderzusetzen, die ihrem eigenen Erfahrungshorizont so weit entrückt schienen wie – ja, wie der Osten vom Westen. Sausan musste schmunzeln. Sie hatte sich immer schon gefragt, wie das überhaupt Sinn machen sollte, die Himmelsrichtungen auf einer Kugel festzulegen. Wenn man von seinem Standpunkt aus immer weiter gen Osten wanderte, so käme man doch irgendwann von Westen her wieder an denselben Ausgangspunkt zurück, oder etwa nicht?! Vielleicht war das ja mit den Traditionen, Philosophien, Religionen auch so? Wenn sie immer und immer weiter entlang derselben Linie dachte, wo käme sie dann letztendlich an? Auch auf der entgegengesetzten Seite?
Sausan liebte solche kleinen Gedankenspiele, sie wusste aber auch, dass sie vorsichtig sein musste und sich nicht zu weit in die Welt ihrer Gedanken hineinwagen durfte. Denn sonst stieß sie unweigerlich innerhalb von kürzester Zeit an eine Mauer von Tabus, und dieses Gefühl frustrierte sie dermaßen, dass sie manchmal Angst bekam, ihre Gedanken könnten sich irgendwann verselbstständigen, schneller und immer schneller hin und her rasen und an Mauern knallen, bis sie verrückt würde.
Als kleines Mädchen hatte sie oft Fragen nach dem „warum“ und „wozu“ gestellt. Das war aber gar nicht gerne gesehen, sondern als vorlaut und gotteslästerlich kritisiert worden. Auch in der Schule hatten die Lehrer irritiert und argwöhnisch reagiert, wenn sie Fragen stellte, die den Gesamtzusammenhang und die Ursachen betrafen. Wollte sie etwa die Autorität der Lehrer infrage stellen? Oder gar Wissenslücken bei ihnen aufdecken? Wollte sie sich selbst wichtigmachen oder den Lernfortschritt der Klasse behindern?
Eine Zeit lang hatte Sausan dann ihre unbeantworteten und zum Teil ungestellten Fragen in einem kleinen Heftchen aufgeschrieben, in der Hoffnung, irgendwann jemanden zu treffen, dem sie all diese Fragen würde stellen können. Und immer, wenn sie sich einsam und missverstanden fühlte, hatte sie sich in dieses Heftchen vertieft und seine Ränder mit fantasievollen Zeichnungen aus ihrer Traumwelt verziert. Doch dann war das Heft ihrem großen Bruder bei einer seiner Razzien in die Hände gefallen. Erst hatte er sich über sie lustig gemacht und gedroht, das Heft überall herumzuzeigen. Dann hatten sie gestritten, er war wütend geworden, hatte sie als Ungläubige beschimpft und schließlich das Heft kurzerhand verbrannt. Damals war Sausan etwa zwölf Jahre alt gewesen. Sie hatte daraus gelernt. Aufgeschrieben und gezeichnet hatte sie nichts mehr, auch nicht mehr viele Fragen gestellt. Aber sie hoffte immer noch auf jemanden, der so dachte wie sie und mit dem sie ihre Gedanken und Fragen teilen und vielleicht gemeinsam auch Antworten finden konnte.
Inzwischen war Sausan am Haus von Malika angekommen. Eigentlich waren die zwei Mädchen so verschieden, wie man nur sein konnte. Doch da sie sich schon von der ersten Klasse an kannten und nun zusammen Englisch studierten, verbrachten sie viel Zeit miteinander. Sausan klopfte, blieb jedoch vor der Tür stehen, als von drinnen ein „Ja? Wer ist da?“ ertönte.
„Ich bin es, Sausan. Bist du so weit?“ Statt einer Antwort ging die Tür auf und Malika trat hinaus. Noch nie hatte Sausan auf Malika warten müssen, sie war das Pflichtbewusstsein in Person. Malika war ein ganzes Stück kleiner als Sausan. Auch sie trug den langen schwarzen Balto und vor dem Gesicht die Luthma. Während Sausans Balto jedoch an den Ärmeln und dem Saum mit filigranen Stickereien verziert war, besaß Malikas Balto keinerlei Schmuckelemente.
„Wie geht es dir?“, fragte Sausan und begrüßte die andere mit einem Kuss auf beide Wangen.
„Allah sei gelobt. Und dir?“, erwiderte Malika den Gruß. „Wir müssen uns beeilen, es ist schon spät!“
„Wirklich?“, fragte Sausan erstaunt und schaute auf ihre Uhr, aber die war wieder einmal stehen geblieben. Daraufhin holte sie ihr Handy aus der Tasche. „Tatsächlich. Komisch. Ich dachte, ich sei heute früher losgegangen. Na ja.“
Schweigend gingen die beiden weiter, denn statt auf der Straße zu laufen, die in weiten Serpentinen den Berg hinaufführte, folgten sie nun einem schmalen holprigen Pfad, der sich steil zwischen den Häusern hindurchschlängelte, aber eine enorme Abkürzung darstellte. So kamen sie dann auch noch gerade rechtzeitig zum Beginn der ersten Stunde an.
Professor Mumbai war Inder und unterrichtete schon viele Jahre an diesem College. Neben ihm gab es in der Englischfakultät noch mehrere irakische Professoren und neuerdings auch einen Jemeniten. Professor Mumbai war beliebt, da er gerecht war und sich ernsthaft bemühte, in seinen Studenten die Liebe zur Literatur zu wecken. Es gab aber auch Studenten, die ihm mit kühler Verachtung begegneten. Malika gehörte dazu. Als Sausan sie einmal nach dem Grund dafür fragte, hatte Malika erstaunt erwidert: „Professor Mumbai ist Hindu, weißt du das denn nicht? Er betet Kühe und Elefanten an und Tausende von Göttern mit vielen Köpfen und Unmengen von Brüsten und was weiß ich noch alles für schreckliche Gestalten. Wie kann ein intelligenter Mensch nur an so etwas glauben? Davor habe ich keinen Respekt!“ Sausans Neugierde war geweckt, und so hatte sie den kleinen rundlichen Professor gleich nach der Stunde abgepasst und gefragt, ob er tatsächlich Hindu sei. Daraufhin hatte dieser sich erst nachdenklich an der Nase gerieben und Sausan dann direkt in die Augen geschaut. „Ich wurde als Hindu geboren, das ist wahr. Aber ich bin Atheist. Ich glaube nicht an Gott.“ Dann hatte er kurz genickt, sich umgedreht und war gegangen. Das wiederum war für Sausan fast nicht zu glauben. Dass jemand eine falsche Gottesvorstellung hatte oder dem falschen Propheten folgte oder aber einfach Gott ungehorsam war und sich seinem Willen widersetzte, all das konnte man sich ja noch vorstellen. Aber dass ein Mensch, noch dazu einer, der studiert hatte und sehr belesen war, die Dreistigkeit besaß, Gott einfach zu leugnen? Wo doch die ganze Welt in ihrer Vielfalt und Komplexität tagtäglich bezeugte, dass es einen Schöpfer gab? Unvorstellbar! Wie man Gott verstehen solle und wie man ihm gefallen könne, darüber ließ sich ja vielleicht streiten, aber an seiner Existenz zu zweifeln, das war selbst Sausan zu abgehoben. Trotzdem mochte sie den kleinen Professor, auch wenn er ihr jetzt irgendwie leidtat. Ganz allein in einem fremden Land und noch dazu ohne Gott? Der Arme!
Heute war es jedoch nicht wie erwartet Professor Mumbai, der den Raum betrat, sondern der irakische Fakultätsleiter und mit ihm ein junger fremder Ausländer. Die Studenten waren augenblicklich still und blickten erwartungsvoll auf die beiden Männer.
„Friede sei mit euch und die Gnade Allahs und seine Segnungen“, sagte der Fakultätsleiter, und die Studenten antworteten im Chor: „Und mit euch sei Friede.“
„Ich bin heute gekommen, um Euch Mr Williams vorzustellen. Mr Williams ist ein Englischlehrer aus Amerika und lebt seit Kurzem in unserer schönen Stadt. Er hat die Freundlichkeit besessen, unserem College seine Dienste anzubieten, und wird ab jetzt verschiedene Konversationsklassen übernehmen. Außerdem möchte er uns helfen, die Englischbibliothek zu erweitern und einen kulturellen Austausch mit einem College in den Vereinigten Staaten zu organisieren. Wir sind sehr froh, Mr Williams bei uns zu haben, und freuen uns auf eine fruchtbare Zusammenarbeit. Und nun, Mr Williams, lasse ich Sie mit den Studenten allein. Allah segne euch alle.“
Das war vielleicht eine Stunde gewesen! So etwas hatte Sausan noch nie erlebt. Allein dem breiten amerikanischen Akzent des Dozenten zuzuhören, war schon der reinste Genuss! Wie im Fernsehen! Und dann sah dieser Mann auch noch gut aus! Groß und sportlich, mit kurzem dunkelblondem Haar und den unglaublichsten blauen Augen, die man sich nur vorstellen konnte. Noch nie hatte Sausan solche Augen gesehen. Aufmerksam hatte sie jede Sekunde des Unterrichts verfolgt, sich beteiligt, versucht, in Blickkontakt mit diesen blauen Augen zu treten, doch vergebens.
Nun war die Stunde zu Ende und Mr Williams packte seine Bücher in die Tasche. Schnell nahm Sausan die überraschte Malika an der Hand und zog sie mit sich vor zum Pult.
„Hallo, wie geht es Ihnen?“, fragte sie den Lehrer auf Englisch und legte dabei ihre schlanken schönen Hände so elegant auf den Tisch, dass er sie unmöglich übersehen konnte. „Gefällt Ihnen der Jemen?“
„Danke, mir geht es gut“, antwortete Mr Williams überrascht. „Ja, der Jemen gefällt mir sogar sehr. Es ist ein schönes Land mit sehr freundlichen Bewohnern.“ Aber er sah Sausan dabei kaum an, sondern schloss seine Tasche und wollte eben schon den Raum verlassen, als sich Malikas Stimme aus dem Hintergrund vernehmen ließ.
„Entschuldigen Sie, sind Sie Muslim?“
Plötzlich schien der Amerikaner es nicht mehr so eilig zu haben. Er stellte seine Tasche noch mal ab, blickte Malika forschend an und antwortete dann: „Ich liebe Gott und versuche nach den Geboten von Jesus zu leben.“
Malika folgerte nüchtern: „Dann sind Sie also Christ. Warum glauben Sie nicht an Muhammad? Er ist der letzte Prophet und das Siegel aller Propheten!“
Mit einem kurzen Seitenblick auf die anderen Studenten, die von dem Gespräch Notiz nahmen und sowohl den Amerikaner als auch die beiden Jemenitinnen genau beobachteten, antwortete Mr Williams mit einem verhaltenen Lächeln: „Weißt du was? Ich habe es gerade etwas eilig. Aber warum besuchst du nicht einfach mal meine Frau Sally? Sie redet sehr gerne über diese Fragen. Außerdem möchte sie Arabisch lernen. Wir leben in der Altstadt, im Haus der Al-Sayyidis. Komm doch einfach mal vorbei. Wie war noch gleich dein Name?“
„Malika.“
„Auf Wiedersehen, Malika, und Gottes Segen“, verabschiedete sich Mr Williams, lächelte den beiden kurz zu und verließ mit eiligen Schritten den Raum.
Das ganze Gespräch hatte keine zwei Minuten gedauert, aber Sausan war wie erstarrt. Unglaublich! Sie konnte es nicht fassen! Für sie hatte er sich überhaupt nicht interessiert, aber Malika mit ihrer dummen Frage hatte gleich seine ganze Aufmerksamkeit gewonnen. Na ja, verheiratet war er ja sowieso. Aber komisch war das trotzdem.
„Und?“, fragte Malika, als sie zur nächsten Vorlesung gingen. „Du hattest es ja sehr eilig damit, diesen Amerikaner kennenzulernen. Hoffen wir, dass es deshalb keinen Ärger gibt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht. Du weißt doch, wie schnell das Getratsche losgeht.“
„Ich wollte doch nur höflich sein“, antwortete Sausan schnippisch. „Immerhin ist er ein Gast in unserem Land, dann wird man ihn doch wohl willkommen heißen dürfen, oder? Außerdem hast du dich ja viel mehr mit ihm unterhalten als ich!“ Ohne auf eine Antwort Malikas zu warten, fuhr sie fort: „Also, ich finde es toll, dass wir jetzt von einem Amerikaner unterrichtet werden! Wie er wohl auf die Idee kam, ausgerechnet in unsere kleine Stadt zu kommen? Ich würde nie aus Amerika wegziehen und freiwillig im Jemen leben, wenn ich die Wahl hätte.“
„Was sagst du denn da!“, empörte sich Malika. „Amerika ist ein Land von Teufeln! Hast du denn vergessen, dass die mit Israel unter einer Decke stecken und die Palästinenser, ja die Muslime insgesamt bekämpfen, wo sie nur können? Wer weiß, weshalb der hierhergekommen ist. Vielleicht ist er ja ein Spion?“
Sausan lachte. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Was soll er denn hier bei uns schon ausspionieren?“
Malika wiegte nachdenklich den Kopf, dann fügte sie hinzu: „Aber seine Frau, diese Sally, die werde ich trotzdem mal besuchen. Kommst du mit?“
„Ach was, wirklich?“ Sausan blieb erstaunt stehen. „Eben sind sie noch Spione und jetzt willst du sie besuchen? Warum denn das? Etwa, um wieder über Religion zu sprechen?“
„Ja, genau“, antwortete Malika bestimmt.
Als Sausan einige Stunden später alleine aus dem Collegegebäude trat, sprach sie plötzlich jemand vorsichtig von hinten an: „Sausan? Entschuldige bitte, könnte ich dich vielleicht einen Moment sprechen?“
Sausan drehte sich überrascht um und wollte schon eine unwirsche Antwort geben, als sie einen Kommilitonen erkannte. Der schmächtige junge Mann, der seiner Kleidung und dem Dialekt nach aus einem der entfernteren Stammesgebiete kam, sah Sausan schüchtern von der Seite an. Statt zu antworten, schaute sie ihn nur fragend an. Gleichzeitig spulten sich in ihrem Kopf automatisch all die Warnungen ihrer Mutter ab, die ihr stets untersagt hatte, sich auf irgendwelche Gespräche mit Männern einzulassen.
„Entschuldige, dass ich dich anspreche, Sausan. Aber ich dachte ... weißt du, ich muss für ein paar Tage in mein Dorf zu einer Hochzeit in der Verwandtschaft, und ich dachte, nun, ich könnte dich vielleicht mal anrufen, damit du mir die Englischhausaufgaben sagst? Ich möchte nicht alles versäumen.“
Sausan runzelte die Augenbrauen, die einzige Mimik, die man selbst bei einer verschleierten Frau noch erkennen kann. „Wieso rufst du nicht einen der anderen Studenten an? Was bildest du dir denn ein? Denkst du etwa, ich bin ein unanständiges Mädchen? Schäme dich! Ich komme aus einer guten Familie und ich gebe meine Telefonnummer nicht an Männer.“ Mit diesen Worten drehte sie sich beinah übertrieben deutlich um und wollte eben stolz erhobenen Hauptes davongehen, als der junge Mann wieder an ihrer Seite war und es nochmals versuchte.
„Bitte, Sausan! Mit den Jungen, das habe ich schon mal versucht, das klappt einfach nicht! Die passen nicht richtig auf und bekommen nur die Hälfte der Aufgaben mit und davon sagen sie mir dann wiederum nur die Hälfte weiter. Das ist dann nur ein Viertel!“
Sausan musste unwillkürlich lachen. Irgendetwas gefiel ihr an diesem Jungen. Zumindest schmeichelte ihr seine Hartnäckigkeit. Sie blieb noch mal stehen, wiederholte aber, dass sie ihm ihre Telefonnummer unmöglich geben könne.
Bekümmert schaute er zu Boden. Dann entschuldigte er sich ein drittes Mal und beteuerte, er habe sie nicht beleidigen wollen.
In diesem Augenblick traten ein paar Mädchen aus der Tür, und Sausan schoss ein Gedanke durch den Kopf, den sie ohne weiter zu überlegen sofort umsetzte. Sie ging zwei Schritte auf eines der Mädchen zu und sagte laut: „Hallo, Nadja! Bitte ruf mich doch heute Nachmittag an, meine Nummer ist 733596422, falls du es vergessen hast. 733596422.“
Das angesprochene Mädchen reagierte etwas verwirrt: „Entschuldige, ich bin nicht Nadja, du musst mich verwechseln.“
„Oh“, antwortete Sausan, „na, so was. Nadja hat genau denselben Balto wie du.“ Damit drehte sie sich um und ging, ohne den jungen Mann eines weiteren Blickes zu würdigen, zügig nach Hause.
Einige Wochen später befanden sich Sausan und Malika gemeinsam im Suq. Sie hatten für den Unterricht etwas kopiert und wollten nun die Gelegenheit nutzen, um endlich Mr Williams Frau zu besuchen. Seit ihrem ersten Gespräch mit dem Amerikaner hatte sich Sausan zurückgehalten, aber gerade heute hatte der Lehrer die beiden Mädchen noch mal angesprochen: „Besucht doch mal meine Frau! Sie spricht kaum Arabisch und freut sich sicher sehr, mit jemandem zu reden, der so gut Englisch kann wie ihr.“ Das Kompliment hatte Sausan gefallen. Die meisten Jemeniten konnten allerdings auch wirklich nicht mehr als ein paar Brocken Englisch, sie hatten ja auch keine Gelegenheit, die Sprache anzuwenden. Von ihrem Bruder hatte Sausan jedoch kürzlich erfahren, dass in einer bei Touristen beliebten Kleinstadt nördlich von Sana'a etliche junge Männer und Frauen gleich mehrere Sprachen gut beherrschten, und das nur durch den Umgang mit den ausländischen Gästen. Ja, Fremdenführer zu sein, das stellte Sausan sich toll vor! Immer wieder mit unterschiedlichen Gruppen ausländischer Touristen kreuz und quer durch das Land zu reisen und ihnen Tradition, Kultur und Architektur dieses abwechslungsreichen Landes nahezubringen, das musste wirklich schön sein! Aber auch dies war wieder so ein aussichtsloser Traum. Solch einen Gedanken auch nur zu äußern, würde Sausan schon Schläge von ihrem Bruder einbringen: Frauen gehörten ins Haus. Ende der Debatte.
Im Suq fragte Sausan kurzerhand ein kleines Mädchen in blauer Schuluniform, ob sie das Haus der Al-Sayyidis kenne, in dem Ausländer wohnten.
„Aber sicher“, erwiderte die Kleine, „das kennt doch jeder! Kommt, ich führe euch hin.“
„Vielen Dank, Allah segne dich“, verabschiedeten sie sich wenig später von ihrer Führerin. Malika und Sausan standen nun in einer Nebenstraße vor einem großen dreistöckigen Gebäude. Es musste noch recht neu sein, denn es war außen ganz mit weißen Natursteinen verkleidet, nur um die Fenster und die Tür hatte man einen schwarzen Stein gewählt. Dieser Stil hatte sich erst in den letzten Jahren durchgesetzt. Bis vor Kurzem war es noch üblich gewesen, die Häuser aus dunkelgrauem Stein zu bauen und nur Fenster und Türen mit weißem Stein zu umrahmen. Die Eingangstür zum Treppenhaus stand offen und die beiden jungen Frauen traten ein. Sie hatten vergessen zu fragen, in welchem Stockwerk die Ausländer wohnten, gingen aber davon aus, dass es der oberste und neueste Stock sei, der traditionell auch der prestigereichste war. Als sie jedoch die Treppe hochgingen, stellten sie schnell fest, dass der mittlere Stock wohl der richtige sein musste, denn hier hingen schon im Treppenhaus bunte Drucke an der Wand, auf dem Fenstersims stand eine Kübelpflanze und an der Tür hing ein von Kinderhand gemaltes Schild: „Welcome!“
Plötzlich fühlte sich Sausan etwas unwohl. Sollten sie wirklich einfach so an diese fremde Tür klopfen? Sie hatte nicht einmal ihre Eltern oder ihre Schwester in das Vorhaben eingeweiht! Aber Malika schien sich ihrer Sache sicher zu sein und übernahm die Führung, indem sie einfach dreimal fest gegen die Tür pochte. Einen Augenblick später öffnete sich diese und Mr Williams selbst stand vor ihnen. Als er die zwei verschleierten Gestalten sah, rief er sofort nach seiner Frau und verschwand, ohne die Mädchen auch nur zu begrüßen. Sicher hat er uns gar nicht erkannt, dachte Sausan. Aber es war ja auch sehr anständig, dass er sich so zurückhielt. Da erschien auch schon eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm, dicht gefolgt von einem kleinen blonden Mädchen.
„Herzlich willkommen! Ich bin Sally. Kommt doch herein!“
Nachdem die beiden Mädchen sich vorgestellt hatten, folgten sie der Frau in das Wohnzimmer.
Sausan schaute sich aufmerksam um. Obwohl viele der Einrichtungsgegenstände typisch jemenitisch waren, war der Stil doch eindeutig fremd. Ich bin hier in einer anderen Welt, dachte sie, wie Alice im Wunderland! Im Wohnzimmer lagen, genau wie es bei etwas wohlhabenderen Jemeniten der Fall war, gepolsterte Sitzmatratzen an den Wänden, die Rückenlehne bestand aus unzähligen bunten Kissen aus dem gleichen Stoff. Am Kopfende des schmalen langen Zimmers stand jedoch eine große Regalwand voll mit Büchern und CDs, ein ungewohnter Anblick. Und in einer Ecke des Zimmers lag eine dicke Decke auf dem Boden, und ein Korb mit buntem Spielzeug verriet, dass diese Kinder hier nicht nur mit alten Dosen spielten.
Die beiden Mädchen hatten ihre Schuhe ausgezogen und sich gesetzt, während Sally in der Küche verschwunden war. Ihre kleine Tochter blieb im Türrahmen stehen und spähte ab und zu um die Ecke in das Zimmer hinein, um sich dann schnell wieder in den sicheren Flur zurückzuziehen. Die beiden Jemenitinnen hatten ihre Gesichtsschleier inzwischen gelüftet, und Sausan versuchte nun, mit dem zierlichen, etwa vierjährigen Mädchen zu schäkern.
„Komm her, meine Süße“, sagte sie und streckte ihre Arme aus. Aber das Mädchen drehte sich schnell um und wäre fast in seine Mutter hineingerannt, die gerade mit dem Baby auf dem Arm ein Tablett mit Tee und Keksen hereinbalancierte.
„Nochmals herzlich willkommen!“, sagte Sally, als sie alle saßen und an ihrem heißen süßen Tee nippten. „Ich freue mich sehr, dass ihr mich besucht. Ihr seid also Studentinnen meines Mannes? Ich hoffe, ihr könnt mich verstehen.“ Sally war eine kleine, etwas mollige Frau gegen Ende zwanzig. Sie hatte kastanienbraune, schulterlange Locken, braun-grüne blitzende Augen und ein warmes Lächeln.
„Ja, doch“, antwortete Sausan, „wir sprechen zwar noch nicht so gut Englisch, aber wir möchten es gerne üben. Herzlich willkommen im Jemen! Wie lange wohnst du denn schon in unserer Stadt?“
„Nun, in dieser Stadt sind wir erst seit drei Monaten“, erklärte Sally. „Aber vorher haben wir schon ein Jahr in Sana'a gelebt. Mein Mann hat dort Arabisch gelernt. Und ich habe es eigentlich auch versucht, bin aber nicht sehr weit gekommen. Diese beiden hier“, sagte sie mit einem lächelnden Blick auf die Kinder, die nun beide auf ihrem Schoß saßen und die Mutter kaum in Ruhe den Tee trinken ließen, „halten mich ganz schön auf Trab!“
Nun ergriff Malika das Wort: „Wie gefällt dir denn der Jemen?“
„Sehr gut“, erwiderte Sally. „Alle Leute sind hier sehr nett zu mir. Aber es ist leider recht schwer, wirklich Freunde zu finden, wenn man kein Arabisch spricht. Deshalb möchte ich die Sprache auch unbedingt lernen!“ Sie legte die Stirn in Falten und fügte dann zwinkernd hinzu: „Schweie, schweie – langsam, langsam, wie ihr so schön sagt!“
Sausan lachte. „Oder yalla, yalla – schnell, schnell!“
Nun lachte auch Sally. „Ja, wenn das nur so einfach wäre! Ich glaube, ich brauche dringend jemanden, mit dem ich mich regelmäßig treffe und der mir bei der Aussprache und dem Satzbau hilft. Ein Buch habe ich eigentlich, aber es liegt immer nur schön auf meinem Nachttisch und schaut mich vorwurfsvoll an. Schlimm ist das!“
„Ach, das würde ich wirklich gerne machen“, ergriff Sausan die Gelegenheit. „Ich könnte doch ein-, zweimal in der Woche kommen und dir etwas beibringen. Dabei würde ich sogar noch besser Englisch lernen!“
Sally freute sich sichtlich über das Angebot und wollte gleich Telefonnummern austauschen. Als Sausan ihr Handy aus der Tasche zog, um die neue Nummer einzuspeichern, sah sie, dass sie eine Sms erhalten hatte. Von Walid, ihrem Kommilitonen!
Seit dem Tag, an dem er sie das erste Mal vor der Uni angesprochen hatte, standen die beiden regelmäßig miteinander in Kontakt, und während das Ganze für Sausan erst nur ein Spiel mit Nervenkitzel gewesen war, hatte sich nun längst mehr daraus entwickelt. In der Öffentlichkeit hatten sie zwar nur selten ein Wort gewechselt, aber trotzdem kannte Sausan Walid inzwischen besser als jeden anderen Mann, einschließlich ihres Bruders. So kam es ihr zumindest vor. Seinen ersten Anruf hatte sie erhalten, als sie gerade zu Hause mit ihrer Schwester in der Küche beschäftigt gewesen war. Sie war drangegangen, hatte jedoch sofort geantwortet, nein, einen Saleh gäbe es hier nicht, er müsse sich wohl verwählt haben, und hatte aufgelegt. Kurz darauf war sie in die Toilette verschwunden – den einzigen Ort, an dem man legitim einen Augenblick allein sein konnte – und hatte Walid eine Kurznachricht geschrieben, in der sie ihn bat, sie immer erst anzutexten und nur dann anzurufen, wenn sie ihm daraufhin grünes Licht erteile. Dann hatte sie sich die Nummer gut eingeprägt und sowohl seinen Anruf als auch ihre Mitteilung sofort aus dem Verzeichnis gelöscht. Während sich die ersten Anrufe tatsächlich nur um unispezifische Fragen gedreht hatten, begannen beide doch bald, sich gegenseitig von ihren Familien und deren Problemen zu erzählen, und das wiederum führte dazu, dass sie sich über ihre eigenen Frustrationen und Hoffnungen austauschten. Für Sausan war das absolutes Neuland. Noch nie hatte sie mit jemandem so offen geredet, denn wenn man etwas von sich preisgab, war das Risiko groß, dass es irgendwann gegen einen verwendet werden würde. Aber mit Walid war ihr nun ein Mensch begegnet, der selbst eine ähnliche Verzweiflung wie sie im Herzen trug und hinter seinem zurückhaltenden Wesen eine Fülle von Gedanken und Träumen, aber auch Ängsten und Sorgen verbarg, die Sausan nur allzu vertraut waren.
Oft hatte Sausan abgewartet, bis ihre Schwester und ihre Eltern eingeschlafen waren, und war dann leise in die Küche geschlichen, um Walid zu schreiben, er könne jetzt anrufen. Und dann hatte sie in eine Decke gewickelt auf dem kalten Küchenfußboden gesessen, eine Schale Bohnenbrei vor sich, als Alibi, falls doch mal jemand aufwachen und sich über ihre Anwesenheit in der Küche wundern sollte. Leise flüsternd hatte sie mit Walid über Großes und Kleines geredet, gelacht, geseufzt und manchmal mit ihm geschwiegen. Wenn er sich einige Tage nicht meldete, wurde sie sofort unruhig, konnte sich kaum mehr konzentrieren und schaute ständig auf ihrem Handy nach, ob sie nicht doch eine Sms erhalten habe. Das war schließlich ihrem Bruder bei einem seiner Besuche am Wochenende aufgefallen. Er hatte ihr daraufhin das Handy weggenommen und sämtliche Funktionen und Verzeichnisse durchgeklickt, um zu sehen, ob er etwas Verdächtiges entdecken würde.
Faisal, Sausans großer Bruder, besuchte in Sana' a die Militärakademie, worauf seine Eltern sehr stolz waren. Seitdem er nicht mehr zu Hause wohnte, war er seinen Schwestern gegenüber aber noch misstrauischer geworden und versuchte sie durch Einschüchterungen zu kontrollieren. Außerdem erwartete er bei seinen Besuchen nicht nur, von Kopf bis Fuß bedient zu werden, sondern kritisierte auch ständig das Verhalten der Mädchen, ihre Kochkünste, ihre Kleidung, sogar ihre Art zu lachen. Und wann immer sich eine Gelegenheit bot, betonte er, dass er nichts vom Studieren seiner Schwester halte, denn dadurch käme sie nur unnötig in Kontakt mit Männern.
Auch Sausans Handy war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Sausan hatte innerlich gezittert, als er ihr Handy untersuchte, sich äußerlich aber gelassen gegeben. Und tatsächlich hatte Faisal nichts Verdächtiges gefunden, denn im Löschen der Kontakte zu Walid war sie immer sehr konsequent gewesen. Wenn es ihr auch manchmal enorm schwergefallen war, vor allem, wenn er ihr ein paar selbst gedichtete Zeilen geschickt hatte.
Als Sausan jetzt sah, dass sie eine Nachricht erhalten hatte, blieb sie noch einige Minuten sitzen, bat dann jedoch, die Toilette benutzen zu dürfen. Die kleine Tochter von Sally war inzwischen etwas aufgetaut und zeigte ihr bereitwillig den Weg. Sausan staunte, als sie das Badezimmer betrat. Hier gab es eine richtige Badewanne und einen seltsamen Stuhl aus Keramik, dafür aber kein Stehklo. Und in einem Regal standen bunte Flaschen und Dosen mit den verschiedensten Cremes und Lotionen. Überhaupt war die Toilette so eingerichtet, dass man es sich gerne hier gemütlich machen würde. Sogar ein Bild hing an der Wand! Wie komisch, dachte Sausan, denn sie war es gewohnt, beim Eintritt in das Bad immer eine religiöse Beschwörungsformel als Schutz gegen die dort hausenden Dämonen zu sprechen und darauf zu achten, stets mit dem richtigen Fuß zuerst hinein- und hinauszugehen. Nun, soziologische Überlegungen waren jetzt zweitrangig, Sausan wollte wissen, was in der Sms stand. Walid schrieb nur eine kurze Zeile, er habe ein großes Problem und müsse unbedingt so bald wie möglich mit ihr reden. Sausan löschte die Nachricht, klappte das Handy zu und ging zurück zu den anderen.
Eine halbe Stunde später befand sie sich mit Malika zusammen auf dem Heimweg. Als Sausan in den Diwan zurückgekehrt war, hatten Malika und Sally sich tatsächlich in einem Gespräch über religiöse Fragen befunden! Malika hatte Sally davon überzeugen wollen, dass die Bibel von den frühen Christen verfälscht worden sei und Allah seine Botschaft deshalb noch einmal in Form des Koran durch Muhammad auf die Welt gesandt habe. Sie hatte Sally zu erklären versucht, dass Muhammad als letzter großer Prophet der Menschheit die richtige gottgefällige Lebensform vorgelebt habe und dass seine Weisheitssprüche, die Hadithe, gemeinsam mit dem Koran als Richtschnur für alles Leben und Handeln der Menschen anzusehen seien. Nur in einer Gesellschaft, in der diese Gebote genau befolgt würden, könne man in Gerechtigkeit und Frieden leben. Sally schien diesem Dialog nicht abgeneigt zu sein, ganz im Gegenteil ging sie interessiert auf Malikas Aussagen ein, stellte jedoch auch Gegenfragen. Als Malika argumentierte, Sally solle doch Muhammad als dem zeitlich späteren Propheten mit der neueren und deshalb gültigeren Botschaft nachfolgen, wiegte Sally zweifelnd ihren Kopf. Dann forderte sie Malika heraus, sich vorzustellen, es erscheine jetzt plötzlich in China oder Indien ein Mann mit dem Anspruch, Allahs neueste Botschaft zu verkünden. Er errege in seinem Umkreis viel Aufmerksamkeit und versammele eine wachsende Anhängerschaft um sich. Seine Botschaft decke sich in etlichen Punkten mit der des Koran und er akzeptiere sogar Muhammad als früheren Propheten. Doch gleichzeitig behaupte dieser neue Prophet, fünf tägliche Gebete seien nicht genug, man müsse zu jeder vollen Stunde ein Gebetsritual vollziehen. Außerdem erlaube er die Mehrehe auch für Frauen, sodass jede Frau bis zu vier Ehemänner gleichzeitig haben könne, solange sie bereit sei, mit allen vieren abwechselnd Brot und Bett zu teilen. Ja, und er verkünde, es sei eine Sünde, Tiere zu töten, um deren Fleisch zu essen. Das Fleisch verendeter Tiere oder Menschen zu verzehren, sei dagegen nicht nur zulässig, sondern empfehlenswert. Malika und Sausan mussten beide lachen und verzogen angeekelt die Gesichter.
„Das ist doch absurd“, rief Malika. „Natürlich würde ich einem solchen Propheten nie mein Vertrauen schenken, warum auch? Ich bin Muslimin und von der Wahrheit des Koran überzeugt!“
„Siehst du“, antwortete Sally und lächelte verschmitzt. „So einfach ist das nämlich nicht mit dem ‚letzten Propheten‘, wie du es eben dargestellt hast. Als Muhammad vor 1400 Jahren auftauchte, da haben die Christen sich seine Botschaft angehört, sie geprüft und mit ihrer Bibel verglichen. Und viele sind zu dem Entschluss gekommen, dass sie keinen Grund sehen können, anstelle von Jesus nun an Muhammad zu glauben. Denn Jesus hat ein vorbildliches Leben geführt, indem er sich der Schwachen und Verachteten annahm. Und wir Christen glauben, dass er durch seinen unschuldigen Tod am Kreuz für unsere Schuld bezahlt hat.“
„Nein, Jesus ist nicht am Kreuz gestorben!“, erwiderte Malika sofort. „Im Koran steht das ganz anders und Allah hätte das auch nie zugelassen. Da haben wir wieder einen Beleg für die Verfälschung der Bibel!“
Oh weh, dachte Sausan, das kann ja noch lange so weitergehen! Unter anderen Umständen hätte auch sie Spaß an einer solchen Diskussion gehabt, aber nach der Sms von Walid hatte sie keine innere Ruhe mehr und drängte zum Aufbruch.
Nachdem Sausan Malika zu Hause abgeliefert hatte, ging sie nicht direkt nach Hause, sondern machte einen Abstecher in eine Seitengasse, in der ein Rohbau stand. Dort schaute sie sich kurz nach allen Seiten um und schlüpfte dann schnell durch die offene Mauer und um zwei Ecken, wo es einen Winkel gab, der weder von der Straße, noch von einem der Nachbarhäuser her einsichtig war. Hier roch es zwar nach Urin, aber das war Sausan jetzt egal. Sie konnte nicht bis in die Nacht warten, um mit Walid zu sprechen, und auf offener Straße zu telefonieren, war undenkbar. Schnell holte sie das Handy aus der Tasche und tippte eine kurze Nachricht. Dann wartete sie. Normalerweise rief Walid immer schnell zurück, denn für einen Mann war es kein Problem, sich jederzeit zum Telefonieren zurückzuziehen. Aber diesmal hatte Sausan nun schon zehn Minuten gewartet und dann zum dritten Mal bis hundert gezählt. Eigentlich hätte sie schon längst gehen wollen, gehen müssen! Endlich klingelte das Telefon.
„Hallo?“, fragte sie atemlos.
„Hallo, Sausan“, antwortete Walid. Seine Stimme klang fremd, gepresst. „Ich habe ein großes Problem: Mein Onkel ist gestorben, ein Unfall.“
„Oh.“ Sausan spürte eine gewisse Erleichterung, „Allah sei ihm gnädig. Das tut mir leid. Dann musst du jetzt bestimmt ins Dorf raus, oder?“
„Da bin ich schon längst. Das ist nicht das Problem. Das Schlimme ist, dass die Kinder meines Onkels noch sehr klein sind und nun alle von mir verlangen, dass ich als ältester Neffe seinen Qathandel weiterführe. Stell dir das vor, Sausan! Sie erwarten, dass ich mein Studium abbreche und ab sofort jeden Tag die frischen Qatladungen zum nächsten Markt fahre und dort verkaufe!“
„Wie bitte?“, fragte Sausan. „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Warum denn du? Das ist doch verrückt!“
„Ja, das finde ich auch. Aber glaube mir, Sausan, sie meinen es absolut ernst. Das ist kein Spaß! Als ich mich weigern wollte, ist mein Vater dermaßen wütend geworden, dass er mich tatsächlich mit seiner Kalaschnikow bedroht hat! Er ist total ausgerastet, hat auf mich eingeprügelt, mich einen faulen Hund genannt und mir seine Sandale ins Gesicht geschlagen. So habe ich ihn noch nie erlebt.“ Walids Stimme zitterte. „Und niemand hat mich verteidigt, Sausan! Sie sind alle auf der Seite meines Vaters, alle. Sogar meine Mutter!“ Sausan konnte ihn leise schluchzen hören.
„Allah“, flüsterte sie, „ich hasse diese verbohrten Erwachsenen. Wie ich sie alle hasse! Deine Eltern, meine Eltern, alle! Was sollen wir denn nur tun?“
„Ich weiß es nicht“, sagte Walid. „Ich kann jetzt auch nicht weiterreden, sie rufen schon wieder nach mir. Bitte bete für mich, Sausan. Das Schlimmste ist, wenn ich hier bleiben muss, werde ich dich nicht mehr sehen können! Und das halte ich nicht aus, eher bringe ich mich um. Ich liebe dich, Sausan! Ich kann nicht ohne dich leben!“ Sausan hörte durch das Telefon, wie Walid aus dem Hintergrund gerufen wurde. Er flüsterte ihr nur noch zu, dass er Schluss machen müsse, und schon hatte er aufgelegt.
Sausans Hände zitterten. Sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Am liebsten hätte sie einfach nur laut losgeschrien und auf irgendetwas eingeprügelt. Das kann doch nicht wahr sein!, dachte sie. Und was hat er eben gesagt? Er liebt mich! Doch wann werden wir uns wiedersehen? Werden wir uns überhaupt je wiedersehen? Und was, wenn er sich etwas antut in seiner Verzweiflung? Oder wenn er mit seinem Vater so in Streit gerät, dass es zu Mord und Totschlag kommt? Oh, wenn ich doch keine Frau wäre, dann könnte ich mich jetzt in ein Auto setzen und einfach zu ihm fahren! Immer nur abwarten zu müssen, passiv zu sein, das ist furchtbar! Sausan zwang sich, tief durchzuatmen. Sie musste unbedingt die Fassung bewahren. Gleich würde der Abendgebetsruf ertönen, dann musste sie zu Hause sein, sonst würde es dort auch Ärger geben. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen und schnell nach Hause zu gehen. Dort würde sie Kopfschmerzen vortäuschen, vielleicht könnte sie dann schon bald ins Bett. Einfach nur alleine zu sein, in Ruhe nachdenken zu können, wenn ihr wenigstens das gegönnt würde!
Niemand schien Notiz von ihr genommen zu haben, als sie wieder auf die Straße zurückhuschte und sich schnell auf den Heimweg machte. Doch als Sausan wenige Minuten später zeitgleich mit dem Erschallen des Gebetsrufes den Hausflur betrat, spürte sie sofort, dass auch hier dicke Luft herrschte. Ihre Schwester Hanna rollte nur mit den Augen, ihre Mutter knetete wie eine Besessene im Brotteig herum und dann ertönte auch schon Faisals Stimme aus dem Nebenzimmer.
„Ist das Sausan? Sie soll sofort kommen!“
Sausan schlüpfe aus den Schuhen und nahm den Gesichtsschleier ab. Das hatte jetzt noch gefehlt.
„Faisal ist gekommen, ist etwas passiert?“, fragte sie ihre Schwester im Vorübergehen.
„Nein, er hat hier etwas zu erledigen. Pass auf, er ist sehr wütend“, flüsterte diese zurück und drückte Sausan kurz die Hand.
Nur ruhig bleiben, sprach sich Sausan selbst Mut zu und trat mit unschuldiger Miene in das Zimmer, in dem Faisal und der Vater saßen, beide mit dicken Backen, jede Menge entblätterte Qatstängel vor sich auf dem Boden verstreut. „Friede sei mit dir, Faisal, wie geht es dir?“, begrüßte Sausan betont gelassen erst Faisal und dann ihren Vater: „Herzlich willkommen, hast du Urlaub bekommen?“
Faisal ging jedoch auf die Begrüßung nicht ein. Er war für jemenitische Verhältnisse groß und kräftig, hatte kurz geschnittene schwarze Haare und, wie die meisten Jemeniten, einen schmalen Oberlippenbart. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und angenehm, doch seine Augen zeigten keinerlei Emotionen, und wenn man ihn doch einmal lächeln sah, so war es meist Spott, der ihn dazu reizte. Jetzt blickte er Sausan streng, ja lauernd an.
„Wo bist du den ganzen Nachmittag gewesen? Was treibst du dich auf der Straße herum, du Hure?“, fragte er in herrischem Ton.
Sausan wandte sich empört an ihren Vater: „Papa, so darf er mich nicht nennen! Ich bin doch deine Tochter! Ich war mit Malika in der Stadt, wir haben Kopien für das College gemacht.“
Der Vater antwortete nicht, stattdessen fuhr Faisal mit kalter Stimme fort: „Bei Malika haben wir schon angerufen, Sausan, wir wissen Bescheid: Du warst bei Ausländern, bei Ungläubigen! Was hattest du dort zu suchen, was habt ihr getan? Alkohol getrunken? Oder hast du Männer getroffen?! Außerdem ist Malika schon seit einer Stunde zu Hause! Nun, was sagst du jetzt?“, herrschte Faisal sie an. Er war inzwischen aufgestanden und kam drohend auf sie zu.
Auch Hanna und die Mutter standen nun im Hintergrund. Einen Augenblick lang herrschte angespanntes Schweigen.
„Ich habe auf dem Rückweg noch eine Freundin auf der Straße getroffen, wir haben uns ein bisschen unterhalten. Dann bin ich gleich nach Hause gekommen“, antwortete Sausan dann vorsichtig und trat einen kleinen Schritt zurück.
Aber Faisal hatte sie schon hart am Oberarm gepackt und drückte fest zu. „Du Lügnerin. Ich glaube dir kein Wort. Ein Hündin bist du, eine Hure!“ Sausan schrie auf und ging in die Knie, doch Faisal hatte sie schon wieder losgelassen, ihr jetzt allerdings die Tasche entrissen und den gesamten Inhalt mit einem Schwung auf den Boden geleert. Dann hob er ihr Handy hoch und schaltete es an.
Bei Allah, durchfuhr es Sausan wie ein Blitz, ich habe den letzten Anruf nicht gelöscht!
In dem Moment hatte Faisal auch schon die Sms entdeckt, die Sausan an Walid geschrieben hatte. „Ruf mich jetzt an“, las er vor. „Mal sehen, wer das ist, mit dem du da eben telefoniert hast“, sagte er, und seine Stimme klang nun wieder verdächtig ruhig. Aber es schien Sausan für einen Moment, als ob sie einen Anflug von Angst in seinen Augen gesehen hätte.
Faisal wählte Walids Nummer und drückte auf die Lautsprechertaste. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, bis das Tuten ertönte. Innerlich flehte Sausan zu Allah, Walid möge nicht abnehmen. Doch da erklang auch schon seine vertraute Stimme: „Sausan? Hallo?“ Sausan spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt und blickte starr aus dem Fenster. Plötzlich hatte sie den Eindruck, sie sehe sich selbst und die anderen wie in einer Filmszene. Es kam ihr so unwirklich vor, als sie wie durch einen Nebel hindurch die Antwort ihres Bruders vernahm.
„Hallo, wer ist da? Ich bin der Bruder von Sausan. Wer auch immer du bist, du dreckiger Hundesohn, du wirst meine Schwester nie mehr sehen, nie mehr sprechen, hast du verstanden? Du wirst dieses Telefon nie mehr anrufen und nicht auf die Idee kommen, dich hier blicken zu lassen, sonst bringe ich dich um! Ich bringe dich um! Und was meine Schwester anbetrifft, diese Hure, die ist für dich jetzt schon tot!“
Sausan meinte, Walid stöhnen zu hören, aber da hatte Faisal das Telefon auch schon auf den Boden geschleudert und sie bei den Haaren gepackt.
„Du hast uns angelogen, schamlos angelogen, du läufige Hündin“, schrie er, und seine Stimme überschlug sich vor Erregung. Dann schleuderte er sie an den Haaren hin und her, bis Sausan plötzlich mit dem Kopf gegen die Wand donnerte. Weit entfernt hörte sie noch den erschreckten Aufschrei ihrer Schwester und Mutter, dann verlor sie das Bewusstsein.