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Kapitel 2

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Nachdenklich trottete ich durch die trostlose, langsam dämmrige Landschaft. Wenn die Hauptstadt nicht bald in Sicht kam, würden wir eine weitere Nacht außerhalb verbringen müssen. Mir wäre es recht gewesen, da uns das Wetter bisher nicht im Stich ließ. Der Tag war stinklangweilig gewesen und ich war von dem frühen Aufstehen und langen Laufen müde. Zum Glück hatten in den Fallen ein paar Kaninchen auf uns gewartet, sodass wir gut gestärkt hatten aufbrechen können.

Mia lief neben mir an der Spitze unseres kurzen Zuges. Ihr und meinem Vater war nichts von der nächtlichen Diskussion anzumerken gewesen. Doch es war mir, als könne ich Mikes Blick am Hinterkopf spüren. Spannung lag in der Luft. Würde etwas passieren? Ich zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf, um die Hirngespinste zu vertreiben. Dann wandte ich den Blick nach links.

Mia hatte graue Haare, war für ihr Alter aber glücklicherweise noch sehr gut zu Fuß. Mitte 2050 hatte ein Arzt ein Mittel erfunden, das mithilfe einer Therapie Voraussetzungen für verlängertes Leben schuf. Die neugierige, junge Frau war damals eine der Testpersonen gewesen. Zwar wurde das Projekt aus Angst vor Überbevölkerung gestoppt und einmal hatte Mia mir anvertraut, dass sie ihre Entscheidung bereute, aber sie profitierte immer noch von dem Medikament.

Ich mochte sie sehr gerne, denn sie war eine gute Zuhörerin und konnte gleichzeitig wunderbar erzählen. Meine Großmutter war 2021 geboren, hatte inzwischen ein hohes Alter erreicht und viele der einschneidenden Ereignisse des letzten Jahrhunderts selbst miterlebt. Dementsprechend schöpfte sie aus einem großen Wissensschatz. Am liebsten mochte ich die Geschichten aus ihrer Kindheit, während der in Deutschland noch paradiesische Zustände herrschten, wie sie oft betonte. So auch an jenem Tag.

„Weißt du“, begann sie, als sie meinen Blick bemerkte. „Früher war die Welt noch in Ordnung. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schön die Natur im Frühling aussah. Bäume mit frischen, grünen Blättern, bunte Blumen und tiefblaue Seen und Flüsse. Damals habe ich mit meinen Eltern noch an der Ostsee gewohnt. Im Sommer bin ich mit meinen Freundinnen jeden Tag schwimmen gegangen und wir haben unsere Freiheit genossen. Nichts fehlte uns. Meine Eltern verdienten gut, wir wohnten in einem schönen Haus mit modernster Technik und ich hätte mir nie auch nur ansatzweise vorstellen können, wie schnell sich alles zum Schlechten wenden kann. Nach den Krisenjahren vor meiner Geburt ging es mit Deutschland noch einmal bergauf, auch wenn die Europäische Union dabei zerfiel.“

Staunend lauschte ich den Beschreibungen der heilen Welt und verfluchte ein weiteres Mal meine Vorfahren, dass sie alles so versaut hatten. Die Anekdoten meiner Großmutter klangen echt und waren immer sehr faszinierend, aber viele Dinge bekam ich einfach nicht in den Kopf. Oft standen sie im totalen Widerspruch zu meiner Sicht der Welt. 28 Staaten sollten es geschafft haben, sich die Probleme der Welt gemeinsam vorzunehmen und nach dem ersten und zweiten Weltkrieg für lange Zeit den Frieden zu wahren. Nur, um die ganzen Mühen und Erfolge dann einfach wieder zu zerstören!

„Wie ging es weiter?“, fragte ich, obwohl ich die Geschichte in Teilen schon kannte. „Hätte nicht der dritte Weltkrieg ausbrechen müssen? Schließlich waren die Staaten am Ende und es gab sicher viele verschiedene Meinungen.“

„Da hast du recht, aber die EU hat man genau aus diesem Grund aufgelöst. Die Meinungsverschiedenheiten wurden immer größer und die Interessen waren irgendwann so unterschiedlich, sodass das Bündnis keinen positiven Zweck mehr erfüllte oder gar internationale Probleme lösen konnte. Im Hintergrund wurden vor der Auflösung der EU Friedensverträge geschlossen. Jedes Land musste sich zum Beispiel verpflichten, im Interesse aller die Umwelt zu schützen. Danach haben sie öffentlich beschlossen, dass sich jeder Staat aus den Angelegenheiten der anderen heraushalten solle und alle drei Jahre ein unabhängiges Gremium um des Friedens willen überprüfen müsse, ob ein Staat gegen die Bedingungen verstoße. Leider waren die Prüfer bestechlich, sodass jedes Land trotzdem mauscheln konnte, wie es wollte.“

Nachdenklich betrachtete ich die Ebene vor mir und versuchte mir vorzustellen, wie sie vor dem schwarzen Jahr ausgesehen haben musste. Das stinkende Dreckloch auf der linken Seite als Teich. Die verkohlten Baustümpfe als stattliche Bäume mit Blättern und nicht nackte Erde, sondern Gras und Blumen. Garantiert hatte oft die Sonne geschienen und man konnte ohne Probleme frische, klare Luft atmen.

„Deutschland“, erzählte sie weiter, „hat sogar davon profitiert, dass die EU aufgelöst wurde. Wir waren schließlich auf die Zuschüsse der Union nicht angewiesen, eigentlich kamen die Milliardenbeträge zur Rettung ärmerer Staaten wie Griechenland oft zu großen Teilen aus Deutschland. Nach dieser Erleichterung war die EU ein paar Jahren später vergessen – die Deutschen schwebten auf Wolken. Doch es war, wie du weißt, die Ruhe vor dem Sturm. Jeder dachte nur an sich und seine eigenen egoistischen Ziele, den Klimawandel hatten sie einfach vergessen!“

Ja, ich wusste, was jetzt kommen musste. Doch ich ließ Mia trotzdem weitererzählen, denn nur durch die Kenntnis des Vergangenen würde ich vielleicht irgendwann verstehen können, was in diesem Moment, in der Gegenwart, mit uns passierte.

„Plötzlich …“, fing meine Großmutter an, doch mein wortloses Zeigen auf die Ruinen vor uns unterbrach sie. Wir hatten einen kleinen Hügel erklommen und am Horizont erhob sich die zerstörte Skyline der Hauptstadt. „Berlin …“, flüsterte Mia.

Wir blieben staunend stehen und ließen den Moment wirken. Selbst die zerstörten Häuser und Straßenzüge von Potsdam boten nach mehreren Monaten kahler Landschaft immer wieder einen beeindruckenden Anblick. Und meine Lieblingsfrage beschäftigte mich: Wie hatte es hier wohl ausgesehen, als alles intakt war?

Schließlich setzten wir uns langsam wieder in Bewegung. Was uns wohl erwartete? Niemand hatte auch nur die leiseste Ahnung, wir waren lange nicht mehr hier gewesen. In den letzten Jahren hatten wir uns in der Region des ehemaligen Hannovers verkrochen, doch die einsturzgefährdete U-Bahn bot nicht mehr ausreichend Schutz gegen die immer härter ausfallenden Winter. Und die Hauptstadt? Mein Vater hoffte, dass von den dortigen U-Bahn-Tunneln und den alten Wolkenkratzern noch mehr übrig war. Vermutlich würde es zwar mehr Gangs geben, aber auch einfach mehr Platz.

Während wir stundenlang durch die Vorstadt wanderten, ging Mia irgendwann zu meinem Vater. Sie sah aus, als wolle sie ihm etwas sagen, das uns andere und ganz besonders mich nichts anging. Mit der Zeit hatte ich gelernt, in manchen Situationen auf einen Blick zu wissen, was meine Gefährten dachten oder vorhatten. Aber bei den beiden hatte ich gerade keine Ahnung und das machte mir Angst.

Kurz darauf gesellte sich Alex zu mir. Mit dem Sohn der Leóns hatte ich seit dem „Danke“ gestern kein Wort mehr gewechselt. Wir waren beinahe gleich alt und es war lange her, aber er hatte mich zutiefst verraten. Das würde ich ihm vielleicht nie verzeihen können. Ich für meinen Teil konnte mit einer guten Distanz zu ihm leben. Auch wenn er mir gestern geholfen hatte. Er würde bald seine alte Heimatsstadt betreten, da bliebe ich mit meinen Gedanken lieber alleine.

„Hast du Angst?“, fragte er.

Was sollte das jetzt? Ich gab keine Antwort, meine Gefühle gingen ihn einen Scheiß an. Emotionslos fragte ich zurück: „Bist du aufgeregt?“

„Ich erinnere mich eh nicht.“

Ups, ein wunder Punkt. Jetzt schwieg auch er. Es war wohl nicht besonders nett von mir gewesen, ihn so abprallen zu lassen, doch ich hatte wirklich keine Lust, mit ihm zu reden. Blöderweise schnallte er einfach nicht, dass ich mit ihm fertig war. Mein Vertrauen hatte er missbraucht, was gab es da noch zu sagen?

Abends rasteten wir im Schutz eines Schuttberges, neben dem wir ein provisorisches Lager errichteten. Ich setzte mich zu Mia, die ihre zerschundenen Füße betrachtete.

„Du bist vorhin nicht dazu gekommen, die Geschichte zu Ende zu erzählen“, erinnerte ich sie. Meine Großmutter streckte ihre Beine aus und seufzte.

„Ach ja. Nun … Wo waren wir stehengeblieben?“

„Der Klimawandel“, half ich ihr auf die Sprünge.

„Stimmt. Bäume wurden für Feuerholz und Möbel abgeholzt, die Wälder nicht aufgeforstet. Industrieabfälle wurden illegal entsorgt, Fracking und Gentechnik wurden erlaubt. Erneuerbare Energien waren irgendwann kein Thema mehr, weil wenige mächtige Menschen sehr viel mit Atomkraft, Öl und Kohle verdienten. Die Bürger lebten in ihrer digitalen Welt, sie kümmerten sich nicht um die Umwelt. Die Beziehung der Leute zur Natur schien einfach abgerissen zu sein!“ Kurz blickte Mia in den dunklen Himmel über uns, um sich zu sammeln.

„Leider war es nicht nur das, denn ab etwa 2030 wurde klar, dass auch die Gesellschaft zu bröckeln begann. Die Schere zwischen Arm und Reich bewegte sich weiter auseinander, der Einfluss von rechten Parteien wurde stärker, Korruption und Kriminalität nahmen zu, die jungen Leute mussten eine steigende Anzahl alter Personen finanzieren und in Großstädten entstanden Problemviertel, in denen der Rechtsstaat außer Kraft gesetzt war. Bereits damals gründeten sich Gangs, deren Nachfahren uns heute das Leben schwer machen.“

„Also nahmen die Spannungen im Land weiter zu?“, fragte ich.

„Ja“, seufzte Mia. „Irgendwie kippte die Stimmung, auch, weil die internationalen Beziehungen zwischen den Staaten immer schlechter wurden. Die Grenzen wurden streng kontrolliert, man konnte nicht mehr in allen Ländern Urlaub machen, Handelsembargos wurden verhängt, um damit die Wirtschaft einzelner Länder zu schwächen. Die Menschen in Deutschland, ach was, ganz Europa - sie haben gespürt, dass die sicheren Zeiten längst vorbei waren. Sie hatten Angst und fühlten sich eingesperrt.“

Angespannt zog ich meinen Pferdeschwanz zurecht, als Mia die Stirn runzelte. „Ein Krieg hätte früher oder später den Einsatz von Atomwaffen bedeutet, das war einer der Hauptgründe, warum der dritte Weltkrieg noch nicht ausgebrochen war. Trotzdem beneideten sich die Staaten gegenseitig und strebten nach mehr globaler Macht sowie größerem Wohlstand. Also versuchten sie, technologisch überlegen zu sein und sich gegenseitig wirtschaftlich auszustechen.“

Eins hatte also das andere mit sich gezogen, doch bevor die negativen Entwicklungen hatten eskalieren können, war 2099 passiert – das wusste ich schon lange. „Das schwarze Jahr hat all dem ein Ende gesetzt?“, vermutete ich deshalb.

„Das schwarze Jahr hat die Zivilisation, die wir kannten, gnadenlos ausgelöscht“, bestätigte Mia. „Es hat alles noch viel schlimmer gemacht.“

Getroffen beobachtete ich, wie eine Träne über ihre Wange rollte. Es tat mir leid, dass sie sich für mich in die schrecklichen Erinnerungen zurückversetzen musste. Auch mich berührte die traurige Geschichte unseres Landes und ich spürte, dass ich in Ruhe über die neusten Erkenntnisse nachdenken musste.

„Ich gehe jetzt schlafen“, erklärte ich nach einer Weile des Schweigens und umarmte sie fest.

Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg, um die letzten Kilometer zur Innenstadtgrenze zurückzulegen. Gegen Mittag durchbrach Mike unser Schweigen, indem er auf einem Stück Asphalt stehenblieb und die Hand hob.

„Wie ihr seht, sind wir da. Am besten gehen wir da jetzt selbstsicher rein und suchen uns einen Unterschlupf. Wir sollten uns ein bisschen beeilen, guckt euch den Himmel an. Haltet Ausschau nach U-Bahn-Eingängen, intakten Räumen und Höhlen unter Trümmerstücken. Tja, die Gangs werden tun, was sie für richtig halten. Lasst mich reden und hofft das Beste, falls sie uns aufhalten sollten.“

„Alle für einen, einer für alle!“, riefen wir halbherzig im Chor. Unser Motto. Stärkt den Zusammenhalt, sagt mein Vater.

Dann liefen wir weiter. Am Himmel begannen sich dunkle Wolken aufzutürmen. Auch das noch … Seite an Seite drangen wir in den Randbezirk des zerstörten Stadtkerns ein. Alles war grau, selbst das Unkraut, das langsam die Oberhand über die Steine gewann. Wege gab es so gut wie keine, ab und zu kreuzten wir leicht ausgetretene Trampelpfade. Die Trümmerhaufen und Schrottberge überwanden wir kletternd, während wir manchmal auch durch halbe Tunnel unter den Bruchstücken gehen mussten, die nicht unbedingt vertrauenerweckend aussahen. Dann sah ich rechts das erste Lager zwischen aufragenden Betontrümmern. Drei ausgemergelte Personen mit ausdruckslosem Blick starrten zu uns herüber. Aber irgendwie schienen sie durch uns durchzusehen. Mir war mulmig zumute, schnell blickte ich weg. Ein dicker Knoten saß in meinem Hals. Waren sie überhaupt noch lebendig? War irgendjemand außer uns noch lebendig? Ich biss die Zähne zusammen und folgte dem Clan.

Niemand sprach ein Wort. Ich fühlte mich wie eine Gefangene der toten Stadt. Die Stille lastete auf uns, kein Lüftchen regte sich. Mein Cousin schlief auf seiner Trage, wir anderen waren von dem langen Fußmarsch am Ende. Ein Wunder, dass wir es überhaupt bis hierher geschafft hatten. Anscheinend waren wir gerade noch rechtzeitig gekommen, wenn man sich den Himmel ansah. Abermals überwanden wir einen hohen Trümmerbrocken. Niemand hielt uns auf. Plötzlich zuckte ein Flashback durch meinen Kopf.

Ich renne immer weiter. Vor mir taucht eine Trümmerwand auf. Der perfekte Moment. Als ich sie erreiche, beginne ich zu klettern. Es ist schwer, aber ich kann es schaffen. Tränen rollen heiß über mein Gesicht.

Ich stolperte und war wieder in der Wirklichkeit. Diese Szene bestätigte nur, dass ich nie nach Berlin hätte zurückkommen dürfen. Wieso hatte mein Vater das zugelassen? Er kannte doch die ganze Geschichte. Irgendwann würde ich vollkommen durchdrehen. Gewaltsam verbannte ich die scheußliche Erinnerung aus meinem Kopf und ging weiter.

Auf einmal durchrollte ein grollendes Geräusch die trostlose Trümmerebene. „So ein Mist, es gibt wirklich einen Sturm“, rief Mike durch den zunehmenden Wind.

Die Gefahr drängte meinen Panikanfall in den Hintergrund, ich war voll da. Ich hasste es, wenn einen diese bescheuerten Stürme so überraschten. Seit dem schwarzen Jahr zogen im Winter große Tiefdruckgebiete über Europa, die schlimme Stürme verursachten. Die tödliche Gefahr dieser Orkane waren unkalkulierbare Böen, die mit unvorstellbarer Kraft über das Land fegten und alles durch die Luft fliegen ließen, was nicht niet- und nagelfest war. Wenn wir jetzt nicht sofort einen Unterschlupf fanden …

Der Clan erhöhte mit letzter Kraft das Tempo, mein Vater an der Spitze. Angelo hatte zusammen mit Alex´ Vater Lucas Trage übernommen. Ein paar Minuten später zuckten die ersten Blitze über den Himmel. Um uns herum befand sich nur Schutt, kein auch noch so kleiner Unterschlupf war in Sicht. Der Wind wurde immer stärker und trieb mir Staub in die Augen. Auch die Temperatur fiel steil ab.

„Noch fünf Minuten“, schrie Mike zwischen zwei Böen. „Dann müssen wir uns irgendwie verschanzen, sonst wird es übel!“

Verbissen stemmte ich mich gegen den Wind und hielt die Augen, soweit es vor Staub ging, offen. Es blitzte und donnerte nun im Sekundentakt. „Sind noch alle da?“, brüllte Mia. Wenn jetzt jemand verloren gegangen war …

„Da, zu dem Graben!“, brüllte Mike. „… unsere einzige Chance!“, verstand ich nur. Als wir uns zusammendrängten, konnten wir durchzählen: Alle da. Bis auf eine. Das Herz rutschte mir fast die Hose.

„Maja!“ Ich schrie mir fast die Lunge aus dem Hals, aber sie kam nicht. Das konnte, durfte nicht sein.

Plötzlich packte meine Großmutter mich am Arm, ich fuhr zusammen. „Ruhe. Hör doch mal genau hin!“ Die Donner legten passenderweise eine kurze Pause ein, und ich hörte einen Hund irgendwo in der Nähe bellen. Doch Maja kam nicht.

„Sie ist bestimmt irgendwo eingeklemmt und braucht Hilfe!“, schrie ich Mia ins Ohr und riss mich los.

„Bleib hier, es ist zu gefährlich!“, rief sie mir hinterher, doch ich kümmerte mich nicht darum. Maja war meine treueste Begleiterin. Ich konnte sie nicht im Stich lassen. Langsam kämpfte ich mich voran, dem nicht endenden Gekläff entgegen. Zusätzlich fing es auch noch an, zu regnen. Aber kein Wasser. Es regnete Asche.

Hoffentlich wurde das jetzt nicht der Weltuntergang. Ich musste die Hündin unbedingt sofort finden. Halb kriechend umrundete ich ein senkrecht stehendes Asphaltstück. Dann sah ich sie, keinesfalls hilflos! Mit wehenden Ohren und aufgestelltem Schwanz stand sie vor einer Lücke zwischen zwei Trümmern und kläffte sie wie wild an. Als Maja mich bemerkte, kam sie zu mir, lief dann aber zu dem Loch zurück. Ihr aufgeregtes Verhalten musste doch einen Grund haben, vielleicht hatte sie etwas Wichtiges entdeckt. Endlich stand ich vor dem Spalt. Er war so groß, dass ein Mensch gerade hindurchpasste. Während ich ihn noch abschätzend ansah, verschwand Maja im Dunkeln. Ich pfiff zwischen den Zähnen, glücklicherweise war sie kurz darauf wieder da und stand hechelnd in dem Eingang. Einem Eingang zur U-Bahn!

Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich konnte nun Stufen erkennen, die unter die Erde führten. „Schlauer Hund!“, sagte ich. „Komm, wir müssen die Anderen holen!“ Doch sie machte keine Anstalten sich zu bewegen und legte sich in den Staub. Egal, ich hatte keine Zeit für ihre Launen. Also stemmte ich mich erneut gegen den tobenden Wind. Dicke Regentropfen mischten sich unter die Ascheflocken. Ein schwarzer Brei sammelte sich auf dem Boden. Als ich meinen Blick zum Horizont wandte, wusste ich, warum Maja darauf bestanden hatte, in ihrem Unterschlupf zu bleiben. Eine graue Wand rollte wie ein Sandsturm auf uns zu, sog alles in sich hinein, was der Wind vom Boden lösen konnte. Das war gar nicht gut, uns blieb nicht mehr viel Zeit! Ohne jede Vorsicht rannte ich los, es kam auf Sekunden an.

Der Rest der Gruppe erwartete mich schon angespannt, ihnen schien die aktuell drohende Gefahr über mein Verschwinden noch nicht aufgefallen zu sein. Über ihren Köpfen hatten sie eine Zeltplane ausgebreitet, aber das würde kaum irgendetwas bringen. Mike begann zu sprechen, aber ich unterbrach ihn, richtete meinen Finger auf die sich bedrohlich aufbauende Sturmwand und schrie: „U-Bahn! Kommt!“ Zum Glück handelten sie sofort, statt das brodelnde Ungetüm nur anzustarren. Wir rafften alle Sachen zusammen und arbeiteten uns im Höchsttempo zu Maja vor.

Das Zentrum des Orkans kam schnell näher, es war beinahe unmöglich, sich auf den Beinen zu halten. Mit verkrampften Fingern umklammerte ich meine Habseligkeiten, dann kam der Spalt in Sicht. Noch einmal trotzten wir dem Wind und taumelten mit letzter Kraft in die Dunkelheit. Wir tasteten uns immer tiefer, bis man den heulenden Wind nur noch dumpf in der Ferne hören konnte. Irgendwann erreichten wir das Ende der Treppe und setzten uns erst einmal hin. Es war stockduster, man konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Ab und zu hörte man einen Seufzer und ich realisierte, dass ein Hund uns gerade das Leben gerettet hatte.

Als würde sie meine Gedanken erraten, drückte sich Maja an meine Seite, sodass ich sie streicheln konnte. Luca unterbrach schließlich mit dünner Stimme die Stille: „Was war das, Mama?“

„Ein schlimmer Sturm“, antwortete sie. „Alles wird gut, mach dir keine Sorgen.“

Irgendjemand kramte herum, dann leuchtete ein Licht auf. Mein Vater hielt einen Leuchtstab hoch. Die Teile waren sehr praktisch, weil sich ihre Akkus bei Tageslicht selbst aufluden. Mia hatte einmal erzählt, dass es die Stäbe schon in ihrer Kindheit gegeben hatte.

Wir befanden uns in einem kellerartigen, relativ großen Raum. Spinnenweben hingen von der Decke, überall lag zentimeterdicker Staub. Im Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr und sah eine fette Ratte weghuschen. Angewidert verzog ich den Mund, diese Viecher gab es aber auch überall.

„Die Wände und die Decke sehen stabil aus“, meinte Angelo.

„Ich glaube auch, wir müssen einen verdammten Schutzengel gehabt haben“, stimmte Mike ihm zu. „Dieser verdammte Orkan hat uns hinterrücks überfallen. Dabei waren wir doch schon so aufmerksam!“

„Warum hat es Asche geregnet?“ Die Frage brannte mir schon seit vorhin auf der Seele.

Alle sahen zu Mia. Mein Vater schien eine Vermutung zu haben, überließ aber seiner erfahreneren Mutter den Vortritt. „Das ist schon einmal vorgekommen, als ich etwa siebzehn Jahre alt war. Damals war der Teide, ein schlafender Vulkan auf einer Insel im Atlantik, ausgebrochen. Mit Luft aus der Sahara wurden die herausgeschleuderten Partikel in hohen Luftschichten weitertransportiert und regneten über Europa herunter. Auch jetzt wird wieder ein Vulkan ausgebrochen sein und durch den Orkan haben wir das Zeug abbekommen.“

Wir ließen uns die Information durch den Kopf gehen, dann errichteten wir ein Lager. Mir war es überhaupt nicht geheuer, dass wir hier so tief unter der Erde übernachten würden, aber etwas anderes als Abwarten konnten wir nicht. Also packte ich meinen restlichen Anteil des Rehs aus und stärkte mich ordentlich. Das Essen und Trinken tat gut und das angespannte Gefühl fiel etwas von mir ab. Nebenbei beobachtete ich meinen Vater, den irgendetwas zu beschäftigen schien. Ob es etwas mit dem Gespräch von vorletzter Nacht zu tun hatte? Der Gedanke behagte mir nicht.

Mit einem Satz verließ Maja plötzlich ihren Platz auf einer Zeltplane. Mit wedelndem Schwanz kam sie auf mich zu und sah mich auffordernd an. Normalerweise bettelte sie nicht und gab sich mit unseren Resten zufrieden, aber heute schien sie genauestens zu wissen, dass sie bei uns was gut hatte. „Das wird aber bitte nicht zur Gewohnheit“, sagte ich zu ihr und gab ihr einen Knochen, an dem Fleischreste hingen. Sichtlich zufrieden nahm sie ihn zwischen die Zähne und trug ihn zu ihrer Plane, wo sie ihn genüsslich abzunagen begann. Wieso war dieser Hund nur so schlau?

Kopfschüttelnd schloss ich die Augen, um mich ein bisschen auszuruhen. Doch der Frieden währte nicht lange, denn kurz darauf hörte ich meinen Vater sagen: „Ich werde mir unseren Unterschlupf mal ein bisschen genauer ansehen. Nicht, dass uns noch böse Überraschungen bevorstehen. Jady, kommst du mit?“ Meine Neugier siegte, schlafen konnte ich nachher auch noch. Also rappelte ich mich hoch. Mike hatte einen weiteren Leuchtstab aus der Tasche gezogen, den er jetzt aktivierte. Einen gab er Mia, den zweiten nahmen wir mit. Alex sah aus, als hätte er uns gerne begleitet, aber nach einem Blick in meine Richtung ließ er es doch lieber bleiben. Eine weise Entscheidung.

Der Raum, in dem wir unser Lager hatten, besaß zwei Ausgänge. Einmal die Treppe, über die wir heruntergekommen waren, und ein abzweigender Gang, der tiefer in das alte Bahnnetz führte. Mike schlug diese Richtung ein. Als Maja bemerkte, dass wir uns von der Gruppe entfernten, nahm sie ihren sauber abgenagten und bereits halb zerkauten Knochen zwischen die Zähne, und folgte uns. Im fahlen Licht des Leuchtstabs betrachtete ich die alten Tunnelwände. Ab und zu konnte ich hinter dem Staub abgeschabte Farben erkennen. Ob das eine Kunst der Vergangenheit war?

Auf dem Boden lagen Steine, ich musste aufpassen, dass ich nicht stolperte und mich womöglich verletzte. Maja schnüffelte und verschwand dann in der Dunkelheit vor uns. Kurze Zeit später kamen wir in eine zweite große Halle. Mike hielt den Leuchtstab höher, um den Raum besser auszuleuchten. Zwei dicke Pfeiler stützten die Decke, hoffentlich würden sie nicht ausgerechnet jetzt zusammenbrechen. Links und rechts von uns erkannte ich eine lange Kante, etwa drei Meter dahinter tauchten Wände aus dem Dunkel.

„Die Bahnsteige“, meinte Mike. „In den Gräben sind früher die Züge gefahren. Vor fünfzehn Jahren haben sie noch Menschen von einer Station zur nächsten transportiert. Ein äußerst beliebtes System ...“ Er ging dichter an eine der Kanten heran und setzte sich hin. Vorsichtig folgte ich ihm. Unter unseren Füßen lag Schutt, es war nicht so tief, wie ich es mir vorgestellt hatte. Gleise gab es nicht mehr.

„Ach, Jady“, seufzte mein Vater und legte einen Arm um mich. Das konnte nur eins bedeuten: Er hatte einen guten Grund gehabt, mich von den anderen wegzulocken. Was jetzt wohl kam? Ich musste wieder an die nächtliche Unterhaltung denken. „… musst handeln …“

„Erinnerst du dich noch an deine Mutter?“, fragte mein Vater unvermittelt und warf damit meine angestellten Spekulationen total über den Haufen. Die Frage durchfuhr mich wie ein Blitz. Meine Mutter war tot und ich schuld daran. Sie war während meiner Geburt gestorben, wie sollte ich mich da an sie erinnern können? Dass ich sie in jeder Sekunde meines Lebens vermisste, zählte nicht.

„Nein“, antwortete ich schließlich mit brüchiger Stimme. „Aber ich wünsche es mir mehr als alles auf der Welt.“

Mein Vater schwieg lange. „Es war nicht so, wie ich es dir erzählt habe“, sagte Mike dann, ganz schlicht. Wie bitte? Mein Herz fing an, laut zu pochen. Ich wollte diese Unterhaltung nicht führen und doch wissen, was er zu sagen hatte. „Mia … Es stimmt. Ich darf dir die Wahrheit nicht vorenthalten.“ Ich schwieg. „Sie hat dir vom schwarzen Jahr erzählt, oder?“

Ich schaffte es, zu nicken und rief mir die Szene noch einmal in Erinnerung. Wir hüteten ein Lagerfeuer, alle anderen schliefen und sie erzählte mir von einem der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit. 2099, ein Jahr nach meiner Geburt, schmolzen die Gletscher Grönlands innerhalb von vier Monaten fast vollständig.

Dieses Ereignis habe ein amerikanischer Präsident schon einhundert Jahre früher vorausgeahnt und doch hätte niemand etwas tun können, hatte meine Großmutter gesagt. Der Kreislauf der Meere geriet wenig später durcheinander, der Golfstrom brach ab. Der Meeresspiegel stieg drastisch, das globale Wettersystem änderte sich. Naturkatastrophen wüteten überall auf der Welt, in Europa wurde es zunächst kälter.

Noch dazu war Deutschland von starken Erdbeben betroffen, die Städte lagen aufgrund der dafür viel zu instabilen Bauweise bald in Trümmern. Feuerstürme verkohlten das Land, bis heute erinnerten verbrannte Landstriche an die vernichtende Hitze. Milliarden Menschen verloren ihre Lebensgrundlage und Millionen starben weltweit während der Unwetter, Blizzards, Vulkanausbrüche und Tsunamis.

Es schien, so Mia, als habe sich die aufgestaute Wut der Natur in diesen fürchterlichen Monaten mit voller Härte entladen. Zur Jahrhundertwende war das Schlimmste durchgestanden, so dachte man jedenfalls. Doch die Welt war eine andere geworden.

In Todesangst und Verzweiflung kämpften die Überlebenden um Lebensmittel, Gegenstände und Unterschlüpfe. Ein elektromagnetischer Impuls hatte moderne Technologien, Infrastruktur und Kommunikation komplett zum Erliegen gebracht und verzögerte damit den Beginn des Wiederaufbaus, bis die Menschen sich in Clans und Gangs organisiert hatten und den gegenseitigen Kontakt bestmöglich vermieden.

Manchmal fragte ich mich, wie es auf den anderen Kontinenten aussah. War es dort genauso schlimm wie hier? Hatten mehr Menschen überlebt? Gab es vielleicht irgendwo auf der Welt einen Ort, wo die alte Ordnung bereits wiederhergestellt war? Manchmal klammerte ich mich fest an die irrsinnige Hoffnung, dass eines Tages Rettungsteams auftauchen würden, die uns mitnehmen und uns irgendwo weit weg einen Neuanfang ermöglichen würden.

Doch ich musste nur die Augen aufmachen und mich umschauen, um zurück in die Realität gerissen zu werden. In den vergangenen dreizehn Jahren war die vorhergesagte Eiszeit ausgeblieben und nach und nach hatte sich die Lage auf eine verdrehte Weise wieder normalisiert. Wetter und Natur begannen zaghaft, einen neuen Rhythmus zu finden. Die grünen Blätter von vor zwei Tagen oder der Sommer, der die letzten drei Jahre etwa zur gleichen Zeit geendet hatte – man musste die Anzeichen nur erkennen.

Schön und gut, doch die Realität von uns Menschen war weiterhin knochenhart. Manche hatten nach 2099 das Land verlassen, um ihr Glück in anderen Gegenden zu versuchen. Da uns bisher jedoch keine positiven Nachrichten aus dem Ausland erreicht hatten, hatte mein Vater beschlossen, vorerst hierzubleiben. Er sagte, er halte sich lieber an das Bekannte, doch ich war mir sicher, er hatte auch Angst, dass es woanders noch schlimmer sein könnte.

Dabei war das schwer vorstellbar. In Deutschland war die Zivilisation komplett zusammengebrochen und die Überlebenden versuchten seit 2099, als Plünderer, Jäger und Sammler durchzukommen. So war es bis heute, aber es war ein Kampf, bei dem der Sieger schon lange feststand.

„Samira ist nicht während deiner Geburt gestorben, sondern im Jahr der Katastrophen“, fuhr Mike fort.

„Aber …“, unterbrach ich ihn, doch er hob die Hand.

„Lass mich bitte erst erzählen. Dann kannst du mir immer noch den Kopf abreißen.“ Er seufzte tief. „Es war der schlimmste Tag in meinem Leben. Deine Mutter und ich, wir waren so glücklich über deine Geburt gewesen. Kurz darauf begann dann dieser ganze Irrsinn. Ein halbes Jahr hielten wir durch, zusammen mit Mia. Irgendwann muss es aufhören, sagten wir uns immer. Seit einiger Zeit hatten wir Unterschlupf in der Münchener U-Bahn gefunden, unsere Hoffnung war regelrecht greifbar. Dann kam jener schicksalshafte Tag. Ein besonders schlimmer Sturm tobte, aber solange wir zusammen waren, konnte uns nichts passieren. So fühlte es sich jedenfalls an. Aber das stimmte nicht. Durch den Wind stürzte ein ohnehin schon marodes Hochhaus ein, direkt über uns. Dem Aufprall und den Vibrationen hielten die Tunnel nicht stand. Die Decke begann einzustürzen und Chaos brach los. All die Menschen, es waren viele, die in der U-Bahn Schutz gesucht hatten, stürmten zum einzigen Ausgang. Unser Lager war von den Treppen nicht besonders weit entfernt, darauf hatten wir geachtet. Ich nahm dich auf den Arm und wir rannten los. Ich wollte nur eins: Dich in Sicherheit bringen. Irgendwie schafften wir es, kamen oben an. Wie durch ein Wunder lagen auf dem Eingang keine Trümmer des Hochhauses. Der Höhepunkt des Sturmes war vorbei, also flüchtete ich in einen nahen Hauseingang. Ich drehte mich um … Mia war direkt hinter mir, aber Samira hatte es nicht geschafft. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib und sobald es ging, suchten wir sie. Aber wir fanden sie nicht, nicht einmal ihre Leiche.“

Ich schluckte schwer und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Jahrelang hatte ich mich mit dem Zustand abgefunden, dass meine Mutter mich nie in ihre Arme schließen konnte. Und jetzt das … Warum hatte mein Vater das nur getan? Ich sah zu ihm hoch.

Sein Blick war durchsichtig, seine Augen mit Tränen gefüllt. „Ich sehe alles noch so real vor mir … ich dachte, ich werde damit fertig, aber hier unten kommt alles wieder hoch …“, flüsterte er. „Sie hat es nicht geschafft. Sie kann es unmöglich noch rausgeschafft haben. Mit vielen anderen wurde sie für immer unter der Erde begraben.“ Noch nie zuvor hatte ich ihn so die Beherrschung verlieren sehen. Dann, mit einem Mal, strafften sich seine Schultern wieder, als wäre ihm eingefallen, dass ich auch noch da war.

In meinem Körper herrschte vollkommene Leere, ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. „Warum?“ Mehr konnte ich nicht herausbringen.

„Es tut mir so leid, dass ich dich von Anfang an belogen habe, Jady. Es war nicht richtig. Aber das Schlimmste ist die Hoffnung. Bis heute kann ich mir nicht erklären, warum sie plötzlich einfach weg war. Höchstwahrscheinlich ist sie in der panischen Menschenmasse gestürzt und kam nicht mehr hoch. Jeden Tag und jede Nacht denke ich, gleich taucht sie auf und alles ist wie früher. Obwohl es unmöglich ist. Sie ist tot und ich versuche seit vierzehn Jahren, das zu akzeptieren. Verstehst du, dass ich dir diesen Kampf ersparen wollte?“

Mein Vater hat mich verraten. Das war der einzige Satz, der sich in meinem Kopf befand, aber irgendwann fand ich meine Stimme wieder. „Ich weiß nicht … gib mir … gib mir Zeit.“ Dann wandelte sich die Luft in mir in Wut um. Vielleicht war das nicht gerechtfertigt, aber ich schrie ihm voller Verachtung alles ins Gesicht: „Ich habe damit gelebt, meine eigene Mutter ermordet zu haben! Verstehst du das nicht? Du warst alles, was ich hatte und jetzt erzählst du mir, dass du mich mein ganzes Leben lang angelogen hast? Du … Du …“ Ich brach in Tränen aus.

Mein Vater sagte nichts, nahm mich einfach in den Arm. Es war zu viel auf einmal gewesen. Gerade waren wir knapp dem Orkan-Tod entronnen und wussten nicht, was uns in diesem Winter noch alles erwarten würde. Jetzt saßen wir auf der Bahnsteigkante einer U-Bahn-Station und mein Vater erzählte mir, meine Mutter sei durch einen U-Bahn-Einsturz gestorben. Es dauerte lange, bis ich mich beruhigt hatte.

„Ich habe etwas für dich“, fuhr Mike fort und ignorierte, dass ich in der Vergangenheit über ihn gesprochen hatte. „Diese Kette hat Samira immer getragen, später solltest du sie bekommen. Nach ihrem Tod habe ich sie in einem Rucksack gefunden. Möchtest du sie haben?“

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen und er gab sie mir. An einem geflochtenen Lederband war ein kleines Amulett befestigt. In den grünlichen Stein war etwas eingeritzt, dass ich nicht entziffern konnte. Das Einzige, was von meiner Mutter noch übrig war, gehörte nun mir. Ich schloss die Hand um das Schmuckstück. „Danke“, flüsterte ich.

„Er ist aus Jade. Dein Namensgeber“, fügte mein Vater hinzu. „Ich weiß. Du bist wütend auf mich, aber vielleicht wirst du mich irgendwann verstehen können.“

Er wollte aufstehen, aber ich hielt ihn zurück. „Erzähl mir von ihr“, bat ich.

Mike schloss die Augen. „Sie hatte durchdringende, grüne Augen. Genau wie du. Wenn sie lachte, spielten kleine Fältchen um ihre Mundwinkel. Prächtiges, schwarzes Haar floss ihr über den Rücken. Samira war dünn und sportlich, außerdem hatte sie geschickte Finger. Wir haben uns sehr geliebt, aber das Wichtigste für sie warst du. Sie sprühte vor Lebensmut, trotz der schrecklichen Ereignisse. Das hat auf mich abgefärbt … Unsere ehemalige Nachbarschaft hat sie immer besonders für ihre offene und hilfsbereite Persönlichkeit geschätzt. In der Hinsicht hatte sie viel mit Mia gemeinsam, auch wenn die beiden natürlich nicht verwandt waren. Trotzdem konnte sie sehr geheimnisvoll sein. Ich glaube, ich habe nie alles über sie gewusst, aber genau das habe ich an ihr geliebt … Ich vermisse sie sehr, Jady. Genau wie du …“

Er legte den Leuchtstab neben mich und ging einfach durch die Dunkelheit. Aber wenn das Licht neben mir nicht mehr ausreichte, würde er das Lager schon sehen können. Maja tauchte neben mir auf, genau zum richtigen Zeitpunkt. Ich vergrub mein Gesicht in ihrem Fell, aber es kamen keine Tränen mehr. So sehr mich dieses Gespräch auch geschockt hatte, ich war froh, dass mein Vater mir die Wahrheit nicht länger verschwiegen hatte. Mein Gott, ich war beinahe sechzehn. Da hat man ein Recht auf solche Infos. Mal davon abgesehen, dass wir morgen schon tot sein konnten – dann hätte mein Vater seine Chance verpasst. Was hätte ich an seiner Stelle wohl getan? Langsam bereute ich, ihn so angeschrien zu haben. Nachher musste ich mich bei ihm entschuldigen, aber er sollte ruhig noch ein bisschen schmoren und ein schlechtes Gewissen haben.

Statt weiter über ihn nachzudenken, versuchte ich, mir meine Mutter vorzustellen. Es gelang mir nicht sonderlich gut. Ob mein Vater ein Foto von ihr hatte? Völlig abwesend knetete ich den Jade-Stein in meiner Hand, grübelte immer weiter.

Hinten im Universum

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